Eine Reise in die russisch-kasachische Steppe
Hier beginnen Europa und Asien
von Guy Mettan,* Genf
(19. Juli 2023) Ich weiss, dass Sie sich in Geografie gut auskennen, aber ich fordere Sie heraus, mir zu sagen, wo Orenburg liegt. Diese Stadt mit 600 000 Einwohnern liegt am Fusse des Uralgebirges, inmitten der russisch-kasachischen Steppe, an der Grenze zwischen Europa und Asien. Das heisst für uns: in der Mitte von Nirgendwo.
Wir haben immer gelernt, dass die europäische Halbinsel in Portugal beginnt und am Ural endet, einer Gebirgskette, die Eurasien bequem in zwei Hälften teilt und als Grenze zwischen den beiden Kontinenten dient. Die wissenschaftliche Geografie zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Der Ural ist so unbedeutend, dass man ihn am Horizont kaum erkennen kann. Der Jura wirkt daneben wie ein Himalaya. Und wie die russischen Geografen sagen, ist es keineswegs ein Grat, der trennt, sondern höchstens eine Naht, die die beiden Teile der eurasischen Tunika zusammenfügt.
Dasselbe gilt für die Steppe. Diese flache Landschaft wirkt wie die ruhige Wellenbewegung eines Landozeans, der sich von der Mongolei bis zur ungarischen Puszta erstreckt. Eine riesige Weite ohne sichtbare Grenzen, ohne physische Grenzen und (fast) ohne menschliche Grenzen.
Das ist so wahr, dass die Steppe 1500 Jahre lang als kommerzielles, kulturelles und menschliches Bindeglied zwischen China und Europa diente, vom Römischen Reich und der Han-Dynastie über das persische und das mongolische Reich bis hin zum Fall von Byzanz.
Man muss nur Marco Polos (1254–1324) «Die Beschreibung der Welt» lesen, um sich davon zu überzeugen. Die Steppe war das Herzstück der ersten bekannten Globalisierung.
Mit dem Aufkommen der Seemächte Portugal, Spanien, Holland, Grossbritannien und später der USA brach diese anfängliche Globalisierung zugunsten der Herren der Meere zusammen. Doch die Geschichte hat noch mehr zu bieten: Dank der Neuen chinesischen Seidenstrassen sind der eurasische Kontinent und die Landmächte dabei, ihre natürliche Position als Gravitationszentrum der menschlichen Welt, der Weltwirtschaft und des damit einhergehenden Handels wiederzuerlangen.
Doch die Lektion über die Steppe geht noch weiter. Hier fand auch eines der verheerendsten landwirtschaftlichen Experimente der modernen Welt statt. Nicht nur wegen Stalins Kollektivierungen, sondern auch wegen der technokratischen Sturheit Chruschtschows, der sich in den Kopf gesetzt hatte, die Steppe bis zu ihrem Tod auszubeuten. Er hatte beschlossen auf 45 Millionen Hektar natürlichem Trockengrasland, Weizen und Baumwolle anzubauen. Nach vielversprechenden Anfängen von März 1954 bis Herbst 1957 weigerte sich die Erde, die von zu schweren Maschinen zu tief gepflügt wurde, zu produzieren und rächte sich, indem sie die Moskauer Bürokraten – der Gipfel der Demütigung – zwang, amerikanischen Weizen zu kaufen, um die hungrigen Herden zu füttern.
Es wäre falsch zu glauben, dass es sich hierbei um eine allein dem Kommunismus zuzuschreibende Dummheit handelte. Die Arroganz ist nicht verschwunden. Auf allen Kontinenten hat der neoliberale Produktivismus den Kollektivismus ersetzt, Management und Marketing haben die zentralisierte Planung abgelöst, aber der Geist der unbegrenzten Eroberung der Natur hat sich kein Jota verändert, egal auf welchem Längen- oder Breitengrad man sich befindet.
Die Millionen Hektaren, die unfruchtbar geworden sind, und die Silhouette der verfallenen Gebäude der bankrotten Sowchosen, die sich unter dem riesigen blauen Himmel der Steppe verlieren, sollten uns zur Selbstreflexion anregen.
* Guy Mettan (1956) ist Politologe, freischaffender Journalist und Buchautor. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der «Tribune de Genève» und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredaktor. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Guy Mettan ist seit 20 Jahren Mitglied des Genfer Kantonsparlaments. |