Libanon
Gedanken im Flug
von Karin Leukefeld,* Beirut
(29. November 2024) (Red.) Die Nahostkorrespondentin Karin Leukefeld ist wieder zurück im Libanon. In ihrem neuesten Text «Gedanken im Flug» setzt sie sich mit den Auswirkungen des Nahostkonflikts auf den Libanon auseinander. Durch die Perspektive einer Reisenden werden die Zerstörung, das Leid der Menschen und die Hintergründe eines jahrzehntelangen Konflikts beschrieben. Dies schafft Raum für Reflexion über die Verantwortung der internationalen Politik und die Konsequenzen kolonialer Machtstrukturen.
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Der Flug war ruhig. Die Flugbegleiterinnen freundlich wie immer, die Passagiere waren in Gedanken, in Schlaf oder in leise Zwiegespräche versunken. Nur zwei Babies protestierten lautstark bei Start und Landung – dann soll der Druck auf das Trommelfell der kleinen Reisenden schmerzhaft hoch sein.
Der Pilot hätte ruhiger nicht sein können. Ausser den vorgesehenen Anweisungen an die Flugbegleitung vor dem Start und vor der Landung war von ihm während des ganzen Fluges nichts zu hören. Der langsame Anflug auf den Internationalen Flughafen von Beirut führte von der türkischen Mittelmeerküste über die Insel Zypern. Gigantische Wolkentürme ragten über der Insel empor, deren nördlicher Teil seit 1974 von der Türkei besetzt ist. Im Gegensatz zu den schwarzen Wolken, die die Luftangriffe der israelischen Kampfdrohnen und Kampfjets über dem Libanon aufsteigen lassen, waren die Wolkentürme am späten Nachmittag über Zypern in ein warmes Rot der untergehenden Sonne gefärbt.
Erst kurz vor der libanesischen Küste lenkte der Pilot die Maschine nach Süden, um den Internationalen Flughafen Rafik Hariri anzusteuern. Lichter blinkten entlang der Küste, über dem Hafen von Beirut und über der Stadt, die die Maschine bei Ras Beirut erreichte. Die Passagiere waren still, alle versuchten, durch die Fenster einen Blick auf ihr geschundenes Land zu erhaschen. Die Landung war kaum zu merken, lediglich die scharfe Bremsung deutete dann doch darauf hin, dass der Pilot die Maschine nicht weiter Richtung Süden auslaufen lassen wollte. Südlich und östlich des Flughafens herrschte tiefe Dunkelheit. Hier ist Dakhieh – im Deutschen ausgesprochen Dachieh – hier liegen die südlichen Vororte von Beirut, die die israelische Armee seit Ende September angreift.
Kein einziger Schuss, keine Rakete, keine Mörsergranaten wurden von hier auf Israel abgefeuert, und doch ist die Bevölkerung dieser Viertel zum Ziel Nummer 1 für Israel geworden. Mehr als eine Million Menschen aus Dakhieh und aus dem Süden des Landes leben heute als Inlandsvertriebene im Norden und Osten von Beirut, in Dörfern der Libanonberge oder nördlich der Hafenstadt Tripoli. Zehntausende sind über die Grenze nach Syrien geflohen, zusammen mit mehr als 400 000 syrischen Flüchtlingen, die zunächst vor dem Syrienkrieg in den Libanon geflohen waren. Nun kehren sie in ihre kriegszerstörte Heimat zurück, um sich vor den israelischen Angriffen in Sicherheit zu bringen. Zwei der drei offiziellen Grenzübergänge zwischen Libanon und Syrien hat Israel zerbombt. In Syrien halten die israelischen Bombardierungen an. Im Nordosten Syriens bombardiert die türkische Armee kurdische Stellungen, und im Osten Syriens entlang der Grenze zum Irak bombardiert die US-Armee. Begründet werden die Angriffe je nach Lage mit Waffenschmuggel der Hisbollah (Israel), mit Gefahr für die nationale Sicherheit (Türkei) oder mit Angriffen von iranischen Milizen oder Angriff auf den Islamischen Staat (USA). Die Sicherheit der Bevölkerung im Libanon, Syrien und Irak spielt schon lange keine Rolle mehr. Und wenn diese sich mit sogenannten «nicht-staatlichen» Akteuren wehren – weil ihre nationalen Armeen zu schwach und schlecht ausgerüstet sind – werden diese als «Terrororganisationen» zum Abschuss freigegeben.
Begonnen hat alles mit der Teilung der Region nach dem Ersten Weltkrieg und mit der Zerstörung Palästinas durch das zionistische koloniale Siedlerprojekt namens Israel, das Ende des 19. Jahrhunderts begann und dessen brutaler Charakter im Gazastreifen heute deutlich sichtbar ist. Unterstützt wird Israel von seinen grossen Vorbildern Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und vor allem von den USA. Deren koloniale Vergangenheit ist das Lehrbuch des Vernichtungskrieges, der sich vor den Augen der Welt gegen die Palästinenser und auch gegen die Libanesen abspielt.
Ein Tag in Beirut
Der Flug landet in den frühen Abendstunden des 17. November 2024. Mit einem deutschen Pass ist die Einreise in den Libanon normalerweise kein Problem. Doch im Krieg werden die ausländischen Einreisenden nach ihrem Beruf gefragt, und Journalisten müssen sich zunächst bei der Allgemeinen Sicherheit – dem Libanesischen Geheimdienst – vorstellen, um ihre Akkreditierungsschreiben vorzulegen. Während der Wartezeit treffen Dutzende Blauhelm-Soldaten in der Wartehalle ein und passieren – vorbei an der wartenden Autorin – in geordneten Reihen den Durchgang für Diplomaten und UN-Personal. Die kleinen, aufgenähten Flaggen an den Uniformschultern weisen die Soldaten als Spanier aus.
Auf der Fahrt in die Stadt tauschen der Fahrer A. und die Autorin erste Neuigkeiten aus. Mohammad Afif, Leiter des Medienbüros der Hisbollah, wurde am frühen Nachmittag mit einem gezielten Drohnenangriff ermordet. Am Abend attackierte eine israelische Drohne mit Raketen eine Wohnung und einen darunterliegenden Computerladen in dem dicht bewohnten Stadtviertel Mar Elias.
A. und sein Bruder B. – die Namen beider sind der Autorin bekannt – haben in einem Dorf in den Bergen östlich von Beirut Zuflucht gefunden. Ihr Elternhaus in einem Dorf südlich von Sidon wurde bei den israelischen Luftangriffen teilweise zerstört. Seit mehr als einem Monat haben sie keine Neuigkeiten aus ihrem Heimatort. Unterstützung bekommen die Brüder für sich und ihre Familien von Verwandten, die im Ausland leben. Ein geflügeltes Wort im Libanon lautet: «Wen Allah liebt, dem gibt er Angehörige im Ausland». Als junge Männer unterstützten A. und B. ihre Familien während des Bürgerkrieges durch ihre Arbeit im Ausland. Nun ist es die Aufgabe der nächsten Familiengeneration, ihren Angehörigen zu helfen.
Jeder freie Fleck entlang der Strassen vom Flughafen in die Stadt ist mit Autos zugeparkt. Die Inlandsvertriebenen aus dem Südlibanon und aus Dakhieh sind nicht arm, viele haben Jahrzehnte irgendwo auf der Welt gearbeitet, um mit dem Erlös ihrer Arbeit ein Haus in der Heimat zu bauen. Sie haben Geschäfte, ein Hotel oder Sporteinrichtungen eröffnet, oder sie haben Obstplantagen angelegt, um den lokalen Markt zu bedienen. Am wichtigsten war und ist den Leuten, ihr hart verdientes Geld so anzulegen, dass es für sie, die Kinder und die Eltern ein besseres Leben ermöglicht. Nun geben sie ihre Ersparnisse für Notunterkünfte aus.
Die Nacht bleibt unruhig. Mit zwei schweren Angriffswellen entladen israelische Drohnen und Kampfjets ihre tödliche Fracht über den südlichen Vororten von Beirut. Wegen der massiven und tödlichen Angriffe am Vortag auf die Stadtviertel Mar Elias und Ras al Nabeh, unweit der französischen Botschaft und des französischen Krankenhauses, erklärt das Bildungsministerium die Schliessung aller Schulen in Beirut für zwei Tage. Beide Stadtviertel liegen innerhalb der offiziellen administrativen Grenze von Beirut, die Bombardierungen wurden ohne jegliche Vorwarnung von Israel verübt.
In Mar Elias wurde bei dem Angriff der Hauptrouter für die Internetversorgung der betroffenen Strasse und Nebenstrassen zerstört, berichtet C., der mit seiner Familie aus einem Dorf der südlichen Provinz Nabatieh fliehen musste. Sein Name ist der Autorin bekannt. Endlich hatte er wieder online am Schulunterricht teilnehmen können, wie er der Autorin erzählte. Weil es sein letztes Schuljahr vor dem Baccalauréat ist, vergleichbar mit dem deutschen Abitur, ist der Unterricht für C. von existenzieller Bedeutung. Nun ist die Verbindung zum Online-Unterricht gekappt, und es ist wird dauern, bis die zuständige Stelle den Schaden beheben kann.
Der erste Weg am Morgen führt die Autorin in einen Kopierladen, um für das Pressezentrum des Informationsministeriums den Pass mit Einreisestempel und das Beglaubigungsschreiben der Zeitung zu kopieren. Auf dem Weg öffnet der Himmel über Beirut seine Schleusen, und es schüttet so sehr, dass der Kauf eines Regenschirms (made in China) angesagt ist. Die Inlandsvertriebenen, vor allem die Männer, die vor den Häusern sitzen, in denen sie Zuflucht gefunden haben, ziehen sich zurück in die Hauseingänge. Wie mögen die Familien sich schützen, die in selbstgebastelten Zelten an der Strandpromenade oder entlang den Strassen ausharren? Wo werden sie schlafen, wenn mit dem Winter die Regenzeit beginnt?
Ausgestattet mit den notwendigen, offiziellen Papieren fährt A. am Nachmittag mit der Autorin zu den Orten, die am Vortag bombardiert wurden. In Mar Elias ist das Gebäude mit dem Computerladen und dem Appartement, in dem zwei Menschen von den israelischen Drohnen getötet worden waren, schwarz verrusst. Als sei es von einem Feuerball eingehüllt worden. Vor dem Gebäude parkende Autos sind zerstört, Polizei und Armee haben die Strasse abgesperrt, wo Vorbeigehende stehen bleiben und die Zerstörung betrachten. Jeder hier kennt den Computerladen. Es heisst, der Inhaber sei der Bruder eines Offiziellen in der Hisbollah gewesen. Für Israel offenbar Grund genug, beide Männer und ihr Lebenswerk zu vernichten.
Den Anschlagsort in Ras al Nabeh/Ras Nabaa zu finden, gestaltet sich wie die Suche in einem Labyrinth. Das Wohnviertel, das nahe der französischen Universität Saint Joseph, des französischen Krankenhauses und der französischen Botschaft liegt, besteht aus scheinbar unzähligen schmalen Strassen und Gassen, in denen Hochhäuser mit bis zu 20 Stockwerken über niedrige, historische libanesische Stadthäuser hinausragen. Endlich findet A. die Gasse, die von Polizei und Armee vor dem zerstörten Gebäude abgesperrt ist. Ziel des Angriffs war das Haus der syrischen Baath Partei, ein dreistöckiges historisches Gebäude mit grünen Fensterläden. Im obersten Stockwerk schlugen die israelischen Raketen ein, abgefeuert von einer Drohne, die ohne Vorwarnung ihr Ziel ausgemacht hatte. Getötet wurde Mohammad Afif, Leiter des Medienbüros der Hisbollah. Mit ihm starben fünf weitere Personen.
Afif war ein unerschrockener Journalist und Medienschaffender, der seine Kenntnisse und seinen Mut seit vielen Jahren für die Hisbollah eingesetzt hatte. Westliche Journalisten zeigten sich empört über seine öffentlichen Pressekonferenzen zwischen den Trümmern von Dakhieh. Auch das Medienbüro der Hisbollah war Ziel der israelischen Angriffe geworden. Nur wenige Tage vor seiner Ermordung hatte er dort eine weitere Pressekonferenz unter freiem Himmel abgehalten, wohlwissend, dass Israel ihm mit der Ermordung gedroht hatte. Bezug nehmend auf die israelischen Drohungen, die Hisbollah zu vernichten, die im Libanon und darüber hinaus als «Widerstand» bekannt ist, hatte Afif erklärt: «Der Widerstand ist eine Nation, und eine Nation wird niemals sterben.» Auf der Webseite des Nachrichtensenders Al Manar, den Afif mit aufgebaut hatte, hiess es in Erinnerung an Afif, er sei «ein Löwe im Medienbereich» gewesen, eine herausragende Persönlichkeit.
In libanesischen Medien tauchte in Artikeln die Frage auf, ob eine so gefährdete Person überhaupt in Wohnvierteln sein dürfe, wo sie «alle gefährdet». Kazim Issa, ein 80-jähriger pensionierter Lehrer und Nachbar des angegriffenen Hauses, sagte auf eine diesbezügliche Frage der Autorin: «Wenn jemand eines Verbrechens beschuldigt wird – ob zu Recht oder zu Unrecht – ist es nicht zulässig, beliebig ein Haus, eine Menschenmenge oder irgendwo im zivilen Leben anzugreifen, um diese Person zu töten.» In anderen Staaten gäbe es einen Haftbefehl, eine Festnahme und ein Gerichtsverfahren, um die Schuld der Person festzustellen. Er sei in diesem Viertel aufgewachsen und habe als Kind von seinen Eltern gelernt, wie ein respektvolles und friedliches Zusammenleben aussieht. «Dort haben wir eine Kirche, dort haben wir eine Moschee für Sunniten, und hier haben wir eine Moschee für Schiiten», beschreibt der Mann seine Umgebung. Er habe gelernt – und auch seinen Schülern beigebracht – dass es Regeln für die Kriegsführung und für friedliches Zusammenleben gebe.
«Nehmen wir an, ich will etwas von Dir, dann kann ich es mir nicht einfach nehmen. Ich darf nicht einfach Deine Familie töten, die dort lebt.» Heute seien diese Regeln den Mächtigen und Reichen offenbar unbekannt, fährt der Lehrer fort. Sie seien gierig, würden stehlen, würden die Menschen nur für ihre eigenen Interessen benutzen, deren Leben und Schicksal ihnen egal wären. Glaube und Überzeugung seien ihnen unbekannt, sie seien nur an Geld und Macht interessiert. Auf die Frage, ob die «Mächtigen und Reichen» eine Nationalität hätten, winkt Kazim Issa ab. Sie hätten keine Nationalität, keine Religion, keine Werte, wie die menschliche Zivilisation sie für das Zusammenleben hervorgebracht hätten. Dann bedankt er sich dafür, dass die Autorin einen langen Weg gekommen sei, um mit ihm, einem einfachen Libanesen, zu sprechen und zu hören, was er zu sagen habe. «Es ist gut, dass Sie nicht einfach glauben, was die Medien so berichten.»
Es wird langsam dunkel, als die Autorin und A. ein Lager für 3000 Inlandsvertriebene in der neu restaurierten Altstadt von Beirut «Downtown» erreichen. Die Menschen sind in einem Bürogebäude der ehemaligen Antra Bank untergebracht und werden umsichtig versorgt. In Gesprächen mit einer Gruppe Studierender, einer Lehrerin und dem Leiter der Einrichtung werden viele Details und Probleme berichtet, über die später berichtet werden soll.
Am Abend erreicht die Autorin erneut die Nachricht von einem israelischen Raketenangriff im Zentrum von Beirut. Der Schüler C., der in Mar Elias Zuflucht gefunden hat, berichtet, er sei auf dem Rückweg von der Moschee gewesen, als zwei Raketen, abgeschossen von einer Drohne, in einem nahe gelegenen Gebäude in Zokak al-Blat eingeschlagen seien. «Wieder dieser grauenhafte Lärm und Terror», schreibt C. Und eine andere Bekannte berichtet kurz darauf: «Ziel war das Hauptquartier der Hilfsorganisation Al-Zahra. In dem Gebäude befanden sich Lebensmittel, Matratzen und Decken für die Vertriebenen.» Das libanesische Gesundheitsministerium berichtet von fünf Toten und mindestens 18 Verletzten, die in der Einrichtung gearbeitet hatten.
Der 18. November 2024 in Beirut geht zu Ende mit der Nachricht, dass israelische Raketen ein weiteres Mal im Zentrum eingeschlagen hätten. Dieses Mal traf es ein Gebäude unweit des Hauptquartiers des libanesischen Ministerpräsidenten Najib Mikati, der nur vorübergehend die Amtsgeschäfte führt, bis ein neuer Präsident gewählt ist. Mikati und sein Team bereiteten sich vermutlich auf ein Treffen mit dem Sonderbeauftragten von US-Präsident Joe Biden, Amoz Hochstein, vor, der am Dienstag, dem 19. November, in Beirut erwartet wird. Angeblich soll es um einen Waffenstillstand gehen.
* Karin Leukefeld hat Ethnologie sowie Islam- und Politikwissenschaften studiert und ist ausgebildete Buchhändlerin. Sie hat Organisations- und Öffentlichkeitsarbeit unter anderem beim Bundesverband Bürgerini-tiativen Umweltschutz (BBU), bei den Grünen (Bundespartei) und bei der Informationsstelle El Salvador. Sie war auch Persönliche Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten der PDS (Aussenpolitik und Humanitäre Hilfe). Seit 2000 arbeitet sie als freie Korrespondentin im Mittleren Osten für verschiedene deutsche und schweizerische Medien. Sie ist auch Autorin verschiedener Bücher zu ihren Erlebnissen aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens. |
Quelle: https://www.nachdenkseiten.de/?p=125054, 21. November 2024