Die dunkle Seite des Appells an die Verantwortung

von Antoine-Frédéric Bernhard,* Schweiz

(29. August 2023) Sich impfen lassen? Ein Akt der «Verantwortung»! Genauso wie den Thermostat auf 19 Grad zu senken, nicht mehr zu fliegen oder seinen Fleischkonsum zu reduzieren. Die heute allgegenwärtige Rhetorik, die an die Verantwortung appelliert, hat eine dunkle Seite.

Der Liberalismus hat immer auf der Grundlage von Freiheit und Verantwortung funktioniert. Wir erinnern uns an den Kultspruch, der durch die Spiderman-Filme der Marvel-Studios populär wurde: «Grosse Macht bedeutet grosse Verantwortung». Freiheit ist zweifellos eine grosse Macht: die Macht, «zu tun, was man will». Wenn man sie unkontrolliert ausnutzt, kann sie sich zum Nachteil entwickeln. Daher die Bedeutung der Verantwortung, verstanden als eine freiwillige Einschränkung der eigenen Freiheit in bestimmten Situationen. Verantwortung setzt also Freiheit voraus. Ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung. Man kann die eine nicht abschaffen, ohne die andere abzuschaffen.

Der tägliche Gebrauch des Begriffs «Verantwortungslosigkeit» in den Medien zur Bezeichnung einer ganzen Reihe von Verhaltensweisen zeigt die grosse symbolische Bedeutung des Begriffs in unseren Köpfen. Als verantwortungslos bezeichnet zu werden, ist äusserst unangenehm und beleidigend. Das haben die politischen Kommunikationsexperten sehr gut verstanden. Der Appell an die Verantwortung und die Anklage wegen Verantwortungslosigkeit gehören heute zu den beliebtesten Sprachelementen der regierenden Kräfte.

Covid, Energie, Klima ...

Die Covid-Krise ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel. Obwohl die Politik und die Massnahmen manchmal chaotisch und widersprüchlich waren, war der Ruf nach Verantwortung in der Kommunikation der Regierung während der Krise allgegenwärtig. Das Schweizer Beispiel ist keine Ausnahme. Als Gesundheitsminister Alain Berset am 20. März 2020 einen Teil-Lockdown verordnete, appellierte er an die Verantwortung der Schweizer. Im Februar 2022, als alle Beschränkungen schrittweise aufgehoben wurden, machte sein Nachfolger im Amt des Bundespräsidenten, Ignazio Cassis, eine philosophisch-literarische Bemerkung: «Das Licht ist wirklich da am Horizont […] Doch mehr Freiheit bedeutet auch mehr Verantwortung.»

Im Februar 2022 beschloss Russland, die Ukraine anzugreifen. Europa entschied sich als Reaktion darauf, ohne russisches Gas auszukommen. Um der drohenden Energieknappheit im Winter 2022–2023, die zum Teil auf diese Wirtschaftssanktion zurückzuführen war, zuvorzukommen, wurde eine neue Version des Appells an die Verantwortung entwickelt: Es sei «unverantwortlich», sein Haus auf über 19 Grad zu heizen oder zu viele Glühbirnen brennen zu lassen. Aus denselben Gründen hielt es Bundesrätin Simonetta Sommaruga für angebracht, das Duschen zu zweit zu empfehlen.

Im Jahr 2023 wird in Frankreich das gleiche Vorgehen mit dem Trinkwasser wiederholt. So titelte beispielsweise «Le Parisien» am 28. Mai aufgrund der Äusserungen des französischen Ministers für den ökologischen Wandel: «Schwimmbäder: Ist es wirklich verantwortungslos, ein Becken zu haben?» Generell wird die gesamte Klima- und Umweltproblematik durch die Brille der Unverantwortlichkeit betrachtet. Wenn man sich Umweltschützern in irgendeinem Punkt ihres Programms widersetzt, wird man wegen Verantwortungslosigkeit verklagt.

Das Ende der Verantwortung

An die Verantwortung zu appellieren, ist keineswegs unsinnig. Den Menschen die Freiheit zu lassen, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu tragen, ist das Gegenteil von Bevormundung und schützt die Gesellschaft vor den autoritären Bestrebungen des Staates.

Nur dient die Rhetorik der Verantwortung, wie sie heute bemüht wird, meist dazu, die Umsetzung von tendenziell autoritären und freiheitsbeschränkenden Massnahmen zu begleiten oder zu rechtfertigen. Es heisst nicht mehr «Seid verantwortlich», sondern vielmehr «Seid verantwortlich, sonst werden wir gezwungen sein, euch zur Verantwortung zu zwingen». Das ist die neue Version des Thatcher'schen TINA (There Is No Alternative). Kurz gesagt, der Appell an die Verantwortung hat sich in eine besonders offensive Form der politischen Korrektheit verwandelt, wenn man darunter versteht, dass es gelingt, bestimmte Meinungen oder Handlungen von vornherein zu diskreditieren.

Autoritäre Massnahmen und Verantwortung sind inkompatibel. Erstere schränken die Ausübung der Freiheit ein oder verhindern sie sogar, was die Voraussetzung für letztere ist. Verantwortung bedeutet heute in der Tat oft, sich dem aktuellen politischen Willen anzupassen. Wenn man uns sagt, dass wir zukünftig aus Verantwortung vielleicht die Erfassung unseres «CO2-Fussabdrucks» akzeptieren müssen, deren Ergebnis einige unserer Freiheiten einschränken kann, wie zum Beispiel die Freiheit, Flugreisen zu unternehmen, ist die Unredlichkeit offensichtlich. Es geht nicht um Verantwortung, sondern darum, die Freiheit einzuschränken.

Es ist nicht verboten, von einer solchen Gesellschaft zu träumen. Unehrlich ist es jedoch, sie durch eine zunehmende Betonung des Appells an die Verantwortung vorzubereiten, wodurch die wahre Natur einer Überwachungsgesellschaft verschleiert wird. Wenn jedes Verhalten reglementiert wird und möglicherweise eine Belohnung oder aber eine Retorsionsmassnahme hervorruft, verwandelt sich der Staat in eine Art Elternteil, der die Bürger nicht als mündige Individuen, sondern als zu erziehende Kinder behandelt.

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Am 5. Juni dieses Jahres kündigte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, den Start eines Projekts für einen globalen Impfpass an, der auf der Technologie des während der Pandemie eingesetzten Covid-Passes der Europäischen Union (EU) basiert. In einem Artikel von TF1info wird die Idee hinter dem Programm erläutert: «Die Erfahrungen der EU, die während der Pandemie einen europäischen Gesundheitspass entwickelt hat, sollen genutzt werden, um ein ähnliches Instrument diesmal weltweit einzuführen».

Anzumerken ist, dass seit der Einführung von Impfpass-Systemen zur Bekämpfung von Covid-19 viele Stimmen laut wurden, die das Risiko einer Verallgemeinerung dieses Instruments auf andere Krankheiten und in anderen Zusammenhängen anprangerten. Diese Stimmen wurden zweckmässigerweise disqualifiziert und des Konspirationismus bezichtigt. Folgt daraus, dass Verschwörungstheorien die Stimme der Vernunft sind? Ganz bestimmt nicht!

Vielmehr offenbart der Kampf gegen das Verschwörungsdenken hier seine dunkle Seite: eine andere Form der politischen Korrektheit, die im Namen der Verteidigung der Wahrheit dazu führt, dass bestimmte Positionen von vornherein diskreditiert werden und die Grundlagen einer fundierten Debatte untergraben werden.

* Antoine-Frédéric Bernhard ist freier Journalist, Musiker, Student der Philosophie und französischen Literatur und stellvertretender Chefredakteur von «Le Regard Libre». Kontakt: antoine.bernhard@leregardlibre.com

Quelle: https://leregardlibre.com/politique/la-face-sombre-de-lappel-a-la-responsabilite/, 28. Juli 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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