Erziehung zum mündigen Bürger oder Ideologisierung der Schüler

von Marita Brune-Koch

(4. Oktober 2024) Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürgern zu erziehen ist eines der wichtigsten Ziele der Volksschule. Sie wachsen in unsere demokratischen Systeme hinein und werden sie einmal gestalten. Doch über die Frage, wie «Erziehung zum mündigen Bürger» am besten geht, ist wieder einmal eine heftige Auseinandersetzung im Gange. Die Debatte reicht vom Standpunkt, dass bereits im Kindergarten mit politischer Bildung begonnen werden müsse,1 bis zu der Forderung nach Neutralität der Schule und der Lehrer in politischen und weltanschaulichen Fragen.

Ein aufschlussreicher Wortwechsel im bernischen Kantonsparlament zwischen den Grossräten Mathias Müller2 und Alain Pichard3 markierte deutliche Positionen. Müller forderte in einer Motion die Einhaltung des Neutralitätsgebots der Schulen und Universitäten. Konkret:

1. Die politische Neutralität in Schulen und Universitäten soll gestärkt und durchgesetzt werden.

2. Politische Propaganda in jeglicher Form auf dem Schulgelände soll unterbunden werden, der Unterricht hat neutral zu erfolgen

3. Der politisch neutrale Staatskundeunterricht soll gefördert werden, um Schülern die Bedeutung unseres demokratischen Systems näher zu bringen.

Ein Thema von allen Seiten beleuchten in einer Klassendiskussion.
(Bild zvg)

«Lehrer sind keine Eunuchen»

Dem widersprach Alain Pichard. Seiner Meinung nach sei es nicht durchsetzbar, politische Flyer, Transparente und ähnliches an Universitäten zu verbieten. Er lehne diese Forderung ab. Deutlich nahm er Stellung zur Forderung nach Neutralität des Unterrichts: «Der neutrale Unterricht ist eine Chimäre» führte er aus, Schule sei nicht neutral, Lehrer seien nicht neutral, sie seien keine Eunuchen.

Stattdessen müssten wir auf Professionalität setzen, also den Bildungsauftrag ernst nehmen, der da hiesse, wir müssen Schuler und Schülerinnen zu mündigen Bürgern erziehen, dass sie sich selber eine Meinung bilden können.

Man kann die Argumente von Pichard nicht von der Hand weisen. Lehrer sind Menschen, haben eine Meinung, eine Einstellung. Sie können nicht völlig «enthaltsam» in Ansichtssachen sein, wenn sie als authentische Persönlichkeiten wirken wollen. Andererseits muss die Schule – insbesondere in einer direkten Demokratie – neutral sein. Der Besuch der Schule ist für alle Kinder verpflichtend, der Staat hat aber nicht das Recht, allen Kindern und somit allen Bürgern eine Sichtweises aufzudrängen. Wie ist das Dilemma lösbar?

Diese Frage stellte sich bereits in den 70er Jahren. Damals gingen die Wogen in politischen Diskussionen auch hoch und erreichten selbstverständlich auch die Schulen. Man einigte sich auf den sogenannten Beutelsbacher Konsens. Wegen seiner Bedeutung für die Frage, die sich uns stellt, geben wir ihn hier wörtlich wieder:

1. Überwältigungsverbot.

Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der «Gewinnung eines selbständigen Urteils» zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.

Das Abwägen von Pro und Contra muss in einer Demokratie gelernt
werden. (Bild zvg)

2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.

Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.

Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismässig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch die entgegenstehenden Ansichten kommen ja zum Zuge.

3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,

sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schliesst in sehr starkem Masse die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. (…)4

Der «Beutelsbacher Konsens» gilt im gesamten deutschsprachigen Raum, mithin auch in der Schweiz. Der Schweizer Lehrerverband LCH begründet seine Forderung nach mehr politischer Bildung mit ebendiesem Dokument.

Wenn allerdings Dagmar Rösler vom LCH von der Schule fordert, «das politische Geschehen einzuordnen»,5 dann stellt sich schon die Frage, wie das gemeint ist und ob es dem oben genannten Konsens entspricht. «Einordnen» – diesen Begriff kennen wir in letzter Zeit aus den Medien, Journalisten wollen auch für uns Bürger das Geschehen «einordnen». In den Medien bleibt da meistens die Darstellung unterschiedlicher Sicht- und Herangehensweisen auf der Strecke, der Journalist glaubt zu wissen, wie das Geschehen richtig zu beurteilen ist und betätigt sich als Volkserzieher. Lehrer aber müssen unter Befolgung des Neutralitätsprinzips in der Schule verschiedene Sichtweisen eines Themas darlegen oder zur Kenntnis bringen.

Kriege und Krisen – kontrovers?

Nehmen wir den Themenbereich «Krisen und Kriege in der Welt», den Frau Rösler anspricht. In der Schule soll darüber gesprochen werden, fordert sie. Gut, das bedeutet dann aber, wenn es zum Beispiel um den Russland-Ukraine-Konflikt geht, dass sowohl der Standpunkt der Ukraine und des ihn unterstützenden Westens als auch der von Russland und der dieses Land unterstützenden Länder dargelegt werden müsste. Und all die Zwischenschattierungen. Der Lehrer dürfte in einem solchen Rahmen auch bekannt geben, welchen Standpunkt er vertritt, müsste ihn begründen, den Schülern aber offenlassen, welcher Sichtweise sie sich anschliessen wollen.

Wäre eine solche Diskussion in einer unserer Schulen heute möglich?

Corona – kontrovers?

Oder nehmen wir die Corona-Frage. Ein Thema, das alle Schüler direkt und persönlich betroffen hat. Auch hier hätten sowohl die Studien und Stellungnahmen der Regierung, der offiziellen Stellen, und der Wissenschaftler gehört und analysiert werden müssen als auch die derjenigen, die die offizielle Sicht in Frage gestellt und dafür auch wissenschaftliche Belege angeführt haben. Hätte sich das ein Lehrer, eine Lehrerin zu der Zeit erlauben dürfen? Nach dem Beutelsbacher Konsens wäre genau das fachgerecht und würde zur Mündigkeit der Schüler beitragen.

Gender – kontrovers?

Schauen wir uns ein weiteres heisses Eisen an: Die Gender- und Geschlechterfrage. Dagmar Rösler findet Anlässe wie die eines «Gender-Tages» sinnvoll, um «relevante gesellschaftliche Themen» zu behandeln. Um sicher zu stellen, dass es sich bei solch einem Gendertag nicht um eine einseitige Behandlung des Themas durch Vertreter der LGBTQI+-Lobby handelt, müssten doch dann an einem weiteren Tag weitere Sichtweisen dargestellt werden, vielleicht in einem «Geschlechter-Tag».

Selbstverständlich müssten die Schüler auch die Möglichkeit haben, anhand wissenschaftlicher Fakten beide – oder mehrere? – Theorien zu überprüfen, um sich dann entscheiden zu können, welche sie für die richtige halten. Vertreter der Transgender-Theorie kommen ja vielfach in die Schulen, aber wäre es heute möglich, eine Biologin oder einen Mediziner in die Schule einzuladen, die oder der darlegt, dass es von der Natur her nur zwei Geschlechter gibt? Stände da nicht die Antifa auf dem Pausenplatz?

Wie sonst sollte Röslers Forderung entsprochen werden: «Es darf dabei nicht darum gehen, dass am Schluss des Tages alle die gleiche Meinung haben, sondern dass man sich damit auseinandergesetzt hat und sich seine eigene Meinung bilden kann». Das geht aber nur, wenn man das ganze wissenschaftliche und weltanschauliche Spektrum zur Kenntnis bringt.

Verhilft «Wokeness» zur Mündigkeit?

Dagmar Rösler fordert, dass unsere Schulen «woke» sein müssten und beruft sich dabei auf die Duden-Definition des Begriffs, wonach «woke» «aufmerksam und engagiert sein gegenüber rassistischer, sexistischer und sozialer Diskriminierung» bedeute. Ja, so ist der Begriff ursprünglich gemeint. Aber Begriffe erfahren eine Wandlung. Heute bezeichnet der Begriff «woke» vielfach ein enges Meinungsspektrum, und wer sich daran nicht hält, setzt seinen Ruf, seine Karriere, seine Stellung aufs Spiel. Dem Beutelsbacher Konsens entspricht das nicht gerade.

Es wäre spannend und unbedingt nötig Lehrpläne, Unterrichtsmaterialien und Projekte, Theorie und Praxis zu überprüfen, inwieweit sie dem Beutelsbacher Konsens Rechnung tragen oder ihm entgegenstehen. Immerhin geht es um die Mündigkeit unserer Jugend und künftigen Staatsbürger.

1 Z. B. Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin LCH (Lehrerverband Schweiz)

2 Mathias Müller, Berufsoffizier und Psychologe, SVP

3 Alain Pichard ist Sekundarlehrer und Redakteur des Condorcet-Blogs, ehemals Grünliberale

4 https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51310/beutelsbacher-konsens/ Zur Entstehungsgeschichte des Beutelsbacher Konsens: «Trotz vielfältiger Polarisierung und Polemik riss auch in den siebziger Jahren das Gespräch über die Grundlagen und Zielsetzungen politischer Bildung zwischen den Fachleuten nicht ab. Von den vielen Tagungen auf Bundes- und Länderebene erlangte diejenige der Baden-Württembergischen Landeszentrale für politische Bildung im schwäbischen Beutelsbach 1976 eine besondere Bedeutung.
Hans-Georg Wehling hielt dort die Gemeinsamkeiten der streitenden Autoren in drei Punkten fest. Sie wurden als «Beutelsbacher Konsens» für das weitere Gespräch wirksam.» Aus: Bernhard Sutor: Politische Bildung im Streit um die «intellektuelle Gründung» der Bundesrepublik Deutschland, Externer Link: Aus Politik und Zeitgeschichte: Politische Bildung (B 45/2002)) https://www.lch.ch/fileadmin/user_upload_lch/Politik/Positionspapiere/240524_Positionspapier_PolitischeBildung__Kurzversion__publiziert.pdf

5 https://www.lch.ch/aktuell/detail/lehrpersonen-sollen-werte-vermitteln-und-duerfen-dabei-auch-ihre-eigene-meinung-einbringen

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