Russland ist dabei, sich von Europa zu verabschieden

Guy Mettan (Bild zvg)

von Guy Mettan,* freier Journalist

(25. Januar 2023) Mitte Dezember hatte ich die Gelegenheit, eine kurze Reise nach Moskau und nach Nowosibirsk zu unternehmen. Die Hauptstadt Sibiriens ist 4000 Kilometer von der ukrainischen Front entfernt. Dies liess mir genug Zeit zur Beurteilung der Stimmung in der russischen Bevölkerung nach zehn Monaten Krieg.

Was den seit dem 24. Februar selten geworden ausländischen Besuchern auffällt, ist einerseits die Beinahe-Normalität des Alltags und anderseits wie begierig die Russen darauf sind zu erfahren, was man im Westen über sie denkt.

Wenn man unsere westlichen Medien liest und hört, erhält man den Eindruck, dass die Russen im Belagerungszustand leben und ihre Zeit damit verbringen, trotz unseren gnadenlosen Wirtschaftssanktionen zu überleben, ihre militärischen Niederlagen zu verdauen und die unzähligen Toten zu begraben, die ihnen die siegreichen Ukrainer zufügen würden. Nichts davon ist richtig.

Vorweihnachtliche Stimmung in Moskau. (Bild Guy Mettan)

Normalität im Alltag

In den Grossstädten sind die Strassen voller Lichter und Weihnachtsdekorationen, die Freiluft-Eisbahnen und Märkte werden trotz Kälte und Schnee regelrecht überrannt, und die Alleen sind wie immer schon mit Kolonnen von 4x4-Geländewagen verstopft, die versuchen, sich einen Weg durch die Staus zu bahnen. Diese Atmosphäre steht im Gegensatz zu unseren Städten und Dörfern ohne Weihnachtsbeleuchtung und dunklen Schaufenstern, sowie aufgrund der wegen «Energieknappheit» stark reduzierten Strassenbeleuchtung.

Diese Normalität im Alltag wird durch die Wirtschaftsstatistiken bestätigt: der Rückgang des russischen Bruttosozialprodukts im Jahr 2022 beschränkt sich auf 2,5–3%, was weniger ist als die Verluste im ersten Covid-Jahr. Es gibt kaum geschlossene Geschäfte – betroffen sind einzig Luxusmarken. Der einzige Hinweis auf den Krieg an der westlichen Grenze sind Plakate, die zur Unterstützung der in der Ukraine kämpfenden Soldaten aufrufen.

Ist diese Normalität eine Täuschung? Verdeckt sie eine tiefe Verwirrung der Bevölkerung, eine dumpfe Feindseligkeit gegenüber dem «Regime», eine Angst, sich zu äussern, wie es bei uns so oft suggeriert wird? Das war auch da nicht mein Eindruck. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, dass den Russen bewusst geworden war, dass der Ukraine-Konflikt von längerer Dauer sein wird und dass sie, ob sie wollen oder nicht, lange Zeit damit werden leben müssen.

Anfangs war die Besorgnis spürbar

Wie alle anderen waren auch die Russen zunächst überrascht und verblüfft von der «militärischen Sonderoperation» in der Ukraine, insbesondere in den zahlreichen Familien – man spricht von zweistelligen Millionenzahl von Menschen –, die durch diesen Konflikt isoliert oder in zwei Hälften geteilt wurden, weil sie Beziehungen in der Ukraine haben.

Nachdem der erste Schock überwunden war, dachte man, dass sich die Kämpfe zwar in die Länge ziehen, aber nicht ewig dauern würden. Die ersten Rückschläge Ende August und vor allem die Teilmobilisierung im September dämpften diese Hoffnungen. Mehrere Hunderttausend Wehrpflichtige flohen ins Ausland – ihre Zahl wird mit Berücksichtigung der allmählichen Rückkehrer auf 300 000 bis 400 000 Personen geschätzt, was 0,3% der Bevölkerung entspricht. Die Besorgnis wurde spürbar. Drei Monate später ist die Sorge zwar nicht verschwunden, aber stark zurückgegangen.

Sind die Menschen auf die Propaganda hereingefallen? Auch das glaube ich nicht. Eine im Kulturbereich tätige Freundin sagte mir: «Seit der Sowjetzeit sind die Russen instinktiv fähig, die Staatspropaganda zu entschlüsseln und die Dinge auseinanderzuhalten. Sie achten nicht einmal gross darauf. Während ihr im Westen euren Politikern und Institutionen so sehr vertraut, dass ihr deren Propaganda nicht einmal bewusst wahrnehmt.» Ein Denkanstoss!

Auf jeden Fall haben sich die Umfragewerte für Wladimir Putin seit Ende Februar nicht verändert und bleiben mit rund 70% Zustimmung sehr hoch. Die Zustimmung fällt umso höher aus, je weiter man sich von den drei grössten Städten Moskau, Sankt Petersburg und Jekaterinburg entfernt.

Unterstützung für die Soldaten an der Front hat zugenommen

Die Unterstützung für die Soldaten an der Front, wenn nicht sogar für die Armee, hat zugenommen. Die Russen lassen sich weder von der Inkompetenz einiger operativer Kommandeure – wie gerade in der Tragödie von Mareevka in der Silvesternacht deutlich wurde – noch von der logistischen Misswirtschaft, die die ersten Kriegswochen prägten, täuschen und haben privat nicht mit Kritik gespart.

Sie wissen, dass sie sich in erster Linie auf sich selbst verlassen müssen und nichts vom Staat erwarten dürfen. Auf jeden Fall haben die schlechten Nachrichten nichts an ihrer Unterstützung für die Militäroperation geändert und sie stehen nun hinter ihren Soldaten, selbst wenn sie die Hierarchien nicht berücksichtigen.

Es ist bemerkenswert, dass sich Hunderte von Zivilisten aus den entlegensten sibirischen Dörfern mobilisieren, um Konvois zu organisieren und den Soldaten, die in der Ukraine gegen die Nato-Truppen kämpfen, Lebensmittel, Schokolade, warme Kleidung und Pakete zu bringen. Ebenso ist im Gegensatz zu den zögerlichen städtischen Wehrpflichtigen die Zahl der freiwillig Wehrdienstleistenden ungebrochen.

Seit dem Herbst begreift die Mehrheit der Russen, dass ihr Land nicht nur gegen die ukrainischen Nationalisten, sondern gegen den gesamten Westen unter dem Banner der Nato kämpft. Sie wissen, dass es sich um einen lebenswichtigen, existenziellen und langwierigen Kampf um das Überleben ihrer Lebensweise und Kultur handelt, auch wenn er gegen ihren Willen begonnen wurde.

Armee-Strategie wurde überarbeitet

Die Erkenntnis, dass Krieg und Feindseligkeiten andauern würden, wurde zunächst von der Armee getragen, die aufgrund der Schwierigkeiten vor Ort gezwungen war, sich grundlegend umzustrukturieren. Die Strategie wurde komplett überarbeitet.

Vom improvisierten offensiven Modus ging man zum organisierten defensiven Modus über. Dies bedeutet sichere Verteidigungslinien mit einem einheitlichen und integrierten Kommando unter der Führung eines erfahrenen Generals, Sergej Surowikin, mit dem Ziel, die menschlichen Ressourcen und die Ausrüstung so weit wie möglich zu schonen. Auf den ungeordneten Rückzug aus der Region Charkow folgte der geordnete und erfolgreiche Abzug von Truppen und Ausrüstung aus der Region Cherson. Neu kamen von nun an Drohnen und kleine mobile Einheiten zum Zuge.

Die Logistiklinien wurden überarbeitet und die Reservedivisionen so umorganisiert, dass sie auf Notfälle reagieren können. Das Gros der Armee verschanzt sich und delegiert seine offensiven Fähigkeiten an Wagner-Kräfte, Drohnenpiloten und Raketenwerfer gegen neuralgische ukrainische Ziele, als Gegenreaktion auf die ukrainischen Angriffe auf zivile russische Ziele: Sabotage der Nord Stream-Pipeline, Anschlag auf die Krim-Brücke, Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen und Supermärkten im Donbass, wobei täglich Zivilisten getötet werden, über die aber in unseren westlichen Medien nicht berichtet wird.

Russland hat die von Pentagon-Chef Lloyd Austin im letzten Frühjahr dargelegte Strategie der Nato und der USA – die darauf abzielt Russland maximal zu schwächen – zur Kenntnis genommen und versucht, sie zu seinen Gunsten umzukehren.

Die Armeeführung konzentriert sich darauf ihre Truppen zu schonen und zwingt gleichzeitig die Ukrainer und Nato-Söldner ihre Kräfte und ihr Material bis zur Ermüdung aufzubrauchen. Noch mehr als auf General «Winter» setzt die russische Armee zur Zeit auf die Generäle «Zeit» und «Raum». Wie seinerzeit Suworow und Bagration hat sie auf die harte Tour gelernt, dass Geduld besser ist als Kraft und Wut, wenn man auf Dauer siegen will.

Positive Auswirkungen auf russische Wirtschaft

Auch die Wirtschaft wurde sich sehr schnell bewusst, dass die gesamten Produktions- und Handelskreisläufe nach der vom natürlichen Partner Europa erzwungenen Grenzschliessung von Grund auf neu gestaltet werden mussten.

In Europa hat man sich oft über die Oligarchen und ihre angebliche Opposition gegen Putin lustig gemacht. Damit lag man im Westen völlig falsch. Die Oligarchen bedauerten zwar den Ausbruch der Feindseligkeiten, erkannten aber schnell, dass die Beschlagnahmung ihres Eigentums und ihrer Bankguthaben in Europa und den USA – Jachten, Luxusresidenzen, Suiten in Courchevel und St. Moritz – und die gegen sie verhängten persönlichen Sanktionen sie zu Parias für den Westen machten und dass sie alles verlieren würden, falls sie auf die Idee kommen sollten, überzulaufen.

Die Sanktionen und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem und den westlichen Bankbeziehungen hatten sogar einen positiven Effekt für die russische Wirtschaft: Zum ersten Mal wurde dadurch die Kapitalflucht unterbunden, die die Wirtschaft – in Höhe von etwa 100 Milliarden Dollar pro Jahr – seit 30 Jahren ausblutete. Von nun an ist es ratsam sich genau zu überlegen, ob man sein Geld bei einer Schweizer, europäischen oder amerikanischen Bank deponieren soll.

Seit einigen Monaten passt sich die russische Wirtschaft daher an die neuen Umstände an. Die Vertriebswege für Öl, Gas, Mineralien, Weizen und Düngemittel werden in Richtung Asien, China, Indien, Iran, Emirate und Saudi-Arabien (wegen der OPEC+ und der Bankenerleichterungen) umorganisiert. Ähnlich verläuft es mit den Importkreisläufen.

Es entstehen Parallelimporte, um die Industrie mit Ersatzteilen, Supraleitern und Chips zu versorgen und die Bevölkerung mit Haushaltsgeräten, Kleidung, Luxusgütern, Möbeln und anderen Gebrauchsgütern, die die russische Wirtschaft nicht in grossen Mengen herstellen kann.

Das Beispiel Weissrusslands, das an Sanktionen gewöhnt ist und dank seines Gesundheitssystems und seiner pharmazeutischen Ressourcen dennoch die beste europäische Leistung im Umgang mit Covid erzielt hat, zeigt, dass die russische Industrie durchaus in der Lage ist, diese Herausforderung zu meistern, sofern sie ihre Investitionen auf die industrielle Neuausrichtung verlagert und aufhört, sich träge auf die Öl- und Gaseinkünfte zu verlassen.

Dafür sprechen auch die spektakulären Erfolge, die die Landwirtschaft, die Lebensmittelindustrie, der Luft- und Raumfahrtsektor und die Rüstungsindustrie nach den 2014 gegen sie verhängten Sanktionen verzeichnen konnten.

Diese Umstellung wird einige Jahre dauern, und Experten rechnen mit zwei bis drei Jahren Schrumpfung und mageren Jahren, bevor das Wachstum wieder anzieht. Kein Grund zur Panik, zumal man auf unerschöpfliche und sehr billige Energieressourcen zurückgreifen kann, im Gegensatz zu Europa, das für seine Energieimporte einen hohen Preis zahlen muss.

Der Rote Platz in Moskau gehört seit 1990 zum UnescoWeltkulturerbe.
(Bild Guy Mettan)

Massive Angriffe gegen die russischen Menschen und deren Kultur

Wie steht es um die Stimmung in der Bevölkerung? Wie passt sie sich an diese neue Situation an? Um es in einem Satz zusammenzufassen, würde ich sagen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Man muss bedenken, dass die meisten Russen die Massnahmen, die im Westen gegen die russische Kultur und gegen sie selbst ergriffen wurden, sehr schlecht verkraftet haben.

Sie fühlten sich zutiefst gedemütigt durch die Zensur von Künstlern, Musikern, Sportlern und Wissenschaftlern, durch die Absage von akademischen Kolloquien, die abrupte Einstellung von Austauschprogrammen trotz langjähriger persönlicher Beziehungen, die Umschreibung der Geschichte hinsichtlich des russischen Beitrags zum Sieg über den Nationalsozialismus, die «Cancel-Culture» und sogar die Zerstörung von Denkmälern, die nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den baltischen Staaten und in Polen unternommen wurde. Für ein Land, dass 26 Millionen Menschen im Kampf gegen den Nationalsozialismus verloren hat, ist es unerträglich zu erfahren, dass die Landung in der Normandie (50 000 Tote) das wichtigste Ereignis des Zweiten Weltkriegs gewesen sein soll.

Diese Ächtung und Ungerechtigkeit haben im lebendigen Gedächtnis der Russen bittere Spuren hinterlassen. Durch die Schliessung der Grenzen und das de facto Verbot in den Westen zu reisen, aufgrund der Streichung aller Direktflüge, wurde alles noch verschärft.

Sie können verstehen, dass Europa die bewaffnete Intervention in der Ukraine kritisiert, sehen aber nicht ein, warum das sich zivilisiert nennende Europa Tschaikowski, Tschechow, mehrere Orchesterleiter und die Bevölkerung im Allgemeinen in einer historisch einmaligen Verbannungsaktion angreift. Die Zensur sämtlicher russischer Medien in einem europäischen Raum, der sich rühmt, seine demokratischen «Werte» in der Ukraine zu verteidigen, kommt ebenfalls einer Doppelzüngigkeit gleich.

Bei uns scheinen das alles Nebensächlichkeiten zu sein, die wir schnell wieder vergessen haben. Für die Russen, die sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs endlich als Teil der grossen europäischen Familie fühlten hat diese eine ganz andere Bedeutung. Die weitverbreitete Ablehnung Russlands und der Russen als Menschen seit Februar letzten Jahres wird schmerzhaft erlebt.

Das Land, vor allem in den Städten, erfährt gerade schmerzlich, dass es sich von Europa verabschieden muss, weil Europa dies aufgrund eines Krieges beschlossen hat, der zwar unglücklich und bedauerlich ist, aber dennoch nichts mit dem Ausmass der Verwüstungen zu tun hat, das die bewaffneten Aggressionen des Westens in Afghanistan und im Irak, in Syrien und Libyen, im Jemen oder auch im Ostkongo (6 Millionen Opfer, die von den westlichen Medien völlig ignoriert werden) angerichtet haben. Diese Heuchelei wird als sehr negativ empfunden.

Die ersten Verwerfungen waren auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und während des von Saakhachvili unvorsichtigerweise entfesselten Krieges in Georgien 2008 aufgetreten. 2014 folgten der Maidan-Putsch, der den demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch stürzte, die Ächtung der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass und die Sanktionswelle als Reaktion auf die Annexion der Krim. Diese Differenzen waren jedoch politischer und geopolitischer Natur geblieben und hatten sich noch nicht in einen kulturellen, menschlichen und zivilisatorischen Krieg verwandelt. Nunmehr ist der Schnitt klar, tief und radikal.

Die ideologische Kluft zwischen Europa und Russland scheint fast unüberbrückbar

Bisher hatten die russischen Führungseliten beide Seiten bedient: Sie übernahmen vom Westen die Prinzipien des neoliberalen Kapitalismus, seinen Kult des materiellen Fortschritts und seine demokratischen Institutionen, während sie gleichzeitig die Idee eines unabhängigen, souveränen Russlands pflegten, das seine eigenen – von der konservativen Tradition inspirierten – Werte entwickeln und seine Partner frei wählen kann. Der Krieg hat diesen doppelten Weg obsolet gemacht. Er zwingt zu klaren Entscheidungen.

Aus russischer Sicht sind das zunehmende Engagement der Nato hinter der Ukraine und die von François Hollande bestätigten Äusserungen des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko und der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, darüber, dass weder die Ukraine noch die Nato die Absicht gehabt hätten, die Minsker Vereinbarungen einzuhalten, und dass diese nur ein Trick gewesen seien, um der Ukraine Zeit zur Aufrüstung zu verschaffen, haben jede Aussicht auf Verhandlungen verunmöglicht, da klar wurde, dass weder das gegebene Wort noch die vom Westen unterzeichneten Verträge irgendeinen Wert haben.

Zum anderen hat sich die ideologische Kluft zwischen Europa und Russland so vertieft, dass sie fast unüberbrückbar geworden ist. Die Russen, ebenso wie der Rest der arabisch-muslimischen, asiatischen und afrikanischen Welt, verstehen die gesellschaftliche Entwicklung des Westens immer weniger. Der vom Westen propagierte Liberalismus erscheint immer mehr wie eine Tarnung, um seine ständige Einmischung in die Angelegenheiten anderer zu verschleiern.

Die auf Geschlecht und Gender basierenden Identitätsentgleisungen, der bis zum Rassismus gesteigerte Antirassismus, die Diktatur immer kleinerer und extremistischerer Minderheiten über die Mehrheit, der von der «Cancel Culture» aufgezwungene Geschichtsrevisionismus, die schon in jungen Jahren befürwortete Vermehrung der Geschlechter, der Wokismus und die Ablehnung der traditionellen humanistischen Kultur – all das ist der Kultur Russlands und des globalen Südens im Allgemeinen zunehmend fremd.

Der veränderte Ton in Putins Reden seit dem letzten Sommer ist in dieser Hinsicht übrigens sehr bezeichnend. Zum ersten Mal machte der russische Präsident direkte Anspielungen auf traditionelle Werte, kritisierte die westliche Mode von Geschlechtsumwandlungen, Leihmüttern, Elternteil 1 und Elternteil 2 als Bezeichnung für Vater und Mutter, setzte sich angesichts der bei uns modernen transhumanistischen Versuchungen für eine Rückkehr zu traditionellen humanistischen Werten ein und plädierte für eine multipolare Welt, in der jedes Land und jede Kultur das gleiche Recht haben, ihre Werte zu bewahren, ohne befürchten zu müssen, bombardiert oder überfallen zu werden, weil ihre Entscheidungen dem Westen missfallen.

Für die Mehrheit der Russen ist die Trennung eine Tragödie, da sie ihren Traum, als vollwertige Europäer anerkannt zu werden, beendet. Sie trauern schmerzlich um Europa, haben sich aber damit abgefunden, die Last zu tragen, egal wie schwer sie auch sein mag

* Guy Mettan ist Politologe und Journalist. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der Tribune de Genève und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredaktor. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist und Buchautor.

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

Zurück