Österreich
Fragen des Verfassungsgerichtshofs zur Corona-Politik
(10. Februar 2022) Red. Der österreichische Verfassungsgerichtshof VfGH übermittelte dem Gesundheitsministerium einen detaillierten Fragenkatalog zu den staatlichen Corona-Massnahmen. Die Antworten werden bis am 18. Februar 2022 erwartet. Diese Fragen können den Anfang einer europaweiten sachlichen Auseinandersetzung mit der Corona-Politik und deren juristischen Aufarbeitung bilden. Der «Schweizer Standpunkt» dokumentiert den Fragenkatalog.
Zum Vorgang: Der Österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat im Zuge seiner Prüfung der Corona-Massnahmen im Rahmen eines Verordnungsprüfungsverfahrens (Aktenzeichen V11/2022) Fragen an das Gesundheitsministerium übermittelt. In erster Linie will Höchstrichter Prof. Andreas Hauer wissen, wie gerechtfertigt die Verordnungen waren, die unter anderem Lockdown und 2G-Regel umfassen. Das Interesse gilt vor allem der Belastung des Gesundheitssystems, an die die Massnahmen gekoppelt waren. Bis zum 18. Februar erbittet man Auskünfte auf insgesamt zehn Fragenkomplexe. – Die Impfpflicht betrifft dies nicht.
Beim VfGH sind derzeit noch etwas mehr als 100 Verfahren im Zusammenhang mit Covid-19 anhängig, etwa 480 wurden schon erledigt. Jeder Fall, der beim VfGH eingeht, wird vom VfGH-Präsidenten einem der 13 Richter zugewiesen. Sie bearbeiten ihn und leiten gegebenenfalls ein Vorverfahren ein. Das ist im aktuellen Fall geschehen. Nun bittet der bearbeitende Höchstrichter Prof. Andreas Hauer die gegnerische Partei – in diesem Fall Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) – um eine Stellungnahme. Der Richter erarbeitet aufgrund der Antworten einen Entscheidungsvorschlag. Ob dieser angenommen wird, entscheiden alle 13 Richter und Richterinnen des VfGH.
Im Folgenden geben wir den Wortlaut des Schreibens des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes an das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz wieder:
VERFASSUNGSGERICHTSHOF
Freyung 8, 1010 Wien
V 11/2022-4
Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz
Stubenring 1
1010 Wien
In obengenanntem Verordnungsprüfungsverfahren ergeht gemäss § 20 Abs. 3 VfGG die Aufforderung – auch zur Vorbereitung einer allfälligen mündlichen Verhandlung – bis zum 18. Februar 2022 folgende Auskünfte zu erteilen:
1. In den Verordnungsakten zu den auf Grundlage des COVID-19-MG ergangenen Verordnungen wird insbesondere auf Zahlen von im Zusammenhang mit COVID-19 auf Normal- bzw. Intensivstationen hospitalisierten Personen sowie auf Zahlen verstorbener Personen Bezug genommen. Laut einem – exemplarisch genannten – Bericht der Tageszeitung «Die Presse» vom 11. Oktober 2021 («Auch Geimpfte im Spital: Wirkt die Impfung überhaupt?») würden nach amtlichen Auskünften «etwa, wenn Patienten wegen Nierenversagen auf der Intensivstation liegen, die zufällig positiv auf Corona getestet werden», diese «als Coronafälle» zählen.
Der Verfassungsgerichtshof ersucht daher um Auskunft, ob die in den Verordnungsakten angegebenen Hospitalisierungs- bzw. Verstorbenenzahlen alle mit SARS-CoV-2 infizierten Personen, die in Spitälern auf Normal- oder Intensivstationen untergebracht sind bzw. die «an oder mit» SARSCoV-2 verstorben sind, umfassen? Wenn ja, warum wird diese Zählweise gewählt? Weiters ersucht der Verfassungsgerichtshof – gegebenenfalls – um Aufschlüsselung dieser Zahlen nach:
• Personen, die an COVID-19 verstorben sind, Personen, die mit COVID-19 verstorben sind, und Personen, die (asymptomatisch) mit SARS-CoV-2 verstorben sind.
• Personen, die wegen COVID-19 auf Intensivstationen hospitalisiert wurden, Personen, die wegen einer anderen Indikation auf Intensivstationen hospitalisiert wurden, aber auch an COVID-19 litten, und schliesslich Personen, die wegen einer anderen Indikation auf Intensivstationen hospitalisiert wurden und (asymptomatisch oder mit mildem, an sich nicht hospitalisierungsbedürftigem Verlauf) mit SARS-CoV-2 infiziert waren.
• Personen, die wegen COVID-19 auf Normalstationen hospitalisiert wurden, Personen, die wegen einer anderen Indikation auf Normalstationen hospitalisiert wurden, aber auch an COVID-19 litten, und Personen, die wegen einer anderen Indikation auf Normalstationen hospitalisiert wurden und (asymptomatisch oder mit mildem, an sich nicht hospitalisierungsbedürftigem Verlauf) mit SARS-CoV-2 infiziert waren.
Der Verfassungsgerichtshof ersucht Mitteilung der jeweiligen Zahlen einerseits in Summe (aufgeschlüsselt nach Alterskohorten) sowie anderseits für den 25. Jänner 2022.
2. Wie hoch ist das Durchschnittsalter und wie hoch ist das Medianalter der wegen COVID-19 auf Normalstationen und auf Intensivstationen hospitalisierten Personen sowie der an COVID-19 verstorbenen Personen?
3.1. Wie hoch ist die Zahl der Todesfälle pro 100 000 Erkrankungsfällen nach Alterskohorten und Geschlecht? Wie hoch ist die Zahl der Hospitalisierungen auf Normal- bzw. Intensivstationen pro 100 000 Erkrankungsfällen nach Alterskohorten und Geschlecht?
3.2. Wie hoch ist die Zahl der Todesfälle pro 100 000 Infektionen nach Alterskohorten und Geschlecht? Wie hoch ist die Zahl der Hospitalisierungen auf Normal- bzw. Intensivstationen pro 100 000 Infektionen nach Alterskohorten und Geschlecht?
3.3. Wie hoch ist die Zahl der Todesfälle pro 100 000 Einwohnern nach Alterskohorten und Geschlecht? Wie hoch ist die Zahl der Hospitalisierungen auf Normal- bzw. Intensivstationen pro 100 000 Einwohner nach Alterskohorten und Geschlecht?
4. Welche Virusvarianten waren am 1. Jänner 2022, am 25. Jänner 2022 und tagesaktuell zu welchen Prozentsätzen bei Infizierten bzw. Hospitalisierten bzw. Verstorbenen vertreten?
5. Wie stellt sich die prozentuelle Zuordnung von stattfindender Infektion auf Lebensbereiche (wie beispielsweise Familie, Arbeit, Einkauf [Grundversorgung, andere Güter], verschiedene Freizeitbeschäftigungen) dar?
6. Um welchen Faktor reduziert das Tragen einer FFP2-Maske in geschlossenen Räumen bzw. im Freien das Ansteckungs- bzw. Übertragungsrisiko?
7. Wie verteilen sich die Impfraten (gegliedert nach einfach, zweifach, dreifach geimpft) auf Alterskohorten?
7.1. Bezogen auf Omikron-Infektionen: Wie hoch war die durchschnittliche 7-Tage-Inzidenz im Jänner 2022 bei Personen ohne Schutzimpfung gegen COVID-19, bei Personen nach der Zweitimpfung, aber vor Ablauf von 14 Tagen nach der Zweitimpfung, dann bei Personen mit abgeschlossener Impf-«Grundimmunisierung» (ohne «Booster-Impfung») und schliesslich bei Personen mit «Booster-Impfung»?
7.2. Um welchen Faktor verringert die COVID-Schutzimpfung das Risiko schwerer Verläufe? In Medienberichten war von bis zu 95 Prozent die Rede. Nun scheint das – allgemeine (nicht nach Alter und Gesundheitszustand differenzierte) – Risiko, an COVID-19 zu versterben, aktuell bei 0,1516 Prozent zu liegen (vgl. AGES-Dashboard). Worauf bezieht sich eine angegebene Impfwirksamkeit von beispielsweise 95 Prozent? Was bedeutet in diesem Zusammenhang absolute und relative Risikoreduktion?
7.3. Um welches Mass vermindern eine Erstimpfung, eine Zweitimpfung und eine Drittimpfung das Risiko, wegen COVID-19 auf einer Normalstation bzw. auf einer Intensivstation hospitalisiert zu werden bzw. an COVID-19 zu versterben? Hängt dieses Mass von der (jeweils vorherrschenden) Virusvariante ab?
7.4. Nach Medienberichten soll sich die Schutzwirkung von COVID-Schutzimpfungen mit dem Zeitablauf verringern. Trifft dies zu? Wie hoch ist demnach der Schutzfaktor nach der Zweitimpfung mit dem am häufigsten verwendeten Impfstoff drei Monate, sechs Monate und neun Monate nach der Zweitimpfung? Es wird jeweils um Angabe der absoluten und der relativen Risikoreduktion ersucht.
7.5. Wie hoch ist der Anteil der Erst-, Zweit- bzw. Drittgeimpften an den wegen COVID-19 bzw. den mit SARS-CoV-2 hospitalisierten Personen?
7.6. Es scheint dem Stand der Wissenschaft zu entsprechen, dass sich auch Personen mit COVID-Schutzimpfung mit SARS-CoV-2 infizieren, an COVID-19 erkranken und SARS-CoV-2 übertragen können. Um welches Mass sinkt durch die COVID-Schutzimpfung jeweils das Infektions-, das Erkrankungs- und das Übertragungsrisiko? Es wird um nähere Aufschlüsselung ersucht, falls dieses Mass von der Zahl der Impfungen und/oder vom verstrichenen Zeitraum seit der letzten Impfung abhängt.
8.1. Mit welcher Wahrscheinlichkeit schliesst ein negativer molekularbiologischer Test auf SARSCoV-2 (§ 2 Abs. 2 Z 3 der 6. COVID-19-SchuMaV idF BGBl. II 24/2022) aus, dass die getestete Person innerhalb von 72 Stunden ab Testnahme andere Personen mit SARS-CoV-2 infizieren kann?
Unter Berücksichtigung der Inkubationszeit: Wie lange ab (negativer) Testnahme ist es (mit höchster Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen, dass eine negativ getestete Person SARS-CoV-2-Viren überträgt?
8.2. Wie hoch ist das Übertragungsrisiko bei einer mit SARS-CoV-2 infizierten Person mit Zweitimpfung, die drei, sechs bzw. acht Monate zurückliegt, im Vergleich zu einer ungeimpften Person, deren negativer PCR-Test 24 Stunden zurückliegt?
9.1. Wie hoch ist das COVID-bezogene Hospitalisierungsrisiko (Normalstation bzw. Intensivstation) eines ungeimpften 25-Jährigen im Zeitraum eines Jahres?
9.2. Wie hoch ist das COVID-bezogene Hospitalisierungsrisiko (Normalstation bzw. Intensivstation) eines zweifach mit dem in Österreich gebräuchlichsten Impfstoff geimpften 25-Jährigen im dritten, sechsten bzw. neunten Monat nach der Zweitimpfung, umgerechnet auf den Zeitraum eines Jahres?
9.3. Wie hoch ist das COVID-bezogene Hospitalisierungsrisiko (Normalstation bzw. Intensivstation) eines ungeimpften 65-Jährigen im Zeitraum eines Jahres?
9.4. Wie hoch ist das COVID-bezogene Hospitalisierungsrisiko (Normalstation bzw. Intensivstation) eines zweifach mit dem in Österreich gebräuchlichsten Impfstoff geimpften 65-Jährigen im dritten, sechsten bzw. neunten Monat nach der Zweitimpfung, umgerechnet auf den Zeitraum eines Jahres?
9.5.1. Der sogenannte «Lockdown für Ungeimpfte» kann eine Infektion z.B. in der Familie oder in der Arbeit nicht ausschliessen, wohl aber etwa im Gasthaus. Bezogen auf die Zuordnung von Infektionsrisiken zu Lebensbereichen (oben 5): Um wieviele Prozentpunkte reduziert der «Lockdown für Ungeimpfte» das Infektionsrisiko einer ungeimpften Person (Basis: Infektionsrisiko ohne «Lockdown für Ungeimpfte» = 100)?
9.5.2. Der «Lockdown für Ungeimpfte» dürfte unter anderem auf der Überlegung basieren, dass Personen ohne COVID-Schutzimpfung ein höheres Hospitalisierungsrisiko haben als geimpfte Personen, womit ein höheres Risiko für das Gesundheitssystem einhergehen dürfte. Nun dürfte das Hospitalisierungsrisiko auch erheblich vom Alter abhängen. Die Durchimpfungsraten dürften nach Alterskohorten unterschiedlich sein. Jedenfalls dürfte die Durchimpfungsrate über alle Altersgruppen gerechnet bei rund 75 Prozent «Zweitgeimpften» liegen. Das Infektionsgeschehen dürfte ferner auf verschiedene Lebensbereiche unterschiedlich verteilt sein, wobei der «Lockdown» für Ungeimpfte nur bestimmte Infektionsquellen für diese ausschliessen dürfte. Unter Berücksichtigung dieser Parameter sowie des Masses der Risikoreduktion durch eine Zweitimpfung: Welchen in Prozenten ausgedrückten Effekt hat der «Lockdown für Ungeimpfte» auf die Spitalbelastung?
Oder in absoluten Zahlen: Das AGES-Dashboard weist für den 24. Jänner 2022 1049 COVID-19-Patienten auf Normalstationen und 194 COVID-19-Patienten auf Intensivstationen aus. Um wie viele Betten wäre die Bettenauslastung auf Normal- bzw. Intensivstationen voraussichtlich höher, gäbe es keinen «Lockdown für Ungeimpfte»?
10. Die Tageszeitung «Der Standard» berichtete am 2. Dezember 2021 unter der Überschrift «Weniger COVID-19-Opfer als letzten Herbst, aber höhere Übersterblichkeit», dass es gegenüber dem Vorjahr um ein Drittel weniger COVID-19-Todesfälle gebe, zugleich aber eine wöchentliche Übersterblichkeit im dreistelligen Bereich. Trifft dies zu? Falls ja, wie hoch war die nicht durch an COVID-19 verstorbenen Personen erklärbare Übersterblichkeit in Summe im Jahr 2021, und wie erklärt sich diese Übersterblichkeit?
Wien, am 26. Jänner 2022
Vom Verfassungsgerichtshof:
Dr. Hauer
Ergeht an:
1. Bundesminister für Soziales, Gesundheit,
Pflege und Konsumentenschutz,
Stubenring 1, 1010 Wien;
2. Mag. Ulrike Reisner ua., zu Hdn. RA Stix
Rechtsanwälte Kommandit-Partnerschaft,
Rotenmühlgasse 11/10, 1120 Wien, z.K.