Frankreich ist für vier Jahre blockiert

Thierry Meyssan (Bild réseau voltaire)

Präsident Macron hat seine verfassungsmässige Autorität wissentlich zerstört

von Thierry Meyssan,* Frankreich

(6. April 2023) Die Krise, die Frankreich derzeit durchlebt, ist nicht bloss eine weitere Etappe in einem ewig unruhigen Land. Es handelt sich um eine grundlegende Regierungskrise, die nur durch den Beginn einer neuen Gesellschaft überwunden werden kann. Das Land wird mehrere Jahre der Blockierung durchlaufen, bevor es sich auf eine umfassende Umgestaltung einlassen wird, eine Revolution, die mindestens eine Generation dauern wird.

Seit mehreren Wochen kommt es in Frankreich immer wieder zu Riesendemonstrationen. An den Tankstellen vieler Departements gibt es keinen Treibstoff mehr und hunderte Tonnen Müll stapeln sich im Zentrum der Grossstädte.

Präsident Emmanuel Macron ist es gelungen, eine kleine Rentenreform durchzusetzen. Dieser Text löst kein einziges Problem und schafft viele Ungerechtigkeiten. So können beispielsweise Personen, die mit 16 Jahren eine Erwerbstätigkeit begonnen haben, nur mit einer höheren Anzahl von Arbeitsjahren in Rente gehen als Personen, die mit 18 Jahren begonnen haben zu arbeiten. In einem Land, das die Gleichberechtigung liebt, hätte dieser Text nicht verabschiedet werden dürfen.

Macron schafft absichtlich eine Pattsituation

Präsident Macron hat absichtlich eine Pattsituation geschaffen, aus der es für niemanden einen Ausweg gibt. Seine Regierung empfing während anderthalb Jahren alle Gewerkschaften und hat alle ihre Vorschläge abgelehnt. Er hat Grossdemonstrationen im ganzen Land miterlebt, vor allem in mittelgrossen Städten, ohne zu reagieren. Dann spielten er und die NUPES [Koalition der linken Parlamentsabgeordneten] mit dem Zeitplan, damit die Abgeordneten nicht in erster Lesung über den Text abstimmen konnten, und schliesslich missbrauchte er eine Ausnahmebestimmung der Verfassung, um den Text in zweiter Lesung durchzusetzen.

Zu diesem Zweck forderte er seine Premierministerin Elisabeth Borne auf, die Verantwortung ihrer Regierung vor der Nationalversammlung gemäss Artikel 49-3 der Verfassung zu übernehmen. Dieser Artikel wurde von seinen Verfassern für bestimmte Notsituationen geschaffen, die nichts mit der jetzigen Lage zu tun haben. Zweifellos hätten Charles de Gaulle und Michel Debré ihn unter solchen Umständen nie aktiviert.

Nach der Abstimmung fehlten nur 9 Stimmen der 577 Abgeordneten, damit der Misstrauensantrag gegen die Regierung zu deren Rücktritt geführt hätte. Der Text, der der Versammlung nie zur Abstimmung vorgelegt worden war, galt somit automatisch als «angenommen».

«Von nun an ist das Land zweigeteilt»

Dieser Coup reiht sich in eine lange Reihe von Diktaten ein, die von den Unterdrückungsmassnahmen gegen die «Gelbwesten»-Bewegung über den Lockdown der gesunden Bevölkerung während der Covid-19-Epidemie bis hin zu einer Serie von Verordnungen und dem Missbrauch des Verfassungsartikels 49-3 (11 Mal in anderthalb Jahren) reichen. Selbst die Franzosen, die von den Rechtfertigungen für die vorübergehende Einschränkung ihrer Freiheiten überzeugt waren, finden nun, dass das Mass voll ist.

Von nun an ist das Land zweigeteilt. Auf der einen Seite steht ein kleines Drittel der Bevölkerung, das keine Probleme hat und sich wünscht, dass Emmanuel Macron dafür sorgt, dass sich das System weiterhin zu ihren Gunsten entwickelt. Auf der anderen Seite befinden sich die restlichen zwei Drittel der Bevölkerung, nicht mehr nur feindlich eingestellt, sondern sich in einem gemeinsamen Hassgefühl wiederfindend. Diese Entwicklung der kollektiven Gefühle und die Einheit, die sie hervorruft, sind neu.

Aus seiner Sicht hat der Präsident gewonnen, weil sein Gesetz nun «verabschiedet» ist. Doch in der Praxis hat er verloren, weil er alle Gewerkschaften und das, was an volksnahen politischen Parteien im Land zählt, gegen sich aufgebracht hat. Unterstützt wurde er nur von Parlamentariern, die Mitglieder seiner Partei Renaissance (ehemals La République en Marche) sind, und einigen wenigen, die behaupten, der ehemaligen gaullistischen Partei Les Républicains anzugehören. 8 bis 9 von 10 Franzosen sind gegen diesen Gesetzestext und sind nun überzeugt, dass die Exekutive sie völlig vernachlässigt.

Präsident hat das Volk verraten

Die Republik im authentischen Sinne des Wortes ist ein Regierungssystem, das das allgemeine Interesse über alles stellt. Indem er das Land derart spaltet, hat der Präsident sie verraten. Die Demokratie ist eine Form der politischen Ordnung, die dem Volk eine Stimme verleiht. Auch sie hat er verraten. Die Situation ist nun blockiert und das Land ist unregierbar geworden. In den kommenden Monaten oder sogar Jahren können keine wichtigen Entscheidungen mehr getroffen werden.

Einzig der Rückgriff auf das Volk kann demokratische Institutionen wieder funktionsfähig machen. Die Verfassung der Fünften Republik sieht dafür mehrere Lösungen vor. Der Präsident könnte das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen. Aber mit Sicherheit würde seine Partei dadurch zerrieben werden. Er könnte auch ein Referendum einberufen, aber er würde es zweifellos verlieren. Er wird deshalb nichts unternehmen, sich im Elysée-Palast einschliessen und Feste feiern.

Rentenreform markiert das Scheitern

Die Rentenreform markiert das Scheitern der Macron-Methode: Der Präsident versprach, sich über die Rechts/Links-Kluft zu stellen, aber er zeigte nur, dass er weder die einen noch die anderen zufrieden stellen kann.

Die Kommentatoren fragen sich, warum Emmanuel Macron freiwillig in diese Falle getappt ist. Welches Ziel verfolgte er? Auf diese Fragen gibt es keine politische Antwort. Vielleicht eine wirtschaftliche Antwort: Er will die kapitalgedeckte Rente vorantreiben, indem er die umlagefinanzierte Rente sabotiert. Vielleicht eine psychologische Antwort: Er ist dem Schicksal anderer gegenüber gleichgültig und liebt sie zu schockieren (während seiner ersten Wahlperiode hatte ich schon auf sein soziopathisches Verhalten hingewiesen). Wenn man diese Hypothese in Betracht zieht, wird er erst dann Ruhe finden, wenn er die Verfassung von 1958 völlig diskreditiert und die Gewissheit erlangt haben wird, der letzte Präsident der Fünften Republik zu sein.

US-Agent, Kleinbürger und Investmentbanker an der Spitze des Landes

Emmanuel Macrons politischer Selbstmord und sein Wille, das Land mit ihm zusammenbrechen zu lassen, verschleiern eine tiefgehende Krise. Es ist kein Zufall, dass die Franzosen nacheinander – zuerst einen US-Agenten, Nicolas Sarkozy, der die Unabhängigkeit Frankreichs zerstört und das Ergebnis des Referendums über die Europäische Verfassung annulliert hat, indem er denselben Text durch das Parlament verabschieden liess; dann einen «petit bourgeois» [Kleinbürger], François Hollande, der die Präsidentschaft der Republik in eine Posse verwandelte; und schliesslich einen Investmentbanker, der den Elysée-Palast in einen Empfangsraum für Cocktails von US-Multimilliardären verwandelt hat – an die Spitze des Landes gewählt haben.

Viermal (Emmanuel Macron wurde wiedergewählt) übernahmen die Franzosen die Verantwortung für diesen Abstieg in die Hölle. Sie waren davon überzeugt, dass ihr Land keine grosse Persönlichkeit, sondern nur kleine Reformen benötigte, um wieder in Ordnung gebracht zu werden.

Heute müssen sie mit einer Inflation bei Lebensmitteln und Energie von 20 bis 25 Prozent zurechtkommen. In mehr als der Hälfte der Regionen gibt es kaum mehr Ärzte und die Spitäler schliessen ihre Notaufnahmen. Vor allem aber stellt jeder fest, dass nichts mehr funktioniert: Das Schulniveau ist gefährlich tief gesunken, die Polizei schafft es nicht mehr, für Ordnung zu sorgen, die Justiz ist erst in zwei Jahren wieder handlungsfähig, und die Armee ist nicht in der Lage, auf einen Krieg mit hoher Intensität zu antworten. Die Probleme sind so zahlreich, dass man nicht weiss, wo man anfangen soll.

Öffentliche Dienste können nicht mehr repariert werden

Die Franzosen beginnen zu begreifen, dass man die öffentlichen Dienste nicht reparieren kann, sondern sie den neuen Realitäten entsprechend überdenken muss: Digitalisierung der Produktionsmittel und Globalisierung des Handels. Für die einen begann die Krise 2007, als das Parlament einen Text verabschiedete, der in einem Referendum abgelehnt worden war, für die anderen 2005 mit den Unruhen in den Pariser Vorstädten oder 1990 mit der Beteiligung Frankreichs am Golf-Krieg der USA. In jedem Fall ist das Land nicht mit dem zufrieden, was aus seiner politischen Klasse geworden ist, und noch weniger mit der Politik, die sie betreibt.

Emmanuel Macron, der mit dem Versprechen gewählt wurde, das Land zu modernisieren, erscheint heute als derjenige, der die Transformation Frankreichs blockiert, der die Entstehung einer neuen Gesellschaft verhindert.

Die Franzosen, die 1789 die Initiative ergriffen, um das «Ancien Régime» zu stürzen und eine moderne Gesellschaft zu schaffen, hoffen, eine weitere Initiative zu ergreifen, um eine neue Welt zu schaffen. Sie erkennen verschwommen, dass sich Afrika von der Vorherrschaft der französischen Regierung befreit sowie Russland und China die internationalen Beziehungen neu organisieren – aber sie sind kaum über diese Themen informiert.

Dialog der «Gehörlosen»

Es ist erstaunlich, ihren Durst nach einem neuen Paradigma und ihre Angst vor dem Absturz in eine gewalttätige Revolution zu beobachten. Um diese Krise zu lösen, würde es ausreichen, wenn ihre politische Klasse auf sie hörte, wie es König Ludwig XVI. zu Beginn der Revolution tat. Aber wir erleben einen Dialog der «Gehörlosen». Während der gesamten Verhandlungen über die Rentenreform hat die Regierung den Gewerkschaften keinerlei Zugeständnisse gemacht. Im Parlament hat sie jedoch die Änderungsanträge vervielfacht und damit den Dialog mit dem Volk in eine interne Debatte der politischen Klasse verwandelt. Diese Haltung hat alle Türen für einen friedlichen Ausgang verschlossen.

Die Franzosen haben bereits die Sinnlosigkeit der «grossen Diskussionsrunden» und anderer «Bürgerversammlungen» kennengelernt. Präsident Macron hat sie schon mehrfach einberufen. Sie haben daran teilgenommen, aber ihre Vorschläge gingen in einem bürokratischen Labyrinth verloren. Es wird also nicht möglich sein, ihnen diese «bezaubernde» Inszenierung noch einmal zu bieten.

In den kommenden Monaten und Jahren wird sich nichts mehr bewegen lassen. Die Regierung wird keine Texte mehr durch das Parlament bringen können und ihre Beamten werden ihr ohnehin nicht mehr gehorchen. Sie werden unbequeme Dossiers ganz unten auf die Stapel legen und sie verschleppen. Die Franzosen werden nicht noch mehr protestieren können, ohne dass eine wilde Repression über sie hereinbricht, wie es bereits bei den Gelbwesten der Fall war.

Die Europawahlen im Jahr 2024 und die Kommunalwahlen im Jahr 2026 bieten die Gelegenheit, den Amtsinhaber im Elysée-Palast vor seinem Rücktritt im Jahr 2027 weiter zu isolieren. Es sei denn, er erkennt an, dass die einzige Möglichkeit, die Blockade im Land zu lösen, sein Rücktritt ist.

* Thierry Meyssan ist Politischer Berater und Gründungspräsident des Voltaire Netzwerk. Sein aktuellstes Buch in Französisch heisst «Sous nos yeux – Du 11-Septembre à Donald Trump» und liegt auch auf Englisch vor.

Quelle: https://www.voltairenet.org/article219037.html, 21. März 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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