Pädagogik

Gute Lesekenntnisse sind entscheidend wichtig

Michael Felten (Bild zvg)

Warum Smartphone & Co den Kindern so sehr schaden (nicht nur weil sie selbst davor kleben…)

von Michael Felten,* Deutschland

(19. Juli 2023) Grundschüler lesen zunehmend schlechter. Aktuelle Leistungsvergleichsstudien zeigen auf, dass der Anteil der Kinder, die die Mindeststandards nicht erreichen, immer grösser wird – jeder vierte Viertklässler kann nicht richtig lesen.

Woran liegt das? Lehrerverbände verweisen auf den Lehrkräftemangel, Politikerinnen und Politiker wie Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) auf die Corona-Krise, auf Integration und Inklusion. Unser Gastautor, der Publizist und Pädagoge Michael Felten, sieht noch einen anderen Zusammenhang: mit dem Siegeszug des Smartphones nämlich.

Lesekrise – oder: das «Daddeln» der anderen

Zuerst war’s der IQB-Bildungstrend 2021,1 kürzlich legte IGLU2 nach: Immer weniger Viertklässler können beim Übertritt in weiterführende Schulen richtig lesen, immer stärker unterscheiden sich bessere und schlechtere Leser. Dabei hängt vom guten Lesen fast alles im weiteren Leben ab. Nicht zuletzt geht’s hier um Bildungsgerechtigkeit.Belastungen durch Migration und Pandemie mögen mitgewirkt haben, aber der Abstieg der Grundschule zeigte sich schon seit 2011. Auch die vielerorts missglückte Inklusion wird ihren Teil beigetragen haben. Dennoch scheint es, als werde bisher Wichtiges übersehen. Es gibt nämlich einen «Elefanten im Raum», über den niemand spricht!

Tatsächlich fällt der Rückgang der Leseleistungen von Viertklässlern auffällig zusammen mit dem Siegeszug von Smartphone & Co. Eigentlich ist es ja offensichtlich: Das «Daddeln» der Erwachsenen bindet zunehmend die Aufmerksamkeit familiärer Bezugspersonen – was wiederum das elterliche Bindungsverhalten und damit das Lernverhalten der Kinder beeinflusst.

«Wir brauchen mehr professionell gestaltete Bücher und müssen davon wegkommen, dass die Schüler selbst im Internet nach Informationen suchen»

Folgen wir einmal in Ruhe der Biografie eines im Frühjahr 2021 getesteten Viertklässlers – ich nenne ihn Paul. Die Digitalisierung des Unterrichts selbst war für ihn noch das geringere Problem – mangels Verbreitung. Zwar drängen die Medienkonzerne über ihre Verbindungsleute in Ministerien und an Schulen mächtig darauf, auch schon jüngere Schüler mit technology zu beglücken.

Aber hiesige Kinderärzte3 warnen deutlich, und der jüngste Faktencheck der Mercator-Stiftung4 benennt durchaus erhebliche Risiken eines digital gestützten Anfangsunterrichts. Deshalb tritt ein früheres Vorzeigeland wie Schweden5 nach IGLU merklich auf die Bremse. «Wir brauchen mehr professionell gestaltete Bücher und müssen davon wegkommen, dass die Schüler selbst im Internet nach Informationen suchen», so die Bildungsministerin des Landes.

Pauls Lesefähigkeit könnte auch dadurch gelitten haben, dass selbstgesteuertes Lernen im Anfangsunterricht lange hoch im Kurs stand. Zwar wird etwa «Lesen durch Schreiben» nach wissenschaftlicher Kritik6 zunehmend zurückgezogen, ja verboten – war indes im vergangenen Jahrzehnt durchaus noch en vogue.

Aber womöglich war Pauls Leben vor der Schule weitaus relevanter. Er wurde ja um 2011 geboren. Damals nutzten zwar erst gut ein Drittel7 der über 14-jährigen ein Smartphone, aber seine junge Mutter könnte gut dabei gewesen sein. Sie war also womöglich schon beim Stillen mit «Whatsappen» beschäftigt, anstatt mit Blickkontakt und Erzählen; ebenso wenn sie mit dem Jogger-Buggy unterwegs war, bei dem das Baby nicht mehr die Mimik der Mama sehen kann, sondern nur flüchtige Eindrücke von der Welt mitbekommt.

Später könnte ihm der junge Papa ein digitales Spielgerät in die Hand gedrückt haben, «damit sich das Kind später besser zurecht findet in einer Welt voller IT». Wenn es überhaupt einen Papa gab. Spätestens mit zwei ging’s dann ab in die Kita, auch wenn dort viel zu selten genug qualifiziertes Personal war – es musste ja dazuverdient werden, oder keiner wollte beruflich zurückfallen.

Schliesslich, bei den gemeinsamen Mahlzeiten am Abend – oder bei Ausflügen am Wochenende – wird der Junge immer öfter erlebt haben, dass seine Bezugspersonen irgendwie absorbiert waren – ständig hatten sie was nachzusehen, etwas zu posten, irgendwem Echo zu geben. Ihm würde also das fehlen, was Verhaltensforscher wie Michael Tomasello «geteilte Aufmerksamkeit» nennen – und als existenziell betrachten.

Nicht dass Sie denken, das wäre Seemannsgarn: Alles ist selbst erlebt, und zwar häufig – und auch Ihnen werden solche Beobachtungen nicht fremd sein. Dennoch hat dies zunächst nur anekdotische Relevanz. Aber: Es gibt auch Forschung dazu.

Die BLIKK-Studie8 etwa, eine empirische Querschnittstudie mit 5573 einbezogenen Kindern und Jugendlichen aus 79 Kinder- und Jugendarztpraxen, zeigte schon 2017 deutlich, dass Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen, körperliche Hyperaktivität und innere Unruhe bis hin zu aggressivem Verhalten in dem Masse zunehmen, wie digitale Medien im (Klein)Kind(es)alter genutzt werden.

Solche Korrelationen gelten zwar nicht als letzter Ursache-Wirkungs-Beweis. Indes gibt es weitere Hinweise: Einem systematischen Review der IPU Berlin9 zufolge reagieren Eltern bei der Nutzung portabler digitaler Geräte weniger feinfühlig und responsiv auf ihre Kinder, die elterliche Gerätenutzung führt zu Selbstregulationsstörungen der Kinder; dies «scheint mit Beeinträchtigungen des kindlichen Lernens einherzugehen».

Smartphones stehlen nicht nur Heranwachsenden viel Zeit, sie lassen auch die fürsorgliche Aufmerksamkeit der Erwachsenen verkümmern

Der digitale Raum bietet wunderbare Werkzeuge für Verschiedenstes, ist aber eine äusserst heikle Sphäre für Entwicklungsjahre. Und zwar weit über die Irritationen durch sex & crime hinaus, die die niedersächsische Digitalbotschafterin Silke Müller10 kürzlich so eindrucksvoll beschrieb. Smartphones stehlen nicht nur Heranwachsenden viel Zeit, sie lassen auch die fürsorgliche Aufmerksamkeit der Erwachsenen verkümmern.

«Momos» Graue Herren sind unter uns, in neuer Form – aber das wollen wir ungern hören; wir wünschen uns, dass die Geräte einfach nur praktisch sind – und wir nicht einzugreifen brauchen. Was uns ja auch ganz viele einreden – von denen, die technology verkaufen, bis zu denen, die durch Digitalität zu neuen Experten geworden sind.

Beim schlecht lesenden Viertklässler Paul können wir die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Aber im Hinblick auf Jüngere könnten wir unser aufklärerisches Potential als Multiplikatoren nutzen: Indem wir auf dem nächsten Elternabend den TOP «Digitalrisiko» unterbringen.

Gerade bildungsfernere Eltern wissen nicht um die erzieherische Tragik des «Daddelns» auf Seiten der Erwachsenen – insbesondere die vernachlässigende Absorbiertheit. Viele wären zudem dankbar, die 3-6-9-12-Faustregel11 des französischen Psychologen Serge Tisseron kennenzulernen:

Kein Fernsehen unter 3 Jahren, keine eigene Spielkonsole vor 6, Internet nach 9 und soziale Netzwerke erst ab 12. In den USA plädieren Elternverbände mittlerweile gar für «Wait until eighth!» oder «Wartet mit Smartphones bis zur 8. Klasse!». Das hört sich für manche unmöglich, für andere unmenschlich an – aber es täte den Kindern wohl gut.

Sogar ältere Internatsschüler waren laut einem Bericht der NZZ12 letztlich dankbar, als man ihnen den Gebrauch des Smartphones auf dem Campus verboten hat – weil sie dann mehr miteinander machten.

* Der Pädagoge und Publizist Michael Felten hat mehr als 30 Jahre an einem Gymnasium unterrichtet und ist jetzt als freier Schulentwicklungsberater tätig. Er publiziert unter anderem in der «Zeit» und auf dem «Deutschen Schulportal». Letzte Veröffentlichungen sind «Die Inklusionsfalle» (Gütersloh 2017) sowie «Unterricht ist Beziehungssache» (Reclam 2020) und «‹Schwierige Schüler›» (Reclam 2023). Online: www.eltern-lehrer-fragen.

Quelle: https://www.news4teachers.de/2023/06/iglu-schock-warum-smartphone-und-co-den-kindern-so-sehr-schaden-nicht-nur-weil-sie-selbst-davor-kleben/, 18. Juni 2023

1 IQB-Bildungstrend 2021: In dieser Studie wurde zum dritten Mal das Erreichen der Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) für den Primarbereich in den Fächern Deutsch und Mathematik überprüft. Damit ist es möglich, in Bezug auf das Erreichen zentraler Bildungsstandards in diesen Fächern für die Länder in der Bundesrepublik Deutschland Entwicklungstrends über einen Zeitraum von 10 Jahren zu beschreiben. (https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021)

2 IGLU= Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung: In dieser Studie wird das Lesevermögen von Schülerinnen und Schülern der 4. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich getestet. Die Testaufgaben berücksichtigten unterschiedliche Schwierigkeitsgrade des Textverstehens sowie zwei Textsorten, die Kinder in diesem Alter üblicherweise lesen: literarische Texte wie zum Beispiel Kurzgeschichten und informierende Texte wie zum Beispiel altersgerechte Lexikonartikel oder Faltblätter. Mit Hilfe von Fragebögen wurde zudem auch erfasst, wie gerne und wie häufig Kinder lesen.
Deutschland hat bereits fünfmal – in den Jahren 2021, 2016, 2011, 2006 sowie 2001 – an der Studie teilgenommen. Es kann somit ein Trend der mittleren Lesekompetenz über 20 Jahre betrachtet werden. Die Ergebnisse von IGLU 2021 wurden am 16. Mai 2023 veröffentlicht. (https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/bildung-im-schulalter/iglu-internationale-grundschul-lese-untersuchung/iglu-internationale-grundschul-lese-untersuchung_node.html)

3 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/140803/Kinderaerzte-wollen-Bildschirmfrei-bis-3

4 https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Publikatione/ Faktencheck_Lesen_und_Schreiben_lernen_in_der_digitalisiertenGesellschaft.pdf

5 https://table.media/bildung/news/nach-iglu-schweden-bremst-digitalisierung-der-schulen/

6 https://www.psychologie.uni-bonn.de/de/unser-institut/abteilungen/methodenlehre-und-diagnostik/mitarbeiter-1/tobias-kuhl/poster-buko-rechtschreiberfolg-nach-unterschiedlichen-didaktiken-21.09.2018

7 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/585883/umfrage/anteil-der-smartphone-nutzer-in-deutschland

8 https://www.bildungsserver.de/onlineressource.html?onlineressourcen_id=58628

9 https://www.vr-elibrary.de/doi/abs/10.13109/prkk.2022.71.4.305

10 https://deutsches-schulportal.de/schule-im-umfeld/silke-mueller-buch-tipp-wir-verlieren-unsere-kinder

11 https://shop.bzga.de/pdf/11041410.pdf

12 https://www.nzz.ch/feuilleton/auf-handy-entzug-in-der-schule-ld.1714002?reduced=true

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