Schweiz

Das Malaise der Schul-Reformen

Christine Staehelin. (Bild zvg)

Interventionen, die die Schule in ihrem Kern treffen

von Christine Staehelin,* Basel

(31. Oktober 2023) Christine Staehelin, Primarlehrerin mit Pädagogik-Studium, beschäftigt sich in Ihrem Beitrag mit der ungenügenden Begründbarkeit vieler Reformen und analysiert messerscharf die gravierenden Konsequenzen.

In den letzten Jahren prägen Schlagzeilen wie «Lehrpersonen am Ende – Druck auf die integrative Schule», «Frühfranzösisch und integrative Schule – alles ein Fehler?», «Frühfranzösisch an der Primarschule ist gescheitert», «Wegen Gewalt an Schulen – 1000 Lehrer mussten zum Arzt», «Viele Lehrer schmeissen wegen hoher Belastung hin», «Eltern erstatten häufiger Anzeige gegen Lehrer», «Wenn wir nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt», «Lehrplan 21 im Sperrfeuer der Kritik» den schulischen Diskurs.

Die Schlagzeilen, die Debatte und die Kritik beschäftigen sich mit Oberflächlichkeiten. Die Schule steht nicht mehr als Repräsentantin der Kultur und ihrer Aufgabe, diese mittels eines pädagogischen Auftrags zu tradieren, im Zentrum der Debatte. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass die Reformen der letzten Jahrzehnte, welche das Selbstverständnis der Schule erschüttert haben, reine Oberflächeninterventionen waren. Sie haben diese behäbige, prinzipiell konservative Institution mit Neuem überflutet. Dem Neuen, das seine Begründung und damit seinen Sinn weder aus der pädagogischen Praxis oder ihrer Theorie noch aus dem gesellschaftlichen Auftrag der Schule abgeleitet hat, sondern letztlich allein aus der Idee des Neuen selbst. Zusammenhangslos, theorielos, erfolglos und ziellos wurden unzählige Reformen – Beispiele werden weiter unten aufgeführt – den Schulen einfach übergestülpt.

Das hat nicht nur das Selbstverständnis der Schule, sondern auch das pädagogische Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer aus dem Gleichgewicht gebracht. Und die Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen zeigen: Es hat das Vertrauen in die Institution und ihre Glaubwürdigkeit geschwächt. Und in der Debatte rund um die Oberflächlichkeitsphänomene geht vergessen, dass diese nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Es scheint, als wisse die Gesellschaft nicht mehr, was die pädagogische Praxis vor Ort leisten kann und soll. Es wird ihr viel zu viel zugemutet und gleichzeitig wird sie ständig kritisiert. Sie soll also alles richten und gleichzeitig traut man es ihr nicht zu. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, lebenslanges Lernen verlangt, aber an den Schulen verschwindet das Pädagogische, das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.

Kinder brauchen Anleitung durch Lehrerinnen und Lehrer, die Verantwortung
übernehmen – keine Coaches. (Bild keystone)

Die praxisfremden Neuerungen

Der Lehrplan 21 mit seinen unzähligen Kompetenzen wurde erfunden; neue methodisch-didaktische Konzepte ausgeklügelt, die immer mehr Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler delegieren, weil die ältere Generation meint, die jüngere wisse es besser.

Gleichzeitig stiehlt sich die ältere damit der Verantwortung; die Integration aller Kinder vorangetrieben ohne zu berücksichtigen, dass es Kinder gibt, die auf einen spezifischen, ihren Fähigkeiten angemessenen Unterricht angewiesen sind, damit sie später an der Gesellschaft teilhaben können; das Frühfranzösisch wurde eingeführt, ohne zu beachten, dass frühes Erlernen einer Fremdsprache nicht einfach besser ist, sondern dass das Erlernen von Neuem immer auch in einem altersabhängig angemessenen Kontext stattfinden muss, damit es Erfolg haben kann; die Schule wurde mit digitalen Geräten geflutet, um auf die Digitalisierung vorzubereiten, was auch immer das heissen mag, ohne zu berücksichtigen, dass Lernen und Lehren eine grundsätzlich personale Angelegenheit ist und dass die Nutzung technischer Hilfsmittel keine pädagogische Praxis an sich ist.

Die Wirkung der Neuerungen

Dem kann man entgegenhalten, dass dies alles ja nur Oberflächeninterventionen seien, doch diese haben die Schule in ihrem Kern getroffen, da damit eine grundlegende Umgestaltung der pädagogischen Praxis erfolgt ist.

Die unzähligen Kompetenzen des Lehrplans 21 führen in ihrer Oberflächlichkeit genau dazu, dass alles Wesentliche nur noch angetippt wird; es fehlt die Zeit für die vertiefte Beschäftigung, für das Verstehen, für das Üben. Hektisch und atemlos wird versucht, diese Können-Formulierungen irgendwie umzusetzen. Und da die Lehrpersonen hier an ihre Grenzen stossen, werden die Kompetenzformulierungen einfach den Schülerinnen und Schülern übergeben zusammen mit entsprechenden Aufträgen und so genannten Dossiers.

Die methodisch-didaktischen Konzepte treiben die Individualisierung des Unterrichts in unterschiedlichen Variationen voran, die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden; die gemeinsame Ansprache, worauf das Unterrichten im Kollektiv, wie es an der Schule nun einmal stattfindet, angewiesen ist, wird als Frontalunterricht diskreditiert und dem Prinzip der Individualisierung als unterrichtsleitend gegenübergestellt.

Die integrative Schule ist eine Schule für immer weniger

Die so genannt integrative Schule hat genau das Gegenteil ihrer Absicht verwirklicht: Noch nie hatten so viele Kinder einen so genannten Förderbedarf, noch nie wurden so viele Diagnosen gestellt, verstärkte Massnahmen finanziert, Therapien an Schulen durchgeführt und noch nie wurde so oft moniert, dass die Lehrpersonen aufgrund der Zunahme von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern an ihre Grenzen stossen. Die integrative Schule ist nicht eine Schule für alle, sondern eine Schule für immer weniger, denn immer mehr brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.

Dass das Frühfranzösisch scheitern würde, war vorhersehbar, denn das Konzept des Sprachbads während zwei bis drei Lektionen pro Woche ist weder begründbar noch nachvollziehbar. Doch es ist auch ein Zeichen der Zeit, dass das Experiment das Mittel der Wahl ist und das Argument im Vorfeld keine Chance hat. Dass mit diesem Konzept mehrere Millionen in den Sand gesetzt wurden, dass der Stellenwert des Französisch als Landessprache zusätzlich geschwächt wurde, dass Kinder unzählige Lektionen in einem ineffektiven Unterricht verbringen, das wurde einfach in Kauf genommen.

Die Turbodigitalisierung hat den Lernerfolg nicht gesteigert, im Gegenteil. Es ist empirisch erwiesen, dass das Lesen am Bildschirm oberflächlicher erfolgt als in Büchern, dass der Wortschatz kleiner wird und die Fähigkeit zur Textproduktion sinkt, je häufiger digitale Medien genutzt werden, dass das Schreiben von Hand dem Schreiben mit digitalen Endgeräten überlegen ist. Ganz abgesehen davon führt die extensive Nutzung digitaler Geräte an Schulen dazu, dass die sozialen Interaktionen abnehmen, dass jeder zunehmend nur mit seinem Gerät beschäftigt ist, dass die Lehrperson hinter den Bildschirmen verschwindet und das Wissen irgendwo in den Sphären gesucht werden muss, kurz: Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Debatte der Oberflächlichkeiten

Die nun sichtbar gewordenen problematischen Auswirkungen der oberflächlichen Reformen führen zu öffentlichen Debatten, bei welchen alle mitreden, alle sich aufregen, alle kritisieren, alle alles besser wissen können. Sie führen zu oberflächlichen Diskursen und verfehlen damit einerseits die grundsätzliche Problematik eines möglichen Scheiterns der öffentlichen Schule und andererseits werden sie der Komplexität des gesellschaftlichen Auftrags an die Schule, der pädagogischen Praxis und deren Widersprüchlichkeiten nicht gerecht. Man redet über jene Phänomene des Scheiterns, die nun sichtbar werden, ohne nach den eigentlichen Ursachen zu fragen.

Ein Lehrplan, der das Können formuliert, vergisst, dass dieses nicht einfach hergestellt werden kann und dass es grundsätzlich ausschliesst, dass Bildung viel mehr ist, als dass, was verwertet werden kann. Eine finale Formulierung von Kompetenzen schliesst Neugierde, Begeisterung, verstehen Wollen und alles Schöne, aber vielleicht nicht direkt Verwertbare aus. Ausserdem erhebt sie den Anspruch, dass es Instanzen gibt, die genau wissen, was überhaupt gewusst werden soll. Sie nehmen der pädagogischen Praxis die Sinnhaftigkeit, die weit über das hinausgeht zu vermitteln, was unmittelbar als nützlich erachtet wird. Und so diskutieren wir über die Ausformulierung und die Anzahl von Kompetenzen, statt über das Lernen im Kollektiv mit dem Ziel, sich die Welt ein Stück weit anzueignen und sich dadurch einbringen zu können.

Individualisierende Unterrichtsformen sollen den Lernbedürfnissen des einzelnen Kindes entgegenkommen, jedes Kind soll als Individuum wahrgenommen und sich selbst sein dürfen, sein aktueller Lernstand soll erhoben und spezifische, darauf ausgerichtete Lernangebote sollen bereitgestellt werden oder es soll aus einem breiten Angebot in einer Lernlandschaft selbst wählen können, was es gerade lernen möchte.

Dabei stiehlt sich die Erwachsenenwelt aus ihrer Verantwortung gegenüber der nächsten Generation und lässt sie zunehmend allein und auf sich selbst bezogen. Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten. Das heisst, die Erwartungen bleiben dieselben, aber sie werden nicht mehr direkt kommuniziert, sondern die Schülerinnen und Schüler müssen sie selbst entdecken, was bedeutend schwieriger ist.

Wir Menschen sind soziale Wesen und leben in einer geteilten Welt. Nicht die Debatten darüber, wie die Schule noch mehr auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes eingehen könnte, ist zielführend, sondern die Besinnung darauf, dass wir soziale Wesen sind. Gerade diese herausfordernde Praxis, dass wir, auch wenn wir alle unterschiedlich sind, die Welt teilen und stets von Neuem aushandeln müssen, wie wir zusammenleben wollen, können wir in der Schule erlernen.

Wir reden darüber, mit wie viel zusätzlichen finanziellen Mitteln und zusätzlichen therapeutischen Angeboten wir die integrative Schule retten können, statt darüber zu reden, dass es einige wenige Kinder gibt, für welche die Regelschule nicht das angemessene Setting bieten kann, weil sie nicht auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingeht. Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen bei immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können.

Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu. Dies wird dann mit gesellschaftlichen Veränderungen begründet, auch wenn die Probleme systemimmanent sind. Wir gehen tatsächlich so weit, eine immer grössere Anzahl von Kindern und Jugendlichen als förder- und therapiebedürftig zu bezeichnen, anstatt darüber zu reden, wie sehr wir die Schülerinnen und Schüler allein lassen, weil sie sogar ihre Lernziele selbst wählen können, obwohl sie wissen, dass überall versteckte Erwartungen lauern.

Obwohl Digitalisierung ein sehr unscharfer Begriff ist, hat diese Idee und die dafür bereitgestellten Millionenbudgets an den Schulen dazu geführt, dass zunehmend digitale Endgeräte eingesetzt werden. Aktuell wird darüber diskutiert, ob KI und ChatGPT für die Schulen eine Gefahr, eine Revolution oder ein Segen seien.

Sie sollen personalisierte Lernprogramme erstellen, den Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern eruieren können und sie beim Lernen unterstützen. Wir aber sollten öffentlich darüber diskutieren, ob wir als Menschen, die das Wissen in unseren Köpfen an die Köpfe der nächsten Generation weitergeben, angereichert mit unserer Begeisterung und unseren Erfahrungen, in einer pädagogischen Beziehung, die auf Vertrauen, Zutrauen, Zumuten und einer manchmal kontrafaktisch positiven Erwartungshaltung basiert, diese Aufgabe tatsächlich an Maschinen delegieren wollen.

Worüber wir eigentlich debattieren sollten

Die Ausführungen wollen aufzeigen, dass die oberflächlichen Reformen der letzten Jahrzehnte und die ausufernden Zumutungen an die Schule sowie die damit einhergehenden oberflächlichen, öffentlichen Debatten die pädagogische Praxis und die Schule als wesentliche Institution einer Demokratie irritiert und verunsichert haben.

Die Schule als Ort der Widersprüchlichkeiten, des möglichen Scheiterns, der Horizonterweiterung, der personalen pädagogischen Beziehungen, der Begeisterung und der Langeweile, des Lernens im Kollektiv, der Weltzugänge sowie der Freundschaften und der Streitigkeiten ist eine äusserst komplexe Institution. Sie ist auf ein pädagogisches Selbstverständnis angewiesen, das ihren Sinn zumindest teilweise begründet.

Das ist der unsichtbare, aber überlebenswichtige Teil des Eisbergs, über welchen wir nicht debattieren. Wenn wir uns nicht damit befassen, sondern nur mit den über dem Meeresspiegel sichtbaren Oberflächlichkeiten, die jeder aus seiner individuellen Perspektive wahrnimmt, interpretiert und kritisiert, dann wird der unsichtbare Teil möglichweise eines Tages geschmolzen sein, ohne dass wir es bemerkt haben. Und wir werden uns fragen, warum die öffentliche Schule verschwunden ist, spätestens dann, wenn niemand mehr dort unterrichten wird.

Quelle: https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/, 21. September 2023

Zurück