Ecce homines – Mitbürger! Schaut auf diese Menschen!

von Dr. Stefan Nold,* Deutschland

(5. Juli 2024) «Ist das jetzt so eine Christus-Nummer?» fragt mich ein junger Kerl als ich, ein grosses Plakat mit «12 Geboten für den Frieden» um den Hals, am Montagabend durch Darmstadt-Arheilgen laufe. Wir sind wenige. Ein Monteur aus Berlin, ein Meister, ein Gewerbelehrer im Ruhestand und noch einige andere. Ein emeritierter Mathematik-Professor hält die weisse Fahne hoch. «Leistet passiven Widerstand, Widerstand wo immer ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser Kriegsmaschinerie, ehe es zu spät ist» sagte 1983 Petra Kelly, eine der Gründerinnen der «Grünen».1 Sie ist tot, so wie Rudi Dutschke und Antje Vollmer; ihre Partei singt jetzt für die Waffenlobby. Die Friedensbewegung hat den Löffel abgegeben und Alexander Gauland, Walter Wallmanns ehemaliger Staatssekretär, der durch Schüren übler Ressentiments seine neue Partei grossgemacht hat, hält im Bundestag Reden zum Ukraine-Krieg,2 die früher Willy Brandt gehalten hätte. Ich verstehe die Welt nicht mehr.

Stefan Nold.
(Bild soft-control.eu)

«Wie hast du es angestellt, dass du noch am Leben bist?» Das fragt einer, dem das Bein weggeschossen worden ist, einen Kameraden, der auf Fronturlaub ist und ihn besucht. Es ist eine Szene aus Giulia Caminitos Roman «Ein Tag wird kommen»3 über das Schicksal bettelarmer, den «Padres» und «Padrones» völlig ausgelieferter Dörfler im Hinterland der Adria in der Nähe von Senigallia in der Zeit von 1900 bis 1920. Genau dort habe ich als Kind mit den Eltern fröhlich am Strand gespielt und zum ersten Mal das Meer gesehen.

Anfang 1945 war mein Vater als Nachzügler auf dem Weg an die Ostfront. Um zu seiner Einheit zu gelangen, musste er einen Fluss überqueren, der wegen Hochwasser zu einem reissenden Strom geworden war. Von der Brücke war nur der oberste Teil des Geländers zu sehen. Mit dem für ihn so typischen nüchternen Sarkasmus schilderte er seine Lage: «Als ich so allein dastand, dachte ich bei mir: Wenn mich jetzt die Flut mitreisst, werde ich auch einer von denen sein, die für Führer, Volk und Vaterland gestorben sind.»

Keine Heldentaten sondern hoffnungslose Verlorenheit im Mahlstrom des Krieges wartet auf den einfachen Soldaten. Deshalb hält man den Leuten hehre Ziele vor die Nase wie einem Esel die Karotte, wenn es in Wahrheit «ein bisschen um jene vulgäre Materie, die man Geld nennt,» geht4 (Heinrich Böll). Auch die Dämonisierung des Gegners gehört seit jeher zum Repertoire, wenn man «die Hunde des Krieges von der Leine lassen» will.5 Wie vor tausend Jahren rufen die Kriegstreiber den armen Teufeln aus sicherer Entfernung zu: «Euer Friede sei ein Sieg.»6 «Ecce homines!» Mitbürger! Schaut auf diese Menschen! Schaut auf die Menschen, die auf dem Schlachtfeld in Blut, Schmerz und Dreck krepieren!

Ein feister US-Senator sagt zufrieden lächelnd, der Ukraine-Krieg sei das beste Investment, das die USA je gemacht hätten («the best money we've ever spent»).7 Für einen ukrainischen Landser ist das wie der Essig-Bausch, den man dem sterbenden Jesus am Kreuz ins Gesicht gedrückt hat.

Als wir zurück in der Ortsmitte sind, betrachtet ein Vater mit seinen zwei kleinen Kindern die selbstgemalten Plakate, die einer von uns am Löwenbrunnen abgestellt hat. Er ist Moslem. «Ohne Gott gibt es keine Bremse» sagt er. Ich stimme ihm zu, aber im Nachhinein zweifle ich. Ist es nicht gerade der Glaube an die gute Sache, der die Menschen seit jeher zu den barbarischsten Grausamkeiten verleitet hat, lautstark angefeuert von braven Bürgern, die begeistert ihre Fahnen schwenken, so dass sich der verstörte Chronist fragt: «Ecce! Homines sunt?» Seht sie euch an! Sind das wirklich Menschen? Wo ist die fühlende Brust, die unter all diesen «Larven»8 dem grausamen Spiel endlich ein Ende bereitet und anfängt zu verhandeln, solange es noch etwas zum Verhandeln gibt?

* Stefan Nold, Jahrgang 1959, Studium der Elektrotechnik und Promotion an der TH Darmstadt. Seit 1991 Inhaber eines Ingenieurbüros mit den Schwerpunkten optische Inspektionssysteme und intelligente Kameras für die Landtechnik. Aktivist und Mitbegründer verschiedener erfolgreicher lokaler Bürgerinitiativen in Darmstadt und Umgebung.

Quelle: https://overton-magazin.de/top-story/ecce-homines-mitbuerger-schaut-auf-diese-menschen/, 26. Mai 2024

1 Petra Kelly. Leistet passiven Widerstand. In: Klaus Staeck (Hrsg.) Verteidigt die Republik, S. 109. Steidl Verlag. Göttingen 1983

2 Alexander Gauland, Redebeitrag zur Bundestagsdebatte zum Antrag der Abgeordneten Dr. Alexander Gauland, Tino Chrupalla, Matthias Moosdorf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Deutschlands Verantwortung für Frieden in Europa gerecht werden – Eine Friedensinitiative mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine und Russland (Tagesordnungspunkt 9), https://dserver.bundestag.de/btp/20/20085.pdf Seite 10104C. Sowie als Video: https://www.youtube.com/watch?v=VtKSdi7SLQ8 Minute 0:50 – 4:40 Phoenix Digitale Medien Bonn 9.2.2023

3 Giulia Caminito. Ein Tag wird kommen. Übersetzt von Barbara Kleiner. Wagenbach. Berlin 2020. S. 192. Originalausgabe: Un giorno verra. Bompiani editore. Milano 2019

4 Heinrich Böll. Ein paar Worte nur über ein paar Wörter, die ich in ihrer Wörtlichkeit beim Wort zu nehmen versuche. In: Klaus Staeck (Hrsg.) Verteidigt die Republik, S. 109. Steidl Verlag. Göttingen 1983. S. 19.

5 William Shakespeare. (1599) Julius Caesar. 3. Akt, 1. Szene. L.L. Schücking (Hrsg.) William Shakespeare Gesamtwerk, Englisch und Deutsch (Übersetzung von A.W. von Schlegel) 3. Band. Weltbild Verlag in Lizenz von Tempel-Verlag. Darmstadt 1995. S. 384/385. Originaltext: «and let slip the dogs of war» (von Schlegel übersetzt: «und des Krieges Hund entfesseln.» Es wurde eine eigene Übersetzung gewählt, um dem Bild des englischen Originals möglichst nahe zu kommen.

6 Friedrich Nietzsche. Vom Krieg und Kriegsvolke. In: Also sprach Zarathustra. (1883). Karl Schlechta (Hrsg.) Friedrich Nietzsche Werke in 3 Bänden. 2. Band, S. 312. Carl Hanser. München 1955

7 Lindsey Graham, zitiert nach Reuters: «Dismissing Russian criticism, U.S. Senator Graham praises Ukrainian resistance.» Wortlaut im Original: «the best money we've ever spent». https://www.reuters.com/world/russia-condemns-us-senator-grahams-comments-death-russians-2023-05-28/ Thomson Reuters. New York. https://www.youtube.com/watch?v=ArpfuJjFKCs, 29.5.2023

8 Friedrich Schiller, (1797) Der Taucher. In: Paul Stapf (Hrsg.). Schiller Werke. Bd. II Gedichte. Tempel Verlag. Darmstadt 1967. S. 196.

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