Abbrechen – zum Schutz des Klimas?

Martin Killias. (Bild zvg)

von Martin Killias,* Präsident Schweizer Heimatschutz

(18. Oktober 2022) (Red.) Der Schweizer Bundesrat hat im September 2022 seine Botschaft zum revidierten CO2-Gesetz verabschiedet, mit dem er den Treibhausgas-Ausstoss bis 2030 halbieren und das Klimaziel 2030 erreichen will.1 Der Autor, Jurist und Präsident des «Schweizer Heimatschutz», hat diesen Gesetzesentwurf unter die Lupe genommen. Seinen Kommentar dazu verbindet er mit der Verleihung des Wakker-Preises 2022 durch den «Schweizer Heimatschutz». Seit 1972 wird dieser Preis jährlich einer Gemeinde zugesprochen, die sich im besonderen Masse um die Baukultur in ihrem Siedlungsgebiet verdient gemacht hat.

Der vor Kurzem verliehene Wakker-Preis an die Genfer Gemeinde Meyrin bot viel Anschauungsunterricht für den Zusammenhang erfolgreicher Städtebau- und guter Energiepolitik. Meyrin hat mit viel Sorge seinen alten Dorfkern gepflegt und die nicht minder erhaltenswerten Neubauquartiere der 1960er-Jahre aufgewertet. Mit dem Widerstand gegen grossflächige Abbruchpläne hat Meyrin nicht nur architektonische Ensembles von grossem Wert erhalten, sondern gleichzeitig einen wichtigen Beitrag gegen die Klimaerwärmung geleistet. In anderen Städten werden solche Überbauungen heute zum Abbruch freigegeben, ironischerweise oft im Namen des Klimaschutzes.

Gewiss, neue Bauten verbrauchen weniger Energie, doch niemand denkt an die Energie, die für die Produktion von Beton und Baumaterialien, vor allem aber für das Abbrechen und Neubauen, verbraucht wird. Diese graue Energie übersteigt das Energiesparpotenzial eines Neubaus während seiner ganzen Lebensdauer bei Weitem. Dazu kommt das Problem der Bau- und Abbruchabfälle, die über 80 Prozent der jährlich in der Schweiz «versenkten» Abfallmenge ausmachen. Mit dieser Menge liesse sich eine Chinesische Mauer von Meyrin bis an die österreichische Grenze am Bodensee erstellen, und das Jahr für Jahr!

Man ist daher konsterniert, im Entwurf eines künftigen CO2-Gesetzes (in Art. 9 Abs. 1bis)2 eine Bestimmung zu finden, mit welcher Abbrüche von Altbauten gezielt gefördert werden sollen, und zwar mit dem Anreiz der Zusicherung einer erhöhten Ausnützung der Grundstücksfläche. Angesichts der vielen Bauten, die zwischen 1950 und 1980 erstellt wurden, würde dies eine nie gesehene Abbruchwelle auslösen. Man kann nur hoffen, dass das Parlament die massiven Schäden, die hier für das Klima und die Umwelt drohen, erkennen wird. Selten wurden mit einem Gesetz, das den Schutz des Klimas bezweckt, derart massive Umweltschäden derart gezielt gefördert.

Zu diesen Schäden kommen unermessliche Verluste für die Baukultur der Nachkriegsmoderne und die Lebensqualität ganzer Stadtviertel. Architektonische Qualitäten sind nicht nur für den Tourismus oder Liebhaber der Baukultur wichtig. Sie sind es auch, weil sie den Bewohnerinnen und Bewohnern ein Identitätsgefühl vermitteln. Alle Menschen haben ein Bedürfnis nach Erinnerung. Diese haftet an privaten Gegenständen wie auch an Gebäuden, die wir bewohnt haben oder die an vertrauten Orten stehen. Die gemeinsame Erinnerung ist die Basis des sozialen Zusammenhalts. In Meyrin ist es gelungen, diese trotz einer heterogenen Bevölkerung zu erhalten, dies auch dank der Erhaltung kollektiver, identitätsstiftender Erinnerungsorte. Dass Meyrin dabei einen vorbildlichen Beitrag zum Klimaschutz geleistet hat, darf im Hinblick auf die anstehende Debatte zum CO2-Gesetz nicht unerwähnt bleiben.

* Martin Killias hat seine Studien mit einem Doktorat als Jurist und einem Lizenziat in Soziologie und Sozialpsychologie abgeschlossen. Der langjährige Strafrechtsprofessor, Sozialwissenschaftler und Publizist ist seit 1965 Mitglied des Schweizer Heimatschutzes und wurde im Juni 2017 als dessen Präsident gewählt.

Quelle: Heimatschutz/Patrimoine 3/2022
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

1 https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/uvek/medien/medienmitteilungen.msg-id-90389.html

2 https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/73153.pdf

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