«Die Jugend ist ganz anders»

«Stabilität und Sicherheit sind für 2/3 der Jugend wichtig.»
(Bild Keystone/AP Photo/Thomas Kienzle)

Zur deutsch-österreichischen Jugendwertestudie von 2021

von Marita Brune-Koch

(5. November 2021) Heutzutage wird die «Jugend» oft mit der «Klimajugend» gleichgesetzt. Dies impliziert, dass die Jugend heute «grün» sei und sich im Rahmen von «Fridays for Future», Greenpeace, Tierschutz und ähnlichen Organisationen organisiere oder sich damit identifiziere. Dem ist jedoch keineswegs so. Der grösste Teil der Jugend «tickt» ganz anders. Das hat eine Studie des österreichischen Sozialwissenschaftlers Professor Bernhard Heinzlmaier* gezeigt, die er Anfang des Jahres 2021 vorlegte.

Der deutsche Publizist Markus Langemann hat Prof. Heinzlmaier am 8. Mai 2021 in seiner Sendung «Club der klaren Worte»1 zu dieser «Jugendwertestudie» interviewt. Der vorliegende Artikel gibt zentrale Aussagen aus diesem Interview wieder und setzt sie zu aktuellen Entwicklungen in Beziehung.

Anlässlich der Corona bedingten Einschränkungen hat Prof. Bernhard Heinzlmaier das Befinden der Jugend in Österreich und Deutschland untersucht und dazu jeweils 1000 junge Menschen zwischen 16 und 29 Jahren in beiden Ländern befragt. Sein Ergebnis: «Wir haben in dieser Altersgruppe so etwas wie eine beginnende Repräsentationskrise des Staates und der jungen Menschen. […] Man vertraut der Regierung nicht mehr, aber auch die Opposition stellt keine Alternative dar, der vertraut man auch nicht.» Schon vor der Corona-Krise sei die Akzeptanz der Regierung nicht gross gewesen, dieses Problem habe sich durch die Corona-Politik noch verstärkt. Prof. Heinzlmaier erläutert:

«Das Wichtigste, was man aus dieser Studie ableiten kann ist, dass man beim Krisenmanagement einfach nur den medizinischen Aspekt ins Zentrum gestellt hat. Zunächst hat man die Krise als eine medizinische Krise interpretiert, die mit den Mitteln der Medizin zu lösen ist. Das ist eine zu enge Sichtweise. Was man nicht beachtet hat, sind die ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen. Und das ist auch der Grund, warum sich die Jungen so schlecht mit der Politik und dem Coronamanagement identifizieren können, weil 70% von ihnen das Gefühl haben, dass sich die Politik nicht um ihr Leben kümmert, sich nicht kümmert um die Auswirkungen, die zum Beispiel Lockdowns und Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten für ihr Leben haben.

Man beschwert sich darüber, dass man zu rigoros Schulen und Universitäten geschlossen hat, dass der Mensch auch in einer Pandemie kulturelle Bedürfnisse hat und man beschwert sich nicht zuletzt darüber, dass sich die Politik zu wenig damit auseinandersetzt, was das für wirtschaftliche Folgen haben könnte und was das dann für die persönliche Stellung am Arbeitsmarkt bedeutet und was das auch in Hinblick auf den Wert der Ausbildung hat, die man gerade absolviert, da sieht man sich von der Politik zu wenig vertreten und zu wenig berücksichtigt.»

Hierbei sei der Anteil der deutschen Jugendlichen, die der Regierung nicht vertrauen und ihr kritisch gegenüberstehen, geringer als der der österreichischen Jugend.

*Bernhard Heinzlmaier wurde 1960 in Wien geboren. Nach Abschluss der Handelsakademie studierte er Geschichte, Germanistik, Philosophie, Pädagogik und Psychologie an der Universität Wien und erlangte 1987 den Magister der Philosophie. Nach seinem Studium war Bernhard Heinzlmaier von 1988 bis 2000 wissenschaftlicher Leiter und später Geschäftsführer des Österreichischen Instituts für Jugendforschung (ÖIJ). 1997 gründete er die T-Factory Trendagentur Markt- und Meinungsforschung GmbH mit Standorten in Wien und Hamburg. Als Geschäftsführer der T-Factory Trendagentur, die auf die Lebenswelten junger Zielgruppen spezialisiert ist, berät Bernhard Heinzlmaier nationale und internationale Unternehmen. Seit 2003 ist er Vorstandsvorsitzender des Österreichischen Institutes für Jugendkulturforschung (jugendkultur.at) und seit dem Gründungsjahr 2007 Mitglied des Vereins jugendkulturforschung.de e.V., der auf praxisorientierte nicht-kommerzielle Jugendforschung spezialisiert ist.
Professor Heinzlmaier stellt sich im Interview folgendermassen vor: «Es gehört dazu, dass man offenlegt, aus welcher politischen Ecke man kommt, das gibt dem Rezipienten die Möglichkeit, das richtig einzuordnen. Es kann keiner völlig an seiner eigenen Einstellung vorbei Sozialforschung betreiben. Das fliesst immer ein. Man muss sich immer um Neutralität bemühen, aber man kann sich auch nicht weltanschaulich völlig von dem, was man tut, abkoppeln. Also um das offen zu legen, ich bin seit 1983 Mitglied in der Sozialdemokratischen Partei in Österreich und bin, wenn ich da ein bissel tiefer reingehe, hochidentifiziert mit der Politik des burgenländischen Landeshauptmanns Hans Peter Doskozil, der ja eher eine pragmatische Strömung repräsentiert, die darauf ausgerichtet ist, sich an der Kernzielgruppe der sozialdemokratischen Partei auszurichten und das wären für ihn die Unter- und Mittelschichten.»

Sorgt die Politik für Rahmenbedingungen, die mir nach der Ausbildung
einen Arbeitsplatz garantieren?
(Bild KEYSTONE/mauritius images/RUPERT OBERHAEUSER)

Unter- und Mittelschicht regierungskritisch, Oberschicht regierungskonform

Ausserordentlich bedeutsam erscheint uns das zentrale Ergebnis dieser Studie, «dass eher die unteren sozialen Schichten und die Mittelschichten gegen die Regierung protestieren, sich gegen die Regierung auflehnen, die unzufrieden sind, die die Coronapolitik kritisieren. […] Das obere Gesellschaftsdrittel ist in hohem Ausmass mit der Regierung identifiziert und hat Freude darüber, wenn die Regierung den «Mob», wie sie das nennen, also die Unter- und Mittelschicht, wenn sie die unter Kontrolle bringt. Das ist ein absolut neues Phänomen. Wenn wir den Vergleich mit der 1968er-Zeit ziehen, dann war es bei der 1968er-Bewegung das obere Gesellschaftsdrittel, also die Kinder der Eliten, die auf der Strasse waren und das System in Frage gestellt haben, und Mittelschicht und Unterschicht waren auf der Seite des Systems und haben gesagt, schafft uns diese langhaarigen Randalierer vom Hals. Das hat sich komplett gewendet.

Das obere Gesellschaftsdrittel ist auf Seiten der Regierung und mehr oder weniger glücklich darüber, wenn hier konsequent vorgegangen wird und auch wenig kritisch, wenn’s um Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte geht. Da ist man positiv und sagt, ja, da gehört sich jetzt durchgegriffen. Während die Mittel- und Unterschicht eher skeptisch und kritisch ist. Dies ist insofern auch zu verstehen, weil die Mittel- und Unterschicht diejenigen sein werden, die am Ende die Zeche zu bezahlen haben. Auf deren Rücken wird die Sanierung der Staatshaushalte, die jetzt überspannt werden, stattfinden.»

Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Bewegung der Klimajugend – Stichwort «Fridays for Future» – sei regierungskritisch, schliesslich gehen die Jugendlichen auf die Strasse. Aber die Realität stellt sich laut Studie ganz anders dar.

Heinzlmaier erklärt: «‹Fridays for Future› ist eine Bewegung, die aus dem oberen Gesellschaftsdrittel kommt, das heisst eine Bewegung der Bildungsjugend, der Jugend aus den sozial gehobenen Schichten. Das ist in Hamburg die Jugend aus dem Stadtteil Blankenese, das sind die jungen Menschen, die ein Gymnasium besuchen, die eine Privathochschule besuchen, man hat es mit der besseren Gesellschaft zu tun.

Die Jugendlichen der besseren Gesellschaft führen uns eine angepasste Bewegung vor, da wird ja auf alles eingegangen, man trägt Masken, man hält Abstand, man ist adrett gekleidet, man hat schön gemalte Schilder, und meistens geht man noch gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern zur Demonstration. Das heisst, das, was hier gemacht wird, ist keine Revolte gegen das System, sondern die grosse Mehrheit möchte das System verbessern, schöner machen, das ist keine soziale Revolution, sondern das ist vielfach eine ästhetische Revolution und auch eine sehr idealistische Revolution, eine Bewegung, würde ich sagen, des Pubertätsidealismus.»

Klimapolitik haben sich alle etablierten Parteien auf die Fahnen geschrieben, die Klimajugend wird beklatscht und bejubelt. Greta Thunberg darf in der UNO reden und wird vom Papst empfangen. Vor kurzem fand in Mailand ein Klimajugendgipfel statt, an dem Greta Thunberg mal wieder alle Politiker beschimpfen durfte und dafür in vielen Medien breites Gehör fand. Die Ergebnisse dieses «Gipfels» sollen einem Ministertreffen vorgelegt werden.2 Diese «Bewegung» wird also ganz offensichtlich breit gefördert, auch finanziell; wie sonst könnte man sich einen Kongress in Mailand leisten? Eine regierungskritische Bewegung sieht wohl anders aus.

Aber den Inhalten dieser Bewegung neigt, entgegen allem Mediengetöse, nur ein Drittel der Jugend zu. Heinzlmaier spricht von einer «Spaltung der Gesellschaft in ein oberes Gesellschaftsdrittel und in die unteren zwei Drittel. Man steht sich verständnislos gegenüber.

Die ‹unten› verstehen die ‹oben› nicht und die ‹oben› verstehen die ‹unten› nicht. Bei den ‹Oberen› ist die Problematik, dass von dort aus – um eine eher linke Terminologie zu benutzen – ein Klassenkampf von oben geführt wird. Das heisst, dass das obere Gesellschaftsdrittel – das auch in der Klimabewegung engagiert ist, wo die Anteile der grünen Wählerschaft sehr gross sind – tatsächlich der Auffassung ist, dass die ‹da unten› zu blöd sind, um dieses Klimaproblem zu verstehen, und dass sie vom Staat geführt werden müssen, streng geführt werden müssen, damit wir die Welt retten und aus dieser Klimakrise herauskommen können. Das heisst, das ist ein relativ respektloser Umgang mit diesen Menschen.

Wenn jemand Pendler aus den unteren sozialen Schichten ist und täglich mit einem Diesel-Wagen seinen Weg zum Arbeitsort zurücklegt, dann wird ihm signalisiert, dass er ein Vollidiot sei. Das führt dann dazu, dass von dieser Seite Ressentiments geschürt werden und so gibt es kaum noch einen Weg der Verständigung zwischen diesen beiden Gruppen.»

Der Unmut kommt zum Ausdruck – vorerst undeutlich artikuliert

Sie erinnern sich sicher an die sogenannten Krawallnächte während der Corona-Lockdowns in Deutschland, z.B. in Stuttgart. Die Medien und die Politik standen damals fassungs- und ratlos vor diesen Vorgängen und konnten sie nicht einordnen. «Die Leute können es sich selber nicht erklären» titelte die Süddeutsche Zeitung.3

Heinzlmaier zieht aus den Ergebnissen seiner Studie folgenden Schluss: «Die, die als Party-Jugend apostrophiert sind, das sind die Jugendlichen, die das Gefühl haben, es geht nicht mehr um mich in diesem Staat und in dieser Gesellschaft. Um mich kümmert sich niemand. Und das führt auch dazu, dass Aggressionen entwickelt werden und das Bedürfnis sich zu äussern und denen da oben mal zu sagen: ‹Hallo, wir sind auch noch da, so lassen wir nicht mit uns umspringen.›

Das heisst, die Repräsentationskrise der Politik hat letztendlich die Konsequenz, wenn sich die Leute da unten und in der Mitte von der Politik nicht mehr repräsentiert fühlen, dann verlagert sich der Raum oder der Ort der politischen Auseinandersetzung vom repräsentativen System auf die Strasse. Und was wir in den nächsten 10 bis 15 Jahren sicher sehen werden, das werden ähnliche Verhältnisse sein, wie wir sie aus Frankreich kennen – zum Beispiel die Gelbwestenbewegung –, wo es ganz ähnliche Gründe dafür gibt, dass sie so aufgetreten ist, wie wir es in Erinnerung haben. Diese Leute werden ihren Unmut auf die Strasse tragen, dort zeigen, dass sie mit dem, was hier in diesem Land passiert, nicht einverstanden sind.»

Die Jugend will Stabilität, Sicherheit, Kontinuität

Etwas, was man aufgrund der Medienberichterstattung überhaupt nicht denken würde, ist, dass sich der grösste Teil der Jugend an traditionellen Werten orientiert. Dazu sagt Heinzlmaier: «Ich glaube, man kann es so auf den Punkt bringen: Das obere Gesellschaftsdrittel geht nach links, und die Mitte und die untere Gesellschaftsschicht gehen nach rechts. Das hat jetzt nichts mit linksradikal und rechtsradikal zu tun, sondern ich würde eher sagen, das obere Gesellschaftsdrittel ist linksdemokratisch, dass untere ist rechtsdemokratisch.

Wenn sich die Gesellschaft nach rechts orientiert, bedeutet dies, dass traditionelle Werte wieder an Bedeutung gewinnen. Dann geht es um Ordnung und Sparsamkeit, das sind wieder diese alten traditionellen Werte, die wieder hoch geschätzt werden. Sauberkeit spielt wieder eine Rolle, es geht wieder um Stabilität in der Gesellschaft, dass jeder seinen Platz hat, und es gibt eine Renaissance der traditionellen Symbole. Trachten und Volkskultur sind wieder angesagt.

Was sich hier zeigt, ist das grosse Bedürfnis der jungen Menschen nach Stabilität, Sicherheit und Kontinuität. Sicherheit bedeutet, dass man auch in drei Wochen und in zwei Monaten und in drei Jahren noch seinen jetzigen Arbeitsplatz hat, noch in der Wohnung weilt, die man gemietet hat, dass man nicht ständig befürchten muss, die Arbeit zu verlieren, die Wohnung zu verlieren, wieder von vorne anfangen zu müssen, sich wieder neu erfinden zu müssen.

Dies wird ja heute euphorisch kommuniziert, dass es ganz toll sei, wenn man sich wieder neu erfindet. Die Leute wollen sich aber nicht neu erfinden – sie wünschen sich ein kontinuierliches Leben in Sicherheit und Stabilität. Um das zu erreichen, streben sie wieder traditionelle Werte an. Wir sprechen in der Soziologie vom ‹Regrounding›, das heisst, die jungen Menschen wollen wieder festen Boden unter den Füssen haben, und diesen festen Grund, den bieten traditionelle Werte, auf die man sich beziehen kann.»

Arbeit mit dem Laptop am Strand erledigen? Bei 70–75% aller Jobs
unmöglich. (Bild KEYSTONE/WESTEND61/zerocreatives)

Das medial erzeugte Narrativ vom «digitalen Nomaden»

Der Interviewer Markus Langemann setzt diesen Ausführungen Heinzlmaiers das Narrativ vom «jungen urbanen Menschen», der als «digitaler Nomade» irgendwo «am Strand sitzt und dort grosses Geld verdient» entgegen.

Dieser Herausforderung entgegnet Bernhard Heinzlmaier mit Fakten: «Wir wissen zum Beispiel, dass nur 25 bis 30 Prozent der Jobs, die es in der Bundesrepublik Deutschland gibt, homeofficefähig sind. Das, was Sie beschreiben, betrifft nur eine kleine Minderheit von Menschen, für die so ein Leben möglich ist. Für Menschen, die in einem Pflegeberuf arbeiten, die im Einzelhandel arbeiten, die in der Bauwirtschaft arbeiten, ist das unmöglich. Menschen, die es nicht mit abstrakter Arbeit zu tun haben, die es nicht mit Kommunikation zu tun haben, sondern die konkret zupacken müssen, für die Leute existiert diese Welt überhaupt nicht. Das ist für mich auch ein deutlicher Grund für die Spaltung der Gesellschaft.

Dieses Narrativ, das Sie jetzt angesprochen haben – dass es bald keine Büros mehr gibt, dass die Mobilität extrem wird, dass man mit dem eigenen Laptop in Shorts am Strand sitzt und dort seine Arbeit erledigen kann – das ist eine ‹Erzählung› des oberen Gesellschaftsdrittels. Die unteren haben Arbeiten zu erledigen und haben auch eine Arbeitskultur, die mit dem absolut nicht kompatibel ist und die mit diesen Botschaften nichts anfangen können. Sie werden von diesen Botschaften nicht einmal berührt, weil dass mit ihrer Lebensrealität einfach nichts zu tun hat.»

«Wahrnehmung der Eliten ist in Schieflage»

Dieses Narrativ, so Heinzlmaier weiter, hätten die Medien erfunden, weil sie «komplett in der Hand der Menschen aus dem oberen Gesellschaftsdrittel sind. Die Medien werden heute von den Privilegierten geführt. Und es ist auch wenig verwunderlich, dass die einfach ihre Probleme referieren. Das Problem, das ich sehe, ist nur, dass dieses obere Gesellschaftsdrittel der Auffassung ist […], dass ihre Welt die ganze Welt ist. Da ist also etwas in der Wahrnehmung dieser ‹Eliten›, das in Schieflage geraten ist. Sie erkennen nicht mehr, dass es eine zweite Welt gibt, die mit ihrer Welt nichts mehr zu tun hat.»

Die Medien würden die Welt nicht so abbilden, wie sie ist, sondern wie sie sie sehen oder gerne hätten. Das läge nicht an einer Verschwörung der Medienschaffenden, sondern sei schlicht der Tatsache geschuldet, dass sie selbst dieser Schicht des oberen Drittels angehören «und tatsächlich die Welt so sehen».

Heinzlmaier hebt weiter hervor, dass er als Soziologe und Jugendforscher noch nie einen derart starken Bruch innerhalb der Jugend erlebt habe. Es sehe so aus, dass bis in die 1970er-Jahre «stärker Politik im Interesse der unteren sozialen Schichten gemacht wurde, dass es für diese Schichten Empathie gab, dass man sich stärker darum bemühte, die Interessen dieser normalen Bevölkerung zu berücksichtigen. Das ist heute nicht mehr der Fall.»

Heinzlmaier beschreibt die Aversion der Eliten gegen die unteren Schichten in drastischen Worten: «Die Oberen machen ihr Ding und die unteren sind ihnen hinderlich, sind ihnen peinlich, sie sind ihnen kulturell fremd, man ist irgendwo auch ein bissel angeekelt von denen […], das heisst, wir haben ein versnobtes oberes Gesellschaftsdrittel, das mit den ‹einfachen› und ‹bildungsfernen› Menschen nichts mehr anfangen kann und das mit denen auch nichts mehr zu tun haben will – und der Auffassung ist, dass sie von der Regierung streng und straff geführt werden müssen.»

Infolgedessen habe sich zwischen den gesellschaftlichen Gruppen eine massive und undurchlässige Isolationsschicht gebildet, so dass «wirklich ein extremer Bruch entstanden ist.» Heinzlmaier prognostiziert, dass irgendwann auf irgendeine Weises die untere und die Mittelschicht sich Gehör verschaffen werden: «Jetzt ist es noch so, dass diese Mittel- und Unterschichten noch betreten und betroffen schweigen, weil sie sich zu schwach fühlen, aber wenn dieser Unterschied weiterhin zugespitzt wird, muss es irgendwann einmal zu einer Explosion kommen oder zumindest zu irgendwelcher Entwicklung, wo sich diese extreme Vernachlässigung der normalen Menschen irgendwo Bahn bricht und zu irgendwelchen Aktivitäten führt.»

Die Medien schaffen sich die Welt, die sie wollen

Diese Studie ist derart bedeutsam und stellt so vieles auf den Kopf, was üblicherweise kommuniziert wird, dass es eigentlich zu einem Sturm in der Medienwelt kommen müsste. Aber nichts ist zu spüren. Wenn man nicht gezielt danach sucht und auf das Thema zugespitzt ist, stösst man nicht auf diese Studie.

Heinzlmaier ordnet dieses Schweigen folgendermassen ein: «Diese Leute, die dort sitzen, sind der Auffassung, dass Sprache Wirklichkeit schafft, deshalb sprechen sie die Sprache, die die Wirklichkeit schafft, die sie gerne hätten, die sie sich vorstellen. Sie glauben daran. Deswegen ist es für sie nicht vernünftig, andere Szenarien in ihre Kommunikation einzubeziehen.

Wenn ich heute eine Studie vorlege, in der ich sehe, dass es eine Retraditionalisierung in den Werten der jungen Menschen gibt, dass man wieder stärker auf Sicherheit ausgerichtet ist, dass es wieder um Ordnung und Sparsamkeit und Sauberkeit geht, dass man sich wieder auf ökonomische Stabilität ausrichten möchte, dann ist das nicht die Welt, die diese Menschen wollen. Sie fühlen sich davon bedroht und um es unter Kontrolle zu kriegen, versucht man es einfach auszuklammern.

Man versucht es auszuschliessen, indem man nicht darüber spricht, um so die eigenen Vorstellungen und Ideologien von der Welt weiterhin ständig auf die ganze Hörerschaft und Seherschaft ausbreiten zu können. […] Man will nicht akzeptieren, dass die Welt so ist wie sie ist, sondern man möchte eine Welt, die nur den eigenen Vorstellungen entspricht.»

Wir sind Markus Langemann sehr dankbar dafür, Prof. Bernhard Heinzlmaier interviewt zu haben.

1 https://clubderklarenworte.de/jugendwertestudie-2021/ oder https://www.youtube.com/watch?v=lkykd5PW-qM

2 siehe Tages-Anzeiger (CH) vom 29.9.2021

3 Süddeutsche Zeitung vom 20. Juni 2021. «Krawalle in der Pandemie: ‹Die Leute können es sich selber nicht erklären›». https://www.sueddeutsche.de/politik/krawallnacht-in-stuttgart-alkohol-corona-1.5326697

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