Ein Patron für Skeptiker

Hermann Giesecke (Bild zvg)

Ein Nachruf auf den Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke

von Michael Felten*

(29. Januar 2022) Erstmals begegnet bin ich ihm vor einem Vierteljahrhundert: Der linksliberale Erziehungswissenschaftler stand kurz vor der Pensionierung und begann, sich mit dem pädagogischen Zeitgeist anzulegen; ich war gemeiner Gymnasiallehrer, der erste Routine gewonnen hatte und nun Zeit fand, über Irrungen und Wirkungen reformpädagogischen Denkens in der Regelschule zu staunen.

Hermann Giesecke (1932–2021), vor allem durch sein Standardwerk «Didaktik der Politischen Bildung» bekannt, hatte soeben Aufsehen mit seinem Buch «Wozu ist die Schule da?» erregt. Darin geisselte er die Überfrachtung der Schule durch Umwelt-, Sexual- und andere Erziehungsaufgaben als zeitgeistige Verirrung.

Das Prinzip Unterrichten sei die ernste und eigentliche Aufgabe von Schule – worauf Eltern ihre Kinder angemessen vorzubereiten hätten. Im Folgeband «Pädagogische Illusionen» wies Giesecke – Stichwort etwa «Vermütterlichung der Grundschule» – nach, dass die Bildungsexpansion nach dem Sputnik-Schock de facto auch ihren Preis habe – nämlich die Demontage der Bildungsidee selbst.

ISBN 978-3-7799-1721-2

Mich hat an Giesecke vor allem beeindruckt, dass er – nach eigenen Angaben dank seiner Herkunft aus einfachen Kreisen – davor gefeit war, sich von reformpädagogischen Floskeln vereinnahmen zu lassen. Schule sei keineswegs ein Gefängnis für Heranwachsende, sondern vielmehr gerade deren Befreiung – nämlich aus Unmündigkeit.

Seine ideologiekritische Analyse des antipädagogischen Zeitgeistes gipfelte bereits vor 2000 in einer Fundamentalskepsis gegenüber der damals verbreiteten Offenheits- und Spieleuphorie im Unterricht: «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Das sass damals – es gilt im übrigen noch heute. Und Giesecke blieb weiter Unruheständler: Schon 2003 sah er die Risiken einer Verelendung des öffentlichen Schulwesens sowie des Expandierens privater Bildungsinteressen: «Möglicherweise […] könnte sich ein ‹pädagogisch-industrieller Komplex› auftun, in dem es um erhebliche Ressourcen und deren Verteilung […] geht.» In Sachen Digitalisierung war das jedenfalls ein früher Volltreffer.

Bis in unsere Tage hatte Giesecke keine Scheu, ja fühlte sich verpflichtet, die Goldenen Kälber der pädagogischen Zunft auf den Prüfstand zu stellen. «Warum ich gegen inklusive Schulen bin. Die zerstörerische Naivität ideologisch motivierter Schulreformen» betitelte er etwa 2015 seine Kritik undurchdachter Sparkonzepte. Zuletzt widmete er sich der Eroberung des Schulwesens durch Kennziffern und Evaluation: «Im Kompetenzen-Wahn» (2018).

Seit kurzem weilt Hermann Giesecke nicht mehr unter uns. Umso mehr sind wir aufgerufen, in der Bildungsdebatte Spreu von Weizen zu trennen – und nicht auf pädagogischen Kitsch hereinzufallen. Giesecke fand nämlich, die Missstände im Bildungswesen seien auch deshalb so gross, weil es an reflektierten unerschrockenen Praktikern mangele.

* Michael Felten, geboren 1951, Pädagoge und Publizist, www.eltern-lehrer-fragen.de, arbeitet seit über 30 Jahren als Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln. Er ist Autor pädagogischer Sachbücher, Dozent in der Lehrerausbildung und er berät Schulen bei ihrer Entwicklung.

Alle Texte von Hermann Giesecke finden sich unter www.hermann-giesecke.de.

Quelle: Ersterscheinung in: PROFIL, Zeitschrift des DPhV, 11/2021. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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