Der «Geist unserer Zeit» – Zur Aktualität der Gedanken des grossen Humanisten Albert Schweitzer
von Prof. Dr. Rüdiger H. Jung*
(18. Juli 2025) «Der ‹Geist unserer Zeit› […] erhält uns im Tätigkeitstaumel, damit wir ja nicht zur Selbstbesinnung kommen und uns fragen, was dieses rastlose Hingeben an Ziele und Errungenschaften eigentlich mit dem Sinn der Welt und dem Sinn unseres Lebens zu tun habe.»

Hochschule Koblenz/Barz)
Nein, das ist kein dieser Tage geschriebener Satz. Das Zitat stammt von Albert Schweitzer aus seiner erstmals 1923 veröffentlichten «Kulturphilosophie». Die grosse Gesellschaftsanalyse des vor 150 Jahren geborenen Humanisten, Orgelvirtuosen, Philosophen, Theologen und Mediziners Albert Schweitzer ist von beeindruckender Aktualität.
Um das Bedrückende an dieser Aktualität zu betonen, könnte man – vermutlich mit Zustimmung von Schweitzer – dem «Tätigkeitstaumel» den Krisen- und Paniktaumel hinzufügen, mit dem die Bevölkerung politisch und medial im Angstmodus gefangen und von einer Besinnung auf den wahren Wert des Lebens abgehalten wird.

CC-BY-SA 3.0)
Von Albert Einstein ist überliefert, dass er Schweitzer für den einzigen Menschen der westlichen Welt hielt, der in seiner moralischen Wirkung mit Mahatma Gandhi vergleichbar sei. Als Albert Schweitzer sich in den 1950er- und 1960er-Jahren im bereits hohen Alter unermüdlich gegen die atomare Aufrüstung und für ein friedliches Miteinander der Völker im Sinne seiner berühmten «Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben» engagierte, waren es Zeitgenossen und Mitstreiter wie Albert Einstein, Werner Heisenberg, Otto Hahn, Linus Pauling oder auch der Philosoph Bertrand Russel und der erste UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, die vor allem auf den Einfluss des moralischen Gewichts Schweitzers setzten.
Was läge näher, als in der heutigen Zeit, wo mit schier unerträglicher Umdeutung im politischen Raum Ideologie als Moral deklariert wird, an Albert Schweitzer und seine zeitlos gültigen Gedanken zu erinnern.
Zwei zentrale Begriffe in Schweitzers Überlegungen
In das Zentrum der Überlegungen Schweitzers führt die Frage, wovon zivilisatorischer Fortschritt letztlich abhängt. Es ist nicht, wiewohl vielfach so propagiert, der technisch-materielle Fortschritt; ist es doch gerade dieser, der uns im Tätigkeitstaumel hält und unentwegt neue Möglichkeiten lebensfeindlicher und lebensvernichtender Artefakte gebiert.
Entscheidend für einen wahren Fortschritt in der menschlichen Zivilisation ist die Entwicklung des Menschen zu einer in Freiheit und Verantwortlichkeit handelnden «ethischen Persönlichkeit» – ein zentraler Begriff in Schweitzers Überlegungen. Die «Lebensbejahung durch tätige Hingebung an anderes Leben» sowie das Streben nach einem «innerlichen Vollkommenerwerden» sind die zwei Grundprinzipien und Grundbewegungen der ethischen Persönlichkeit. Schweitzer beschreibt die beiden Grundbewegungen als hingebende Liebe und stetes Bemühen um Wahrhaftigkeit gegenüber Anderen und sich selbst – Werte, die auch sein eigenes Denken und Handeln bestimmten.
Albert Schweitzer setzt das Individuum, den einzelnen Menschen, in einen Gegensatz zu den «Kollektivitäten», wie er die gesellschaftlichen Organisationen, in die das Individuum eingebunden ist, bezeichnete. Nur das menschliche Individuum ist geistiges Sein, dem das Streben nach Werten, der unbedingte Wille zum Leben und die Fähigkeit zur Heranbildung einer ethischen Persönlichkeit innewohnen.
Dazu ist keine Organisation in der Lage – kein Wirtschaftsunternehmen, keine politische Partei, keine sogenannte Nichtregierungsorganisation (NGO), auch keine kirchliche Institution. Zwischen diesen Kollektivitäten und dem zur ethischen Persönlichkeit befähigten Menschen besteht ein Antagonismus, den Schweitzer nicht müde wird, als Problem für zivilisatorischen Fortschritt zu betonen.
«Die Ethik der ethischen Persönlichkeit will die Humanität wahren. Die von der Gesellschaft aufgestellte ist dazu unvermögend. […] Das Ethische […] kommt nur im Einzelnen zustande.» Kollektivitäten mit ihren eigenen Interessen «fürchten die Persönlichkeit, weil der Geist und die Wahrheit, die sie stumm haben möchten, in ihr zu Worte kommen können», so Schweitzer. Deshalb sind gesellschaftliche und darin auch politische Kräfte fortwährend bemüht, «die Autorität der Ethik der ethischen Persönlichkeit so viel wie möglich zu beschränken». Sie wollen «Diener haben, die sich nicht auflehnen».
Und weiter: «Wo die Kollektivitäten stärker auf den Einzelnen einwirken, als er auf sie zurück, entsteht Niedergang.» Auch nach Erscheinen dieser Warnungen, aber noch zu Lebzeiten Schweitzers, hat die Geschichte genügend Belege für seine ethische Argumentation geliefert – mit Kriegen und mit Völkermorden als schrecklichen Höhepunkten kollektivistischer und im Massenwahn endender Bewegungen.
Übergriffiges Gebaren der Kollektivitäten
Erleben wir in den letzten Jahren aber nicht erneut ein zunehmend übergriffiges Gebaren der Kollektivitäten? Erleben wir nicht gerade, dass die politisch Herrschenden sich neben einer verschärften juristischen Kautelarpraxis durch Finanzierung sogenannter NGOs zusätzliche Agenten dieser Übergriffigkeit schaffen? Eine Übergriffigkeit, die – um es noch einmal mit den Worten von Albert Schweitzer zu sagen – «den modernen Menschen zum unfreien, zum ungesammelten, zum unselbständigen, zum unvollständigen, zum humanitätslosen Wesen» erziehen will.
Selbst das Einstehen für Frieden und gegen Kriegstreiberei wird inzwischen verunglimpft, weil es den Interessen bestimmter Gruppen und ideologischer Wirrköpfe zuwiderläuft. Schweitzers Prinzipien für ethisches Verhalten kommen in klaren, allgemeingültigen Sätzen wie «Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen» daher. Der so denkenden und handelnden «ethischen Persönlichkeit» begegnen nicht selten ein abschätziges Lächeln und ein Vorwurf der Naivität. Bei aller Hochschätzung seiner moralischen Autorität sah sich auch Albert Schweitzer damit konfrontiert:
«Es ist das Schicksal jeder Wahrheit, vor ihrer Anerkennung ein Gegenstand des Lächelns zu sein. […] Es kommt aber die Zeit, wo man staunen wird, dass die Menschheit so lange brauchte, um gedankenlose Schädigung von Leben als mit Ethik unvereinbar einzusehen.»
Entwicklung zur ethischen Persönlichkeit
Die Entwicklung zur ethischen Persönlichkeit ist für uns alle, die wir von anderen als humanitären Interessen im Tätigkeits-, Krisen- und Paniktaumel gehalten werden, die Herausforderung schlechthin. Wie gross diese Herausforderung ist, zeigt allein die Tatsache, dass der Mensch gut einhundert Jahre nach Schweitzers Überlegungen, nach lebensvernichtenden Diktaturen und Weltkriegen und trotz zwischenzeitlich scheinbaren Fortschritten immer noch vor dieser Herausforderung steht. Selbst in unserem Bildungssystem hat der frühe Erwerb digitaler Technikkompetenz und der durchgängige Erwerb berufsfachlicher Kompetenzen die Förderung der Entwicklung zu einer ethischen Persönlichkeit in ein Schattendasein verdrängt.
Es verwundert nicht, dass Schweitzer in vielen Text- und Redebeiträgen anlässlich seines 150. Geburtstags im Januar dieses Jahres auf seine zweifellos höchst anerkennenswerte Arbeit als «Urwaldarzt» im zentralafrikanischen Lambarene reduziert wird.
Der merkwürdige Alte mit Schnauzbart und Tropenhelm, Pfarrerssohn aus der elsässischen Provinz, gesegnet mit vielen Talenten für eine klassische Karriere, verschmähte das Parkett des vermeintlich zivilisierten Grossbürgertums und wurde zum Diener der Ärmsten im Herzen Afrikas.
Das gebietet höchsten Respekt – und bietet die Möglichkeit für einen verengten Blick auf die Person und ihr Lebenswerk.
In Zeiten wie der heutigen, wo der Bellizismus wieder einmal Hochkonjunktur hat, ist diese Reduzierung geradezu funktional. Jetzt nur keine störenden friedensethischen Argumente. Sie könnten das inhumane, ethisch absurde Treiben einflussreicher Kräfte gefährden, gerade weil diese Argumente bei Schweitzer mit einer ungewöhnlich klaren und verständlichen Sprache nachzulesen sind.
«Wahre Wahrheit versus Wahrheit der Propaganda»
«Und wie gross sind die Aufgaben, die der Geist in Angriff zu nehmen hat! Er soll wieder Verständnis für die wahre Wahrheit schaffen, wo nur noch die Wahrheit der Propaganda gilt.»
Es bleibt unvermindert wichtig, die Gedanken eines der grössten Humanisten deutscher und französischer Sprache, des Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer, lebendig zu halten.
* Rüdiger H. Jung (geboren 1950) ist Prof. (em.) Dr. rer. pol. für Management/Führung und Organisationsentwicklung am RheinAhrCampus in Remagen der Hochschule Koblenz. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer wissenschaftlicher Publikationen sowie Berater von Führungskräften in der Wirtschaft. Seit 2010 ist Jung ausgebildeter Logotherapeut und Existenzanalytiker. |
Quelle: https://www.nachdenkseiten.de/?p=135135, 27. Juni 2025
Alle wörtlichen Zitate entnommen aus Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie. Band I und II. München 2007 (Beck’sche Reihe)