Karl Mays Winnetou – eine «kulturelle Aneignung»?

Die Schauspieler Pierre Brice und Lex Barker in einer Karl May-Verfilmung. Karl May
stellte sich vor die dem Genozid preisgegebenen Indianer. Heute werden ihm
weltfremde Vorwürfe gemacht. (Bild aus dem Film Winnetou)

von Marita Brune-Koch

(12. September 2022) Der «Ravensburger Verlag» hat Bücher von Karl May aus seinem Programm genommen. Der Grund: Karl May wurde offensichtlich der Vorwurf der «kulturellen Aneignung» sowie der Verharmlosung der Leiden der indigenen amerikanischen Bevölkerung, der Verharmlosung der Kolonisierung Amerikas und der Unterdrückung und Ausrottung der dortigen Ureinwohner gemacht. Der «Karl-May-Verlag» widerspricht den Vorwürfen und behält die Bücher in seinem Programm.

«Im Mai 1968 träumte die Jugend von einer Welt, in der es verboten ist, zu verbieten. Die neue Generation denkt nur daran, zu zensieren, was sie kränkt oder ‹beleidigt›.» So leitet die französische Linke und Feministin Caroline Fourest ihr Buch ein mit dem Titel: «Generation beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei»1 ein. Damit ist der hier angesprochene Vorgang gut charakterisiert.

Was ist dran am Vorwurf gegen Karl May?

Karl May hat seine Indianerbücher Anfang des letzten Jahrhunderts geschrieben, auf dem Hintergrund der Kolonisation. Mit seinen Büchern ist er gezielt gegen den mörderischen Rassismus an der amerikanischen Ur-Bevölkerung vorgegangen. In Anlehnung an die Friedenskämpferin und Nobelpreisträgerin Berta von Suttner («Die Waffen nieder») leistete er mit seinen spannenden Romanen einen immensen Beitrag, die Jugend zur Völkerverständigung und zur Achtung vor anderen Kulturen zu erziehen. Anders als in der damaligen Zeit üblich stellte er die Indianer als edelmütig und heldenhaft dar und entwarf eine Welt, die von tiefer und echter Freundschaft zwischen «Roten» (Winnetou) und «Weissen» (Old Shatterhand) geprägt war.

O-Ton Karl May in seinem Vorwort zu «Winnetou I»: «Es war nicht nur eine gastliche Aufnahme, sondern eine beinahe göttliche Verehrung, welche die ersten ‹Bleichgesichter› bei den ‹Indsmen› fanden. Welcher Lohn ist Letzteren dafür geworden? Ganz unstreitig gehörte diesen das Land, welches sie bewohnten; es wurde ihnen genommen. Welche Ströme Blutes dabei geflossen und welche Grausamkeiten vorgekommen sind, das weiss ein Jeder, der die Geschichte der ‘berühmten Conquistadores gelesen hat. Nach dem Vorbilde derselben ist dann später weiter verfahren worden.

Der Weisse kam mit süssen Worten auf den Lippen, aber zugleich mit dem geschärften Messer im Gürtel und dem geladenen Gewehr in der Hand. Er versprach Liebe und Frieden und gab Hass und Blut. Der Rote musste weichen, Schritt um Schritt, immer weiter zurück.» Ein kleiner Ausschnitt, der aber an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.

Es stimmt, Karl May war nie in Amerika, seine Bücher sind keine dokumentarischen Berichte. Er war ein Schriftsteller. Er hat die Geschichte der Kolonisierung studiert und auf dieser Grundlage seine Figuren und Geschichten gestaltet, seiner Idee und seiner Botschaft Leben eingehaucht. So arbeiteten und arbeiten Schriftsteller und auch andere Künstler zu allen Zeiten. Auch Friederich Schiller war nie in der Schweiz, hat aber den Wilhelm Tell geschrieben. Wenn man sein Arbeitszimmer in Weimar besucht, kann man die Dokumente, auf denen seine Dichtung fusst, noch heute anschauen: Alle Wände hängen voll von Karten und Studien historischer, geografischer und gesellschaftlicher Art zur damaligen Schweiz. Kulturelle Aneignung? Die Welt wäre ärmer ohne den Tell und auch ohne Karl Mays Indianerbücher.

Ein Verlag übt sich in Selbstkritik

Der «Verlag Ravensburg» ist offensichtlich von einer Meute selbsternannter «Kulturschützer» angegriffen worden, die die Bücher von Karl May auf dem Index sehen wollen.2 Er knickt ein, nimmt das Buch «Der junge Häuptling Winnetou» aus dem Programm.

Unerträglich ist dabei der Kommentar der Verantwortlichen: «Wir danken euch für eure Kritik. Euer Feedback hat uns deutlich gezeigt, dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben. Das war nie unsere Absicht und das ist auch nicht mit unseren Ravensburger-Werten zu vereinbaren. Wir entschuldigen uns dafür ausdrücklich. Unsere Redakteur*innen beschäftigen sich intensiv mit Themen wie Diversität oder kultureller Aneignung. […] Dabei ziehen sie auch externe Fachberater zu Rate oder setzen ‹Sensitivity Reader› ein, die unsere Titel kritisch auf den richtigen Umgang mit sensiblen Themen prüfen. Leider ist uns all das bei den Winnetou-Titeln nicht gelungen. […] Wir haben zum damaligen Zeitpunkt Fehler gemacht und wir können euch versichern: Wir lernen daraus!»

Das hört und fühlt sich exakt an wie die Selbstbezichtigungen in Maos Kulturrevolution: Auch hier schwangen sich Jugendliche auf, Erwachsene anzugreifen, gerade auch solche mit grossen Verdiensten für Kultur und Gesellschaft. Diese mussten sich in öffentlichen Schauprozessen zu ihren Verfehlungen bekennen, wurden mit entwürdigenden Papierhüten durch die Strassen getrieben und öffentlich verspottet. Die Kulturrevolution endete in blinder Zerstörung kultureller Werke und Gebäude und in schrecklichen Blutbädern. So weit sind wir noch nicht, aber der Un-Geist solchen Meinungsterrors weht schon wieder.

Was soll kulturelle Aneignung überhaupt sein?

Worum geht es überhaupt bei dem Vorwurf der «kulturellen Aneignung», woher kommt dieser Irrsinn plötzlich? «Der Funke rührt aus einer sehr konfusen Vorstellung von Antirassismus», schreibt Caroline Fourest. Ursprünglich war mit dem Begriff «kulturelle Aneignung» gemeint, dass Kolonialmächte Kulturgüter unterworfener Völker rauben.

Selbstverständlich wurde diese Aneigung verurteilt, viele Kulturgüter wurden zurückgegeben. Der Begriff wurde jedoch laut Caroline Fourest von Susan Scafidi, Professorin an der Fordham University in New York von seiner ursprünglichen Bedeutung auf einen Vorgang ausgeweitet, «bei dem jemand geistiges Eigentum, traditionelles Wissen, kulturelle Ausdrucksformen oder Artefakte der Kultur eines anderen ohne dessen Erlaubnis an sich reisst.»3

Damit wurde nun ein äusserst dehnbarer Begriff geschaffen, der weder justiziabel noch widerlegbar ist. Fourest beschreibt eine Fülle von Vorfällen, bei denen Menschen heftigen Shitstorms in den sozialen Medien ausgesetzt wurden. Dies waren Privatpersonen und Personen des öffentlichen Lebens, wie Professoren, Politiker, Künstler, Unternehmer, ja auch Journalisten. Jeder kann zum Opfer werden. Nicht selten werden die Opfer gezwungen, sich öffentlich zu bekennen, Vorträge und Vorlesungsreihen werden gecancelt, Theateraufführungen abgebrochen, Karrieren zerstört.

In vielen Ländern, wie den USA und Frankreich, entfaltet diese Bewegung eine erschreckende Macht, führt Denkverbote ein und bestimmt die Kultur und den Inhalt von Lehrplänen, Universitätsseminaren und Debatten. Auch in Deutschland und der Schweiz gibt es bereits entsprechende Entwicklungen. Einer der bekanntesten Vorwürfe hierzulande dürfte das «unerlaubte» Tragen von Rastalocken sein.

Integraler Teil der Cancel culture

Damit reiht sich der Vorwurf der kulturellen Aneignung in die cancel culture ein. Das heisst, es werden Begriffe, Themen, Meinungen ja sogar wissenschaftliche Aussagen einem Bann unterworfen. Die Palette reicht von Begriffen und Inhalten aus der Sexualwissenschaft, der Biologie («Es gibt mehrere, … viele Geschlechter»), der Schulpolitik (z.B. «Inklusion behinderter Schüler ist immer gut»), der Geschichte, der Medizin, der Ernährung, der Erziehung, in der Politik sowieso – überall gibt es Denkge- und verbote, überall lauern Fallstricke. Debatten im öffentlichen Raum, ja sogar im Freundes- und Familienkreis werden immer gefährlicher, ganz leicht gerät man in Minenfelder.

ISBN 978-3-893-20266-9

Wer inszeniert das und wozu?

In der chinesischen Kulturrevolution waren es nicht die Jugendlichen, die plötzlich auf die Idee kamen, Eltern und Lehrer anzuprangern und mörderisch zu verfolgen. Auch heute sind es nicht einzelne Bürger, die sich aufgrund eigener Vorstellungen plötzlich berufen fühlen, einen Verlag anzuklagen, weil der Karl May verlegt. Hinter solchen Entwicklungen stecken immer Ziele und Strategien.

Es sind nur kleine Gruppen an den Universitäten und in den Medien, die der Mehrheit die Sprech- und Gesinnungsdiktate aufzwingen wollen. Die Mehrheit der Gesellschaft interessiert sich nicht für solche abseitigen Debatten.

Wenn wir wissen wollen, in wessen Interesse solche Denkverbote, Rede- und Schreibvorschriften stehen, müssen wir vielleicht einmal untersuchen, wer kritische Mitbürger als Verschwörungstheoretiker abkanzelt und sie zunehmend sogar als Verbreiter von fake-news zu kriminalisieren sucht, wer in den sozialen Medien unliebsame Seiten sperrt und andere Meinungen kurzum unter Strafe stellen will.

1 Caroline Fourest. Generation beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Eine Kritik. Berlin 2020

2 Wikipedia: Der Index librorum prohibitorum («Verzeichnis der verbotenen Bücher», kurz auch Index Romanus, «römischer Index», genannt) war ein Verzeichnis der römischen Inquisition, das für jeden Katholiken die Bücher auflistete, deren Lektüre als schwere Sünde galt; bei manchen dieser Bücher war als kirchliche Strafe die Exkommunikation vorgesehen.

3 Caroline Fourest. Generation beleidigt. S. 20

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