Das neue Eldorado der Kokainhändler

Céline Pina. (Bild celinepina.com)

Kokain scheint von der Inflation nicht betroffen zu sein. Warum das so ist.

von Céline Pina,* Journalistin, Frankreich

(5. September 2023) Wie bei unseren europäischen Nachbarn ist Kokain in unseren Städten und auf dem Land mittlerweile zu Schleuderpreisen erhältlich. Da es in grossen Mengen importiert wird, hat es aufgehört, ein Luxusgut zu sein. Seine besorgniserregende Macht der Korruption und Zerstörung hat jedoch nicht abgenommen.

Ist das Leben teuer? Wird alles teurer? Nicht unbedingt. Von 150 Euro im Einzelhandel vor einigen Jahren wird ein Gramm Kokain heute in Paris für 60 bis 80 Euro gehandelt. Verglichen mit den steigenden Energie- und Rohstoffpreise wird Kokain, einst ein Luxusprodukt, immer «zugänglicher».

Mehr als eine Tonne Kokain sichergestellt auf einem Handelsschiff durch die
Zollbeamten der Küstenwache Ärmelkanal-Nordsee, Dünkirchen, im Oktober 2021.
(Bild zvg)

Das zeigt sich an den steigenden Beschlagnahmungen: Im Hafen von Antwerpen beschlagnahmte die Polizei 2022 110 Tonnen Kokain. Im Jahr 2015 waren es weniger als 16 Tonnen. Diese Zahlen zeugen weniger von einer verbesserten polizeilichen Leistung gegen den Drogenhandel als vielmehr von einem explodierenden Markt: Europa ist das neue Eldorado der Kokainhändler.

Yann Bastière, Vertreter der Polizeigewerkschaft SGP Unité Police, erklärt den Mechanismus, der hier am Werk ist:

«Der Kokainmarkt in den USA ist gesättigt. Gleichzeitig explodiert die Produktion. In Kolumbien, dem grössten Erzeugerland, sind die Aussaatflächen bis 2021 gegenüber 2020 um 43% gestiegen. Die Erschliessung neuer Absatzmärkte ist lebensnotwendig.

Damit diese Märkte rentabel sind, müssen grosse Mengen der Droge abgesetzt werden können. Deshalb sind Europa und seine grosse Mittelschicht seit einigen Jahren das bevorzugte Ziel von Drogenhändlern. Deshalb sinken die Preise, während die Qualität steigt: Es gilt, neue Konsumenten zu gewinnen und an sich zu binden.»

Massenhafte und wenig kontrollierte Einreise

Das Einfallstor für die Drogen sind die grossen Containerhäfen wie Antwerpen, Rotterdam oder Le Havre. Im Falle Frankreichs ist ein weiterer Akteur entscheidend: Guyana. Seine Grenze zu Surinam, einem Narkostaat und Drehscheibe für den Handel mit kolumbianischem Kokain nach Frankreich, macht es zu einem regelrechten französischen «Narko-Departement».

Laut einer Polizeiquelle

«gleicht die kaum kontrollierte Grenze zu Surinam in Bezug auf die Besucherzahlen den Champs-Elysées, vor allem wenn die zwei täglichen Flüge vom Flughafen Cayenne nach Frankreich bevorstehen. Bei jeder Kontrolle werden drei oder vier Drogenkuriere erwischt, aber wir wissen genau, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Je mehr Drogenkuriere es gibt, und das bei einer begrenzten Anzahl von Zollbeamten, desto mehr schlüpfen durch die Maschen des Netzes. Es ist ihnen egal, ob sie drei oder vier Drogenkuriere verlieren, wenn sie auf jeder Reise Dutzende andere durchschleusen.»

Der Beamte, der lange Zeit für die Bekämpfung des Drogenhandels zuständig war, berichtete:

«Eines Tages beschlossen wir, ein Flugzeug unangekündigt einer umfassenden Kontrolle zu unterziehen. Obwohl wir die Entscheidung so spät wie möglich getroffen haben, war die Korruptionsmacht der Drogenhändler so gross, dass die Information trotzdem durchsickerte. Nun, von einem Flugzeug mit 250 Passagieren erschienen etwa 40 nicht zum Einstieg, obwohl keine Rückerstattung des Ticket-Preises möglich war.»

Der Grossteil der Transporte nach Europa geschieht nach wie vor per Container. In Antwerpen zum Beispiel werden nur 1,5% der 12 Millionen angelandeten Container kontrolliert. Aus Polizeikreisen wird geschätzt, dass nur 10% der Drogen, die auf diesem Weg transportiert werden, abgefangen werden. Für die Drogenhändler ist dieser Verlust angesichts der enormen Gewinne akzeptabel: Der Kokainmarkt in Antwerpen wird auf über 50 Milliarden pro Jahr geschätzt, was 10% des belgischen BIP entspricht.

Terror und Korruption

«Die Drogenhändler wissen genau, wie die Häfen funktionieren. Sie verstecken die Drogen vor allem in Containern mit verderblichen Waren, da diese sehr schnell gelöscht werden müssen und nicht gelagert werden können. Vor allem aber verfügen sie über so viel Geld, dass es ihnen nicht schwerfällt, Hafenarbeiter, Zollbeamte, Polizisten usw. zu bestechen. Und wenn die Bestechung nicht funktioniert, bleibt nur noch der Terror»,

berichtet Fabrice Rizzoli, Vorsitzender von Crim'Halt.

In Antwerpen ist die durch den Drogenhandel verursachte Gewalt vom Hafen auf die Stadt übergesprungen und hat schliesslich das ganze Land erfasst. Die Situation geriet umso mehr ausser Kontrolle, als sich die Behörden lange Zeit weigerten, in leistungsfähige Kamerasysteme oder Scannerportale zu investieren.

Der leicht zugängliche Hafen wurde zum Spielplatz der «Mocro Maffia», dieser marokkanischen Mafia, die in Nordeuropa, insbesondere in Belgien, den Niederlanden oder Nordfrankreich, ihr Unwesen treibt – Regionen, in denen sich seit den 1960er Jahren viele Einwanderer aus dem Rif-Gebiet niedergelassen haben. Tatsächlich stützt sich die Ankunft von Kokain auf bereits bestehende Netzwerke, insbesondere auf die Cannabis-Netzwerke.

Laut Yann Bastière

«gibt es ein Joint Venture zwischen der italienischen, marokkanischen und korsischen Mafia und den südamerikanischen Produzenten. Einer der Beweise für diese strukturellen Verbindungen ist in Marokko zu finden. Dort wird immer mehr Kokain beschlagnahmt, obwohl Marokko kein Produzent ist. Das Produkt gelangt dorthin, weil es die Routen des Cannabishandels nutzt und von denselben Akteuren vertrieben wird.»

In Frankreich hat sich der Hafen von Le Havre schnell als wichtiges Einfallstor für Kokain etabliert. Im Jahr 2021 wurden 10 Tonnen Kokain beschlagnahmt, ein Anstieg um 164% innerhalb eines Jahres. Wie in Antwerpen haben Korruption und Gewalt den mafiösen Einfluss auf den Hafen ermöglicht, und die Hafenarbeiter sind dem am meisten ausgesetzt.

Die besondere Organisation der Häfen und die Herrschaft allmächtiger Gewerkschaften, die ihre Normen durchsetzen, die Installation von Kameras verhindern, den freien Zugang der Hafenarbeiter zu den Containern erzwingen, machen diese zu unumgänglichen Agenten, um die Ware zu bergen.

Eine Polizeiquelle bestätigte uns, dass es

«ohne die Komplizenschaft der Hafenarbeiter unmöglich ist, die Drogen herauszuschmuggeln. Übrigens stehen einige von ihnen aufgrund von Korruptionsfällen vor Gericht. Dort erhält man einen Eindruck von den Summen, die von den Drogenhändlern geboten werden: 10 000 Euro für die Ausleihe eines elektronischen Türöffners, 50 000 Euro für den Kranführer, um einen Container zu bewegen ... Es ist schwer, solchen Versuchungen zu widerstehen.»

Die Gier nach Geld erklärt jedoch nicht alles. Laut Yann Bastière

«setzen die extreme Gewalt der Schmuggler und ihre Entschlossenheit die Angestellten der Docks, die Zollbeamten und die Polizisten unter enormen Druck. In Le Havre wurden Hafenarbeiter entführt und festgehalten, ihre Familien wurden ins Visier genommen. Und es gibt ein Missverhältnis zwischen den Mitteln, die für die Kontrolle und die Polizei bereitgestellt werden, und denen, die die Schmuggler zur Verfügung haben.»

Seitdem es der belgischen, französischen und niederländischen Polizei gelungen ist, in den von Mafia-Netzwerken genutzten Sky ECC-Messenger einzudringen, sind sie auf Videos von Folterkammern gestossen, oder von Menschen, die zerstückelt und durch den Fleischwolf gedreht werden.

Das kann von Ehrlichkeit abschrecken. Der Hafen von Le Havre hat bereits Entführungen und seinen ersten Toten zu beklagen. Im Jahr 2020 wurde die Leiche von Allan Affagard, einem Hafenarbeiter und CGT-Gewerkschafter, hinter einer Schule gefunden. Er war verdächtigt worden, den Abtransport von Kokain aus dem Hafen erleichtert zu haben, und wurde deswegen angeklagt. Diese Anschuldigungen hatte er stets zurückgewiesen.

Die Macht der Drogenhändler

In den Niederlanden werden die Kronprinzessin und der Premierminister von den Drogenhändlern direkt mit dem Tod bedroht. In Belgien ist der Justizminister das Ziel. Neben den realen Bedrohungen für die politische Klasse ist auch ihre potenzielle Korruption ein Grund zur Sorge. Da es um sehr viel Geld geht, müssen die Mafia-Netzwerke auf allen Ebenen Verbindungen zu den gewählten Vertretern aufbauen.

Zwar sind nur wenige Fälle aufgeflogen. Die Experten glauben jedoch, dass die aufsehenerregende Geschichte, die die Stadt Saint-Denis erschütterte, wo eine halbe Tonne Cannabis im städtischen Technikzentrum gelagert wurde, vielleicht gar nicht so aussergewöhnlich ist. Die relative Straffreiheit, die der Angestellte während der Dauer des Schmuggels genoss, wirft Fragen über die Blindheit der gewählten Vertreter und die grosse Nachsicht der Vorgesetzten auf.

Weitere Beispiele sind Florence Lamblin, eine EELV-Abgeordnete und stellvertretende Bürgermeisterin des 13. Arrondissement in Paris, der vorgeworfen wird, bei der Geldwäsche im Zusammenhang mit dem Drogenhandel geholfen zu haben; Nicolas Jeanneté, Direktor der Partei Nouveau Centre und Stadtrat von Paris, dem Drogenhandel vorgeworfen wird; Mélanie Boulanger, SP-Bürgermeisterin von Canteleu, und ihr für den Handel zuständiger Stellvertreter, denen vorgeworfen wird, unter dem Einfluss von Drogenhändlern gestanden zu sein und ihnen das Leben «erleichtert» zu haben.

Wie im Fall des Hafenpersonals könnte sich das Anvisieren von Abgeordneten als umso «rentabler» erweisen, je glaubwürdiger, nachhaltiger und wirksamer die Todesdrohungen der Drogenbosse sind, und wo der Polizeischutz begrenzt und wenig wirkungsvoll zu sein scheint.

In Erwartung einer Reaktion, die den Gefahren angemessen ist, warnen Experten des Drogenhandels:

«Wenn die Produktion steigt und die Preise fast halbiert werden, stellt man eine Verjüngung und Massierung der Konsumenten fest. [...] Um an Kokain zu kommen, genügt es, beispielsweise auf Twitter oder Snapchat ‹Kokainlieferung› einzugeben – und schon erhält man eine Nummer, die über WhatsApp funktioniert und die einem innerhalb einer Stunde den Stoff nach Hause liefert»,

erzählt Yann Bastière. Die Uberisierung des Drogen-Deals funktioniert wunderbar. Zu unserem kollektiven Unglück.

* Céline Pina, geboren 1970, hat in Grenoble und Paris Politikwissenschaften studiert und arbeitet heute als Essayistin und Kolumnistin.

Source: https://drogaddiction.com/2023/07/04/vers-une-republique-de-marquis-poudres/, 4. Juli 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

(Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)

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