Die Befreiung Afrikas von der Armut erfordert eine Änderung der Machtverhältnisse mit dem Westen

Ramzy Baroud (Bild zvg)

von Ramzy Baroud*

(16. Dezember 2022) Kurz nach meiner Ankunft in Oslo fuhr mein Taxi im Zickzackkurs durch die gut organisierten Strassen und die moderne Infrastruktur der Stadt. Grosse Reklametafeln warben für die weltweit führenden Mode-, Auto- und Parfümmarken. Inmitten all dieser Bilder von Reichtum und Überfluss zeigte eine elektronische Tafel an einer Bushaltestelle die Bilder von arm aussehenden afrikanischen Kindern, die Hilfe brauchten.

Im Laufe der Jahre hat sich Norwegen als relativ gutes Beispiel für sinnvolle humanitäre und medizinische Hilfe erwiesen. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu anderen eigennützigen westlichen Ländern, in denen die Hilfe oft mit direkten politischen und militärischen Interessen verbunden ist. Dennoch ist die öffentliche Demütigung des armen, hungernden und kranken Afrikas immer noch beunruhigend.

Die gleichen Bilder und Fernsehspots sind im Westen allgegenwärtig. Abgesehen vom tatsächlichen materiellen Wert solcher Wohltätigkeit tragen Kampagnen zur Unterstützung des armen Afrikas nicht nur zur Aufrechterhaltung eines Stereotyps bei, sondern verschleiern auch die eigentliche Verantwortung dafür, warum das an natürlichen Ressourcen reiche Afrika arm bleibt und warum die vermeintliche Grosszügigkeit des Westens über Jahrzehnte hinweg kaum zu einem Paradigmenwechsel in Bezug auf die wirtschaftliche Gesundheit und den Wohlstand des Kontinents beigetragen hat.

Die Nachrichten aus Afrika sind fast immer düster. Ein aktueller Bericht von «Save the Children»1 fasst die Misere Afrikas in alarmierenden Zahlen zusammen: 150 Millionen Kinder im östlichen und südlichen Afrika sind der doppelten Bedrohung durch bittere Armut und die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt. Das grösste Leid trifft die Kinder im Südsudan mit 87 Prozent, gefolgt von Mosambik (80 Prozent) und Madagaskar (73 Prozent).

Die schlechten Nachrichten aus Afrika, die in dem Save the Children-Bericht dargestellt werden, wurden kurz nach einem anderen Bericht – diesmal von der Weltbank –veröffentlicht,2 aus dem hervorgeht, dass die Hoffnung der internationalen Gemeinschaft, die extreme Armut bis 2030 zu beenden, nicht erfüllt werden wird.

Folglich werden bis 2030 etwa 574 Millionen Menschen, schätzungsweise 7 Prozent der Weltbevölkerung, weiterhin in extremer Armut leben und mit etwa zwei Dollar pro Tag auskommen müssen.

Das südlich der Sahara liegende Afrika ist derzeit Epizentrum der globalen extremen Armut. Die Quote extremer Armut in dieser Region liegt bei etwa 35 Prozent, was 60 Prozent der gesamten extremen Armut in der Welt entspricht.

Die Weltbank geht davon aus, dass die COVID-19-Pandemie3 und der Krieg zwischen Russland und der Ukraine die Hauptursachen für diese düsteren Schätzungen sind.

Auch die weltweit steigende Inflation4 und das langsame Wachstum der grossen Volkswirtschaften in Asien sind Schuldige.

Was uns diese Berichte jedoch nicht sagen und was die Bilder hungernder afrikanischer Kinder nicht vermitteln, ist, dass ein Grossteil der Armut in Afrika mit der anhaltenden Ausbeutung des Kontinents durch seine ehemaligen – oder aktuellen – Kolonialherren zusammenhängt.

Damit soll nicht gesagt werden, dass die afrikanischen Nationen keinen eigenen Einfluss5 auf ihre sich verschlechternde Situation haben oder gegen Intervention und Ausbeutung vorgehen können. Ohne eine geschlossene Front und eine grundlegende Veränderung der globalen geopolitischen Gleichgewichte ist es nicht leicht, sich gegen den Neokolonialismus zu wehren.

Der Russland-Ukraine-Krieg und die globale Rivalität zwischen Russland und China auf der einen und den westlichen Ländern auf der anderen Seite haben einige afrikanische Führer ermutigt, sich gegen die Ausbeutung Afrikas und seiner Nutzung als politisches Futter für globale Konflikte auszusprechen. Die Nahrungsmittelkrise stand im Mittelpunkt dieses Kampfes.

Ende Oktober, auf dem Internationalen Forum für Frieden und Sicherheit in Dakar6 widersetzten sich einige afrikanische Staats- und Regierungschefs dem Druck westlicher Diplomaten, sich dem Westen in Bezug auf den Krieg in der Ukraine anzuschliessen.

Ironischerweise forderte die französische Staatsministerin Chrysoula Zacharopoulou «Solidarität von Afrika» und behauptete, dass Russland eine «existenzielle Bedrohung» für Europa darstelle.

Obwohl Frankreich nach wie vor die Währungen und damit die Volkswirtschaften von 14 afrikanischen Ländern – hauptsächlich in Westafrika – kontrolliert, erklärte Zacharopoulou, dass «Russland allein für diese Wirtschafts-, Energie- und Nahrungsmittelkrise verantwortlich ist».

Der Präsident des Senegal, Macky Sall, war einer von mehreren afrikanischen Staatsoberhäuptern und Spitzendiplomaten, die diese verlogene und polarisierende Sprache in Frage stellten.

«Wir schreiben das Jahr 2022, wir sind nicht mehr in der Kolonialzeit […]. Länder, auch wenn sie arm sind, haben die gleiche Würde. Ihre Probleme müssen mit Respekt behandelt werden», sagte er.

Es ist dieser begehrte «Respekt» des Westens, an dem es Afrika mangelt. Die USA und Europa erwarten einfach, dass die afrikanischen Nationen ihre neutrale Haltung zu globalen Konflikten aufgeben und sich dem fortgesetzten Feldzug des Westens um die globale Vorherrschaft anschliessen.

Aber warum sollte Afrika, einer der reichsten und am meisten ausgebeuteten Kontinente, dem Diktat des Westens gehorchen?

Die Unaufrichtigkeit des Westens ist eklatant. Die Doppelmoral des Westens ist auch den afrikanischen Führern nicht entgangen, darunter dem ehemaligen nigerianischen Präsidenten Mahamadou Issoufou. «Für die Afrikaner ist es schockierend zu sehen, wie viele Milliarden auf die Ukraine niederprasseln, während die Aufmerksamkeit von der Situation in der Sahelzone abgelenkt wird», sagte er in Dakar.

Wenn man den politischen Diskurs verfolgt, der von afrikanischen Führern und Intellektuellen ausgeht, kann man hoffen, dass der vermeintlich «arme» Kontinent sich aus der Umklammerung der westlichen Vorherrschaft befreien wird. Allerdings müssten viele Variablen zu ihren Gunsten wirken, um dies zu erreichen.

Allein der vorhandene Reichtum Afrikas kann das weltweite Wachstum noch viele Jahre lang ankurbeln. Aber die Nutzniesser dieses Reichtums sollten die Söhne und Töchter Afrikas sein und nicht die tiefen Taschen der wohlhabenden Schichten des Westens. Es ist in der Tat an der Zeit, dass Afrikas Kinder in Europa nicht mehr als Almosenempfänger präsentiert werden, eine Vorstellung, die zu den seit langem verzerrten Machtverhältnissen zwischen Afrika und dem Westen beiträgt.

*  Ramzy Baroud ist Journalist und Herausgeber des Palestine Chronicle. Er ist Autor von fünf Büchern. Sein neuestes ist «These Chains Will Be Broken: Palestinian Stories of Struggle and Defiance in Israeli Prisons» [Diese Ketten werden zerbrochen werden: Palästinensische Geschichten von Kampf und Widerstand in israelischen Gefängnissen] (Clarity Press, Atlanta). Dr. Baroud ist Non-Resident Senior Research Fellow am Center for Islam and Global Affairs (CIGA) der Istanbul Zaim University. Seine Website ist www.ramzybaroud.net.

Quelle: https://www.counterpunch.org/2022/11/21/liberating-africa-from-poverty-requires-changing-power-relations-with-the-west, 21. November 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.aa.com.tr/en/africa/over-150m-children-in-africa-gripped-by-poverty-climate-disaster-report/2722909, 28. Oktober 2022

2 https://www.reuters.com/world/africa/world-bank-says-goal-ending-extreme-poverty-by-2030-wont-be-met-2022-10-05, 5. Oktober 2022

3 https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(22)00730-7/fulltext, 1. November 2022

4 https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2022/10/04/african-governments-urgently-need-to-restore-macro-economic-stability-and-protect-the-poor-in-a-context-of-slow-growth, 4. Oktober 2022

5 https://allafrica.com/stories/202210090072.html, 8. Oktober 2022

6 https://www.france24.com/en/live-news/20221027-war-in-ukraine-strains-ties-between-africa-and-west, 27. Oktober 2022

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