Digitaler Horror im Kinderzimmer – wie lange noch ungeschützt?

ISBN 978-3-453-21853-6

Kommt die Kehrtwende im Kinder- und Jugendschutz?

von Robert Tauschke*

(22. August 2023) Nach neuen Untersuchungen zur bisher mehr oder weniger unkontrollierten Digitalisierung im Kinder- und Jugendbereich, sowie ersten konsequenten staatlichen Massnahmen im Ausland, sind die Weichen für eine Wende auch im deutschsprachigen Raum gestellt. Die katastrophalen Folgen des Medienkonsums im «Kinderzimmer» werden immer deutlicher.

Einer überlegten Bildungspolitik und eines durchdachten Kinder- und Jugendschutzes standen bisher die Euphorie des digitalen Aufbruchs und dessen Gewinnaussichten entgegen. Nun können Bildungspolitik sowie Kinder- und Jugendschutz endlich über wirksame Gegenmassnahmen nachdenken. Ein «Weiter-so» kann es nicht mehr geben. Die Nachrichten aus den vergangenen Monaten bieten dazu Anlass. Findet die dringend notwendige Kehrtwende im Kinder- und Jugendschutz jetzt endlich statt?

Die Unesco empfiehlt in ihrem jüngsten Bericht, «Global education monitoring Report 2023», eine Regulierung des Handygebrauchs in den Schulen,1 damit macht diese UN-Organisation eine Kehrtwendung von ihrer bisherigen laissez-faire-Politik.2 «Smartphones sollten aus den Schulen verbannt werden, um Störungen im Unterricht zu bekämpfen, das Lernen zu verbessern und die Kinder vor Cybermobbing zu schützen, so die Empfehlung eines UNO-Berichts».3

Anfang Juli 2023 macht die schwedische Bildungsministerin Lotta Edholm (Liberale) die Entscheidung, digitale Medien auch in der Vorschule (!) einzusetzen, auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen wieder rückgängig.4 Die Untersuchungen des renommierten Stockholmer Karolinska-Instituts vom 28. April gehen auf die Wissenschaftler Lisa Thorell, Professorin für Entwicklungspsychologie; Torkel Klingberg, Professor für kognitive Neurowissenschaften; Agneta Herlitz, Professorin für Psychologie; Andreas Olsson, Professor für Psychologie und Ulrika Ådén, Professorin und Beraterin für Neonatologie zurück.

Im Land der Digitalisierung – in China – fordert «die Internet-Aufsicht CAC in einem am 26. Juli 2023 vorgelegten Regulierungsentwurf die Einführung eines ‹Minderjährigen-Modus›. Dieser würde Nutzern unter 18 Jahren zwischen 22 Uhr abends und sechs Uhr morgens den Internetzugang verweigern. Darüber hinaus dürften 16- bis 18jährige die Geräte maximal zwei Stunden täglich nutzen. Für Acht- bis 16jährige reduziere sich die Dauer auf eine Stunde und für unter Achtjährige auf acht Minuten.» […].

«2021 hatte China ähnliche Beschränkungen für Videospiele eingeführt. Kurzvideoplattformen wie Bilibili, Kuaishou oder die App Douyin der TikTok-Mutter ByteDance verfügen bereits seit 2019 über einen ‹Teenager-Modus› ein, der dieser Altersgruppe täglich maximal 40 Minuten Zugriff gewährt».5

Dieses Vorgehen zum Kinder- und Jugendwohl sollte hellhörig machen, schliesslich geht es China um das Wohl seiner kommenden Generation – Hunderten von Millionen Kindern- und Jugendlichen.

Der deutsche Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut, Professor Dr. Joachim Bauer, fordert dringend eine Kehrtwende im Kinder- und Jugendschutz in Bezug auf digitale Medien. Er stellte in seiner jüngsten Veröffentlichung (2023) die alarmierenden Inhalte sowie das ausufernde Konsumverhalten von Kindern und Jugendlichen ausführlich dar.

Anschliessend beschäftigt er sich mit den massiven psychischen, physischen und gesellschaftlichen Folgeschäden.6 Bauer fordert zu einer Wende auf, um den Schaden für den Einzelnen und die Gesellschaft abzuwenden.

ISBN 978-3-426-27896-3

Im Mai 2023 erreicht der Warnruf einer Schulleiterin einer Sekundarschule (5.–10. Klasse) Eltern und Lehrer. Silke Müller veröffentlicht aufrüttelnde Fälle aus ihrem Schulalltag. Sie ist mit ihrer Schule «Digitalbotschafterin» des Bundeslandes Niedersachsen –, also sicher keine Gegnerin der Digitalisierung, im Gegenteil. Müller beschreibt, wie Kinder und Jugendliche vor den Augen ihrer Eltern und Lehrer unbemerkt in einer verrohten, brutalen Parallelwelt aufwachsen.

Aus ihrem Schulalltag berichtet sie, wie Schüler ungefiltert Folter, Vergewaltigung, Erpressung und Rassismus erleben, ohne darüber sprechen zu können. Sie werden damit allein gelassen.7 Ihre Beobachtungen lassen sich problemlos auf alle Schulen übertragen. Auch sie fordert dringend «eine zeitgemässe, an Werten orientierte Medienerziehung».

Ein Wegschauen ist nicht mehr möglich. Mit der massenhaften Verbreitung der Smartphones seit den 2010er Jahren fand eine kaum bemerkte Verrohung und Brutalisierung von Kindern und Jugendlichen statt. Bisher waren die offiziellen Massnahmen und Empfehlungen schlichtweg unzureichend.

Heute haben Bildungsbürokratie und politische Entscheidungsträger die Möglichkeit, auf die Auswüchse dieser ungehemmten Digitalisierung angemessen zu reagieren, ohne sich den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, sie würden «übertreiben» oder «die Zukunft verbauen».8

* Robert Tauschke, Dipl.-Päd., Schulischer Heilpädagoge MA, arbeitet seit über 30 Jahren als Lehrer.

1 Unesco. Global education monitoring Report, 2023.
Technology in education: A Tool on whose Terms?
https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000385723

2 https://condorcet.ch/2023/07/stellungnahme-zur-nationalen-digitalisierungsstrategie-in-der-bildung/, 16. Juli 2023
Patrick Butler und Hibaq Farah. ‘Put learners first’: Unesco calls for global ban on smartphones in schools. The Guardian, https://condorcet.ch/2023/07/stellungnahme-zur-nationalen-digitalisierungsstrategie-in-der-bildung/, 26. Juli 2023

3 Urs Kalberer. Unesco für Handy-Verbot in Schule. https://condorcet.ch/2023/07/unesco-fuer-handy-verbot-an-schulen/, 31. Juli 2023

4 Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung «Beslut om yttrande över förslag till nationell digitaliseringsstrategi för skolväsendet 2023–2027. (Ert dnr U2022/03951, vårt dnr 1-322/2023)» vgl. https://www.regeringen.se/contentassets/d818e658071b49cbb1a75a6b11fa725d/karolinskainstitutet.pdf
Deutsch: Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung (2023) vgl. https://die-pädagogische-wende.de/wp-content/uploads/2023/07/Karolinska-Stellungnahme_2023_dt.pdf

5 China will Handynutzung für Kinder und Jugendliche begrenzen. In: junge Welt, 2. August 2023 https://www.jungewelt.de/artikel/456403.china-will-handynutzung-f%C3%BCr-kinder-und-jugendliche-begrenzen.html
Vgl. auch: n-tv.de. Handy- und Internet-Sucht. Chinesische Regierung will die Nutzung von Smartphones und Tablets durch Kinder begrenzen. https://www.n-tv.de/
ticker/Chinesische-Regierung-will-die-Nutzung-von-Smartphones-und-Tablets-durch-Kinder-begrenzen-article24301149.html
, 2. August 2023

6 Joachim Bauer. Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen – und die Menschheit bedrohen. Heyne Verlag. München 2023

7 Silke Müller. Wir verlieren unsere Kinder! Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat. Droemer Verlag. München Mai 2023

8 Leider wurden frühe Warnungen in der anfänglichen Euphorie und Goldgräberstimmung ignoriert, so stellvertretend für viele andere, die fundierten Veröffentlichungen von Professor Dr. Manfred Spitzer, einem international anerkannten Neurowissenschaftler und Psychiater.

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