Hunger, der die Sprache besiegt

von Husam Maarouf,* Gaza

(29. August 2025) (CH-S) «Das Aushungern der Zivilbevölkerung in Gaza wird Israel weder den angestrebten ‹vollständigen Sieg› über die Hamas bringen, noch lässt es sich mit den jüdischen Werten oder humanitärem Recht rechtfertigen.» Dies erklärte die Zentralkonferenz amerikanischer Rabbiner am 27. Juli 2025.

Husam Maarouf.
(Bild arablit.org)

Seit dem 2. März darf die UNRWA – als humanitäre Organisation der UNO – trotz der unbeschreiblichen Not in Gaza keine Hilfsgüter nach Gaza bringen, obwohl 6000 Lastwagenladungen an Hilfsgütern in Ägypten und Jordanien in den Lagerhäusern der UNRWA bereit stehen.

Der bekannte jüdische Genozidforscher, Professor Omar Bartov schrieb am 15. Juli in der «New York Times»: «Ich bin zu dem unausweichlichen Schluss gekommen, dass Israel Völkermord an den Palästinensern begeht. […] Die anhaltende Leugnung dieser Einstufung durch Staaten, internationale Organisationen sowie Rechts- und Wissenschaftsexperten wird nicht nur den Menschen in Gaza und Israel, sondern auch dem nach den Schrecken des Holocaust geschaffenen Systems des Völkerrechts, das solche Gräueltaten nie wieder zulassen soll, unermesslichen Schaden zufügen. Sie ist eine Bedrohung für die Grundlagen der moralischen Ordnung, auf die wir alle angewiesen sind.»

* * *

Der palästinensische Schriftsteller Husam Maarouf schildert eindrücklich, wie sich der Hunger auf sein eigenes Leben auswirkt.

Ich habe nie als Schriftsteller angefangen. Es war nie meine Absicht, mich über einen Beruf oder eine literarische Identität zu definieren. Ich schrieb einfach, weil das Schreiben für mich wie Luft zum Atmen war. Es war eine Möglichkeit, meinen Tag zu gestalten, die überwältigenden Emotionen in mir zu ordnen und mir einen flüchtigen Raum der Stille inmitten des endlosen Chaos zu schaffen. Das Schreiben war kein Fenster zur Welt – es war ein Fenster zu mir selbst. Und als ich die Sprache erlernte, hatte ich das Gefühl, endlich einen Freund auf diesem brutalen Planeten gefunden zu haben: einen, der mir zuhörte, ohne wegzulaufen, der mir das Gefühl gab, der Welt für einen Moment entfliehen zu können.

Was ich nie erwartet hätte, war, dass dieser Freund eines Tages verstummen würde. Nicht weil ich aufhören wollte zu schreiben, sondern weil ich es nicht mehr konnte.

Und der Grund dafür?

Ich bin hungrig.

Seit Beginn des Völkermords in Gaza habe ich alles in Frage gestellt. Alle Werte, die mich einst geprägt haben, sind ins Wanken geraten. Selbst das Schreiben – diese tiefe Kraft, die ich immer genutzt habe, um Angst, Entwurzelung und Trauer zu widerstehen – begann sich zerbrechlich anzufühlen, dem Verfall ausgesetzt. Krieg ist etwas Seltsames. Er zerstört nicht nur Häuser, er zieht dir den Boden der Gewissheit unter den Füssen weg, wischt das winzige Gefühl der Sicherheit weg, das du dir in deinem Zimmer aufgebaut hast, um dich zu trösten.

Aber weisst du, was noch schlimmer ist als Krieg?

Hunger.

Ich habe mich immer wieder gefragt: Hat Schreiben noch einen Sinn? Was bringt es, Sätze aneinanderzureihen, wenn Leichen sich unter Trümmern stapeln? Was bedeutet es, über Schönheit und Liebe in einer Welt zu schreiben, die dich hungern lässt und deinem Schmerz gegenüber gleichgültig ist?

Doch etwas in mir wehrte sich gegen diesen Zusammenbruch. Ich schrieb, sogar während der Vertreibung, sogar unter dem Donnern der Bomben. Ich schrieb über die verschwundenen Kinder, die Leichentücher, die uns für die Toten fehlten, die Häuser, die zu Staub zerfielen. Ich schrieb trotz Erschöpfung, trotz Trauer, trotz Angst.

Aber ich schrieb nie trotz Hunger.

Bis März 2025.

Da hielt der Hunger Einzug in meinen Körper. Er hörte auf, an die Tür zu klopfen. Er brach mir die Brust auf und setzte sich in mich hinein.

Leere

Der Hunger, den ich jetzt verspüre, ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Es ist nicht das, was Sie sich vorstellen, liebe Leserinnen und Leser. Es ist nicht nur ein leeres Gefühl im Magen. Es ist eine Taubheit, die sich vom Bauch bis zum Gehirn ausbreitet. Er trübt die Erinnerungen, schwächt das Sehvermögen und verwandelt jeden Gedanken in eine tiefe Ausgrabung, die der Verstand nicht ertragen kann. Der Hunger raubt einem die einfachsten menschlichen Fähigkeiten: Konzentration, Geduld, Empfindungen, den Wunsch, etwas zu sagen. Denken wird zum Luxus. Worte werden zu Gewichten, die man nicht mehr heben kann.

Der Hunger, den ich jetzt in mir spüre und der mich ganz verschlingt, ist eine Entleerung von Trost, von innerem Frieden. Es ist eine Neudefinition des Selbst, das nun kurz vor dem Verschwinden steht.

Vor ein paar Tagen habe ich meiner Lektorin gesagt, dass mir die Ideen ausgegangen sind. Keine neuen Vorschläge. Ich konnte nicht einmal mehr einen Faden in eine Nadel einfädeln, wie es meine Worte einst taten.

Auf ihren Rat hin beschloss ich, darüber zu schreiben: über meine geistige Schwäche, meine Zerbrechlichkeit, meinen Zerfall. Mein neuer Impuls – mein Schmerz – war etwas, das ich noch nie zuvor erlebt hatte.

Jetzt schreibe ich einen Satz und höre auf. Nicht, um ihn zu überdenken, sondern weil ich keine mentale Energie für einen weiteren habe. Der Hunger zerbricht dich langsam. Es fühlt sich an, als würde man allein in einer Wüste sterben, die noch nie ein Fuss betreten hat. Ich kann nicht richtig schlafen oder lange genug still sitzen, um zu lesen. Ich fühle, wie ich auseinanderfalle. Und das Schreiben, das mich einst zusammengehalten hat, kann diesen langsamen Zerfall nicht mehr aufhalten.

Kollektiver Hunger

Du stirbst allein vor Hunger. Man bricht seelisch zusammen. Die Anwesenheit anderer hungernder Menschen bietet keinen Trost: Im Gegenteil, wenn der Hunger kollektiv wird, weiss man, dass jede Hand um einen herum abgeschnitten ist. Niemand kann helfen.

Wie kann ich darüber schreiben?

Im Norden Gazas, wo ich lebe, ist seit März kein einziges Korn Weizen angekommen. Die Märkte sind leer. Die wenigen Waren, die noch übrig sind, werden ohne Scham zum zweihundertfachen Preis verkauft. Als wären wir keine Menschen.

Wir essen nur Linsen, Reis und Bohnen aus der Dose. Nichts davon sättigt. Linsen, das Einzige, was es gibt, sind mir zum Verhängnis geworden. Ihr Geschmack macht mich jetzt krank. Sie geben mir keine Energie, keine Hoffnung.

Ich überlebe mit einer Mahlzeit am Tag. So wie alle in Gaza. Eine Mahlzeit ohne Eiweiss, ohne Kalzium, ohne Brot, ohne Geschmack. Eine Mahlzeit ohne Nährstoffe und ohne Sinn. Und doch muss ich jeden Tag erschöpfende Aufgaben erledigen: Brennholz tragen, Wasser aus der Ferne holen, fünf Stockwerke hochsteigen, stundenlang nach einem Kilo Mehl suchen, das zwanzig US-Dollar kostet, oder nach einer Dose Sardinen, die den Geist schwächt.

All das mit dem geringsten Energielevel, den ich je erlebt habe.

Unter solchen Bedingungen ist Schreiben kein Akt des Widerstands mehr – es wird zu einer unmöglichen Handlung. Mein Körper hält mich nicht mehr aufrecht. Mir schwirrt der Kopf. Ich versuche, einen Text zu beginnen, aber mein Kopf ist so leer wie die Regale der Stadt. Es gibt keine Idee, keinen Antrieb, keine innere Stimme, die mich vorantreibt. Nichts ist mehr da. Der Hunger hat die Erde weggefegt, auf dem meine Worte einst wuchsen.

Das Schlimmste am Hunger ist, dass er dich von dir selbst entfremdet. Du verlierst dein Einfühlungsvermögen. Du wirst taub. Du schrumpfst. Man betrachtet sein Leben, als wäre man ein Fremder. Man fürchtet sich vor sich selbst und um sich selbst. Essen wird zu einem existenziellen Begriff, zu einem mythischen Phantom. Man erinnert sich an vergessene Geschmäcker. Die Lieblingsspeisen ändern sich. Eine Dose Thunfisch wird zum Gipfel der Träume. Und wenn man sie mit einem Stück Kartoffel und etwas Tahini zubereitet, feiert man, als würde man das beste Essen der Welt geniessen.

Das Selbst zerlegen

Dieses Stück ist nicht nur eine Tragödie. Es ist ein Stück über Nacktheit. Wenn der Hunger dir nichts mehr lässt als dein zerbrechliches Selbst, deinen geschwächten Körper und deine fehlende Sprache. Wenn du dich von der Welt unsichtbar fühlst, ungehört – und du nicht einmal sicher bist, ob es irgendjemanden interessiert, ob du lebst oder stirbst.

Hunger in einem Völkermord ist mehr als körperliche Entbehrung. Es ist die Zerstörung des Selbst. Ein langsames Erlöschen des Lebenswillens.

Man beginnt sich zu fragen:

Was hat das Schreiben für einen Sinn, wenn ich mich nicht satt fühlen kann?

Was nützen mir Erinnerungen, wenn ich nicht darauf zugreifen kann?

Was hat das Leben für einen Sinn, wenn jeder Tag nur ein gescheiterter Versuch ist, eine Mahlzeit zu ergattern, die nicht nach Nahrung aussieht?

Wenn ich mich heute hinsetze, um zu schreiben, ist es, als würde ich ausserhalb meines Körpers schreiben. Die Worte sind nicht meine, sondern die Überreste von jemandem, der ich einmal war.

Ich schreibe, weil ich etwas tun muss, um zu vergessen, dass ich verhungere.

Das Schreiben ist zu einem Moment der Erschöpfung geworden, der eine körperliche und emotionale Anstrengungen erfordert, die ich mir nicht leisten kann.

Der Hunger raubt dir die Sprache, genauso wie er dir den Schlaf, die Ruhe und die Hoffnung raubt.

Und das Schlimmste daran:

Die Welt bleibt still.

Völlig still.

Als ob der Hunger, der mich umbringt, nicht gehört und nicht gesehen werden könnte, für niemanden eine Bedeutung hätte.

Ich bin Schriftsteller.

Oder richtiger, ich war es.

Aber jetzt kann ich nicht mehr schreiben.

Ich habe Hunger. Und Hunger ist stärker als Worte. Stärker als die Erinnerung. Stärker als das Denken. Stärker als mein Bedürfnis zu schreiben.

Das ist kein Rückzug vom Schreiben. Es ist eine totale Lähmung.

Ich habe nicht mehr die Mittel, mich auszudrücken.

Ich habe nicht mehr den Körper, um mich hinzusetzen.

Ich habe nicht mehr den Verstand, um einen vollständigen Satz zu bilden.

Ich habe Angst zu sterben, bevor ich meinen eigenen Tod schreiben kann.

Ich habe Angst, dass meine Sprache in mir eingeschlossen bleibt, ohne einen Weg zu finden, sich auszudrücken.

Ich fürchte den Hunger mehr als den Tod, denn er überkommt dich langsam, in verschlingenden Wellen, bis du zu einem zerfallenden Schatten wirst, der nicht einmal mehr schreien kann.

Wird jemand dies lesen?

Wird jemand glauben, dass ein Schriftsteller nicht mehr schreiben kann, weil er nichts zu essen hat?

Wird es jemanden interessieren, dass in einem Winkel der Welt Menschen so sehr hungern, dass ihre Seelen verstummen?

Vielleicht nicht.

Aber ich habe dies geschrieben – trotz allem.

Um zu sagen, dass Schreiben möglich ist.

Nur wenn der Körper überleben darf.

* Husam Maarouf ist ein Dichter aus Gaza und Mitbegründer von Gaza Publications. Er hat zwei Gedichtbände veröffentlicht, Death Smells Like Glass und The Barber Loyal To His Dead Clients, sowie den Roman Ram’s Chisel. Sie können seinen jungen Verlag hier unterstützen.

Quelle: https://arablit.org/2025/05/30/hunger-that-defeats-language/, 30. Mai 2025

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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