«Das Covid-19-Gesetz übergeht den Verfassungsgeber und damit Volk und Stände»
von Andreas Kley*
(5. November 2021) Gegenstand der Referendums-Abstimmung [vom 28. November 2021] ist das «Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie». Dabei fällt der inhaltsarme Gesetzestitel auf. Der Titel ist pleonastisch, denn was sollte ein Bundesgesetz anderes tun, als gesetzliche Grundlagen zu schaffen? Zudem muss ein Gesetz mehr leisten, als nur Verordnungen abzustützen.
Damit ist die Besonderheit angesprochen: Das Bundesgesetz will gar nicht – obwohl man das von jedem Gesetz erwartet – einen bestimmten Regelungsbereich gestalten. Es will lediglich gesetzliche Grundlagen für schon bestehende (Not-)Verordnungen schaffen. Das zeigt sich verschiedentlich.
Covid-19-Gesetz: «Der Bundesrat kann, kann, kann …»
Das Gesetz ruft im Ingress die ungewöhnlich hohe Zahl von 16 Bundeskompetenzen an, mit denen es sich verfassungsmässig legitimieren will. Diese 16 Bundeskompetenzen lassen einen umfangreichen Erlass erwarten, der sich mit vielen Materien beschäftigt. Das ist nicht der Fall. Die 34 Gesetzesartikel bilden ein schmales Gesetz. Der Ingress des Covid-19-Gesetzes zeigt, dass es ein Kompetenzpaket schnürt. Die Bundesversammlung legt dieses Kompetenzpaket in die Hände des Bundesrates. Im Gesetz heisst es immer wieder «Der Bundesrat kann, kann, kann …».
Der Bundesrat hat das Kompetenzgeschenk angenommen, indem er am 7. Oktober 2020 die «Verordnung über die Abstützung der Covid-19-Verordnungen auf das Covid-19-Gesetz» erliess. Im Ingress bestehender Covid-19-Verordnungen strich er die Erwähnung von Art. 185 Abs. 3 der Bundesverfassung («Notrecht») und ersetzte sie durch das Covid-19-Gesetz als neue Kompetenzgrundlage.
Anschliessend erliess er gestützt auf dieses Gesetz zusätzliche (Abfederungs- und Eingriffs-) Covid-19-Verordnungen. Parlament und Bundesrat benützen die folgende Legitimationskette: 16 Verfassungsbestimmungen stützen das Covid-19-Gesetz, dieses wiederum hebt diese Kompetenzen hervor, ohne eigene Sachregelungen zu treffen, und überträgt die jeweilige Sachzuständigkeit auf den Bundesrat.
Ein undemokratisches Vorhaben
Der seltsame Gesetzestitel zeigt nicht nur einen juristischen Formalismus an, sondern offenbart ein undemokratisches Vorhaben. Die Bundesverfassung schreibt in Art. 164 den sachlichen Mindestinhalt von Gesetzen vor. Nach diesem Gebot sind «alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen», und als Beispiele werden die grundlegenden Bestimmungen über «die Einschränkungen verfassungsmässiger Rechte» oder die Festlegung der «Rechte und Pflichten von Personen» genannt.
Die Bundesversammlung ist verpflichtet, diese Regeln selbst aufzustellen. Sie darf diese Arbeit nicht auf den Bundesrat übertragen. Die Bundesgesetze dürfen keine inhaltsarmen Blankettgesetze sein.
Die Vorschrift von Art. 164 sichert die Demokratie: Es ist das vom Stimmvolk gewählte Parlament, das die wichtigen Gesetzesinhalte diskutiert, ausarbeitet und verabschiedet. Anschliessend unterstehen diese Normen dem Referendum. Das Covid-19-Gesetz gestattet es, den demokratischen Weg erheblich abzukürzen. Es überspringt die Bundesversammlung und damit die Referendumsdemokratie.
Das Covid-19-Gesetz verletzt ferner Art. 185 der Bundesverfassung über die verfassungsunmittelbaren Verordnungen. Diese stehen im Rahmen der Bundesverfassung und unter begrenzenden Voraussetzungen dem Bundesrat zu. Die Bundesversammlung ist nicht befugt, diese Bestimmung mit einem blossen Bundesgesetz zu erweitern, vielmehr bedürfte dies einer Verfassungsrevision.
Schweizerische Demokratie grob beschädigt
Das Gesetz übergeht den Verfassungsgeber und damit Volk und Stände. Der Titel des Covid- 19-Gesetzes dokumentiert ein substanzielles Versagen der Bundesversammlung. Sie nimmt ihre Kernaufgabe, die Gesetzgebung, nicht ernst. Das demokratisch gewählte höchste Organ des Bundes hat mit dem Covid-19-Gesetz und seinen Änderungen zwei wichtige Artikel der Bundesverfassung missachtet und die schweizerische Demokratie grob beschädigt.
Die Demokratie gibt den Stimmbürgern politische Rechte, die sich in Wahlen und Abstimmungen materialisieren. Die demokratische Staatsform benötigt verlässliche und faire Verfahrensregeln, welche die Verfassung festlegt. Diese hat «das Volk in Zeiten kühler Überlegung angenommen», und die Verfassung verkörpert dadurch «Freiheit und Selbstbeherrschung». In «Augenblicken der Übereilung und der Erregung» bilden diese Maximen eine feste Leitlinie (James Bryce).
Zeit zur Besinnung
Die demokratischen Verfahrensregeln erfordern Zeit für Debatten und schützen die «Schwachen gegen die Starken». Dadurch halten sie «den einen auf und lassen dem andern Zeit zur Besinnung» (Alexis de Tocqueville). Es ist notwendig, die Mehrheit der Parlamentarier an diese demokratischen Grundsätze zu erinnern.
* Andreas Kley ist Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich. |
Quelle: © Neue Zürcher Zeitung vom 20. Oktober 2021. Erschienen unter dem Titel: «Covid-19-Gesetz: Der Bundesrat kann, kann, kann . . .» (Aktueller Titel und Zwischentitel: Redaktion «Schweizer Standpunkt»). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der NZZ und des Autors.