Ein Gallierdorf kämpft gegen Handy-Plage

Seine-Port engagiert sich für die Kinder und Jugendlichen

von Stefan Brändle,* Paris

(10. Mai 2024) (CH-S) Meistens sind es engagierte und mutige Persönlichkeiten, die ihre Mitbürger für sinnvolle Neuerungen gewinnen können. Der Bürgermeister Vincent Paul-Petit eröffnet im Dorf Seine-Port eine handyfreie Zone. Ein deutliches Signal zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, nachdem von staatlicher Seite auch nach Jahrzehnten immer noch zu wenig unternommen wird.

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Bürgermeister Vincent Paul-Petit unternimmt mutige Schritte.
(Bild Sophie Bordier/MAXPPP)

Seine-Port liegt südlich von Paris und, wie sein Name sagt, an einem kleinen Hafen der Seine, die sich hier durch den äussersten Vorortgürtel der französischen Metropole schlängelt. Man sieht es dem beschaulichen Ort von 2000 Einwohnern nicht an, aber er hat etwas von dem berühmten gallischen Dorf, das gegen die römische Übermacht kämpft.

Übermacht? «Das sind Internetkonzerne wie Meta, bekannt für die Plattformen Facebook und Instagram», sagt Bürgermeister Vincent Paul-Petit in seinem Büro mit Sicht auf den Stadtpark. «Ihre Programmierer tüfteln ständig an neuen Wegen, um Jugendliche in ihre Applikationen zu ziehen. Ihren eigenen Kindern untersagen sie allerdings den Bildschirmzugang, weil sie wissen, dass sie dabei verdummen.»

Die Meinungen sind gespalten

Harte Worte von einem freundlichen Herrn, der so gar nichts von Asterix hat: Der frühere Unternehmer war erstmals 2008 zum Bürgermeister von Seine-Port gewählt worden, er ist fünffacher Vater und achtfacher Grossvater. Beim Schulfest vor der letzten Sommerpause machte er seinen Einwohnern eine leicht kryptische Ankündigung: Die Kinder sollten während der Ferien weniger telefonieren, dafür mehr herumrennen, lesen oder nichts tun – Langweile mache bekanntlich kreativ. Er selbst, so sagte Paul-Petit, werde in dieser Zeit über den Umgang mit Smartphones nachdenken.

Zum Schulbeginn im Herbst legte der Mann mit den festen Überzeugungen dann eine Charta «für einen guten Umgang mit den Bildschirmen» vor. Kernpunkt ist nichts weniger als ein Handyverbot im öffentlichen Raum.

Viele Einwohner empörten sich: ein Verbot? «Ja, denn alles andere funktioniert nicht», entgegnete der resolute Bürgermeister und kündigte eine kommunale Volksabstimmung zum Thema an. In der an alle Haushalte verschickten Broschüre zitierte er den neuen, erst 34jährigen Premierminister Gabriel Attal: «Was die Benutzung von Bildschirmen anbelangt, steuern wir auf eine gesundheitliche und erzieherische Katastrophe für Kinder und Jugendliche zu.»

Die Abstimmung fand Anfang Februar statt und ergab 54 Prozent Ja-Stimmen; 46 Prozent waren dagegen. Darauf legte der Gemeinderat fest, wo es untersagt ist, sein Handy zu zücken: vor den Schulen, in den Geschäften, auf der Strasse; in Gruppen auch im öffentlichen Raum.

Hört man sich heute in Seine-Port um, bleiben die Meinungen geteilt. Ein Vater, der sein Töchterchen auf dem Minivelo begleitet, begrüsst das Verbot: «Wenn wir Eltern mit einem Handyverbot nicht alleingelassen werden, bin ich dafür.» Der Gemüsehändler beim Eingang zum Stadtpark verdreht ablehnend die Augen, sagt aber nichts.

Die zwei jungen Leiterinnen des Coiffeurladens finden, die Gemeinde sollte angesichts der vielen Einbrüche «zuerst einmal genügend Überwachungskameras einrichten». Die Wirtin des Bistros La Terrasse leistet Widerstand gegen den Widerstand: «Hier am Tresen verbieten wir das Handy nicht.»

Vincent Paul-Petit, 64, versteht die Einwände. Er macht klar, dass er nicht den Gemeindepolizisten spielen oder «Handys konfiszieren» werde. Auch betont er, sein Ansatz sei unpolitisch. Er selbst gehört den konservativen Republikanern an, bezeichnet sich aber als «liberal»; und er sagt, dass zwei Nachbargemeinden, die von den Sozialisten und den Kommunisten regiert würden, nun ebenfalls über ein Handyverbot nachdächten.

In der Sache aber ist der langjährige Dorfvorsteher unnachgiebig. In seinem Büro legt er mit Schwung drei Sachbücher auf den Tisch, eines trägt den Titel: «Wie man digitale Dummköpfe fabriziert». Die anderen behandeln Themen wie Videogewalt, Internet-Pornografie, Cybermobbing und raffinierte Lockmethoden der Game-Anbieter.

«Handys sind eine wahre Droge für Kinder», sagt Paul-Petit kategorisch. Es gehe um mehr als die Benutzung von Smartphones durch die jüngere Generation: «Wir stehen vor der Frage, wie wir zusammenleben wollen.» Immer wieder erzählten ihm Eltern, dass ihr Sprössling zunehmend aggressiv werde, wenn seine Handyzeit eingeschränkt werde.

Gemeinde erteilt Tipps für ratsuchende Eltern

In der Abstimmungsbroschüre hat die Gemeinde Telefonnummern für Ratsuchende angegeben, dazu Tipps von Psychologen und Neurologen: bis drei Jahre keinen Bildschirm; bis sechs Jahre nur täglich eine Stunde, davon ein Drittel zusammen mit den Eltern; und ab 10 Jahren nicht mehr als 45 Minuten. Wohlgemerkt, das betrifft alle Bildschirme von TV, Handy, PC, Tablet oder Videospiel. «Was darüber hinausgeht, bewirkt Konzentrations- oder gar Hirnschäden», weiss der Bürgermeister.

Und wenn die Kinder den Eltern in den Ohren liegen, all ihre Klassenkameradinnen und -kameraden hätten ein iPhone, und wer keins habe, ernte auf dem Pausenplatz bloss Mitleid und Spott? Der Gemeinderat schenkt den Einwohnern ein einfaches Sprechtelefon mit neun Tasten und der SMS-Funktion – gegen die Verpflichtung, den Kindern bis zum 15. Altersjahr kein eigenes Smartphone anzuschaffen. «Das Ziel ist es», so Paul-Petit, «dass alle das gleiche Gerät besitzen.»

Das Thema treibt inzwischen auch die nationale Politik in Paris um. Staatspräsident Emmanuel Macron hat eine Digitalkommission eingesetzt, die bis Ende März Vorschläge ausarbeiten soll, wie der übermässige Bildschirmkonsum kontrolliert und eingeschränkt werden könnte. Es gehe nicht an, dass all diese Bildschirme die «affektive, sensorielle und kognitive Entwicklung» der Kinderhirne behinderten, sagt der Staatschef. Er gab der Kommission zwei präzise Fragen mit: «Ab welchem Alter soll man ein Verbot aussprechen? Und das vielleicht mit Sperren oder mit Einschränkungen?»

Paul-Petit erwartet nicht allzu viel von dieser Expertengruppe. «Die beste Lösung wäre, Jugendlichen das Handy bis 18 zu verbieten. So lange kommen sie in der Schule auch ohne aus.»

Ziemlich radikal, Monsieur Paul-Petit. Verweigert er sich der digitalen Ära? Im Gegenteil, er glaubt, ihr voraus zu sein: «Sie werden sehen, in drei, vier Jahren wird Meta mit so vielen Prozessen von Eltern eingedeckt sein, dass sie ihre Programme auf die echten Bedürfnisse der Kinder ausrichten müssen.» Mit dem Gallierdorf als Vorbild?

* Stefan Brändle ist promovierter Jurist, Journalist und Schweizer Reporter. Er lebt als Wirtschafts-Korrespondent in Paris. Er arbeitete zuerst ein Jahr in Brasilien und später in Kuba, Mexiko, Kanada und den USA. Reportagen schrieb er auch aus einigen asiatischen Ländern, beispielsweise Indien, Iran, China und Japan.

Quelle: Wiler Zeitung, 29. Februar 2024. (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der CH-Regionalmedien AG)

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