Krieg in der Ukraine: Das Undenkbare denken?

Marc Chesney. (Bild zvg)

Finanzieren von Massenvernichtungswaffen und Lieferung von schweren Waffen stoppen

von Marc Chesney*

(11. Juni 2022) (Infosperber) Marc Chesney ist Finanzprofessor an der Universität Zürich. Er fordert von Grossbanken und anderen Finanzkonzernen schon lange, dass sie kein Geld mehr an Konzerne geben, welche Atom- und andere schwere Waffen produzieren, sondern mit nachhaltigen Kreditvergaben dazu beitragen, das Wohl unseres Planeten zu fördern.

Die Aggression der russischen Armee in der Ukraine hat bereits zu zu vielen Toten und getrennten Familien geführt – zu einem schrecklichen, erschütternden, unerträglichen Leiden. Zwar sind seit 1945 weltweit und kontinuierlich Kriege ausgebrochen, vor über zwanzig Jahren auch im ehemaligen Jugoslawien. Dennoch schien Europa immer glimpflich davongekommen zu sein. Nun wird dieser Kontinent, in dem die beiden Weltkriege ihren Ursprung nahmen, wieder mit dem Gespenst des Krieges konfrontiert.

Die von Wladimir Putin ausgesprochenen nuklearen Drohungen betreffen uns alle. Wir sehen uns gezwungen, das Undenkbare zu denken, das Unsagbare zu sagen: einen Atomkrieg für möglich zu halten, was ein jeder Mensch auf Anhieb ausschliessen sollte; ein Krieg, der potenziell alles Leben auf der Erde auslöschen könnte. Und doch ist der Schrei des Grauens, der uns Menschen innerlich durchdringt und uns selbst taumeln lassen müsste, in der Gesellschaft kaum zu hören. Es ist unverantwortlich, diese Bedrohungen auf die leichte Schulter zu nehmen. Es handelt sich nicht um Videospiele, sondern um die Zukunft der Menschheit.

Wie konnte es so weit kommen, dass eben diese Gesellschaft auf dem Höhepunkt ihrer produktiven und destruktiven Fähigkeiten steht und dabei ihre Mitglieder Gefahr laufen, von einer Maschine zermalmt zu werden, deren funktionierende Rädchen sie einst waren? Dass ein System so räuberisch wird, dass es in grossem Massstab Leben angreift. Ein System, das doch täglich (fehl-)funktioniert? Ein System, das stolz auf seine Technologien wie die künstliche Intelligenz ist und gleichzeitig sowohl durch seine tragische Geistesarmut als auch seinen mordlüsternen Grössenwahn glänzt.

Welche Zukunft bietet eine «Zivilisation», deren Überleben auf einem Gleichgewicht des Terrors beruht? Ein zwangsläufig instabiles Gleichgewicht, das vom guten Willen einer Clique abhängt, welche die Macht hat, auf einen Knopf (oder mehrere…) zu drücken und dem Ganzen ein Ende zu setzen?

Reicht jener Gesellschaft die Hoffnung, dass hier Fehleinschätzungen und Missverständnisse für immer vermieden werden? Der Eindruck, die Brandstifter und Kriegstreiber sässen nur in Moskau, ist irreführend. Die Kriegstreiber und die Totengräber aller Art sind in vielen Ländern zu finden. Die Produzenten von Massenvernichtungswaffen rekrutieren international zahlreiche Wissenschaftler, um ihre Geschäfte zu betreiben. Sie werden von Grossbanken finanziert, die ihre Geschäftspolitik als nachhaltig und ethisch vertretbar darstellen. Der Zynismus kennt keine Grenzen …

Die Atombomben der Nato sind nicht weniger apokalyptisch als die russischen. Ein Atomkrieg würde nur Verlierer kennen. Die nationalistische Propaganda auf beiden Seiten des brennenden Vorhangs hat bereits begonnen, die Geister zu mobilisieren und die Bevölkerung auf künftige Opfer vorzubereiten. Diese wird überall von zunehmend extremistischen Politikern, die eine Kriegslogik anstelle einer Friedenslogik fördern und immer mehr schwere Waffen einsetzen, als Geisel genommen. In einer Demokratie sollten im Prinzip diejenigen die direkt geopfert werden, d. h. die Bevölkerung, entscheiden, ob sie Krieg oder Frieden wollen. Komischerweise, ist dies nicht der Fall. Diejenigen, die eine solche Entscheidung treffen, verfügen sicher über riesige Luftschutzbunker…

Der Schriftsteller Roger Martin du Gard schrieb in seinem Buch Les Thibault über den Ersten Weltkrieg: «Nie zuvor haben die Machthaber den Verstand in so harte Fesseln gelegt.» und «Nie zuvor ist die Menschheit so tief erniedrigt, ihre Intelligenz so rücksichtslos unterdrückt worden.»

Scharen von unterwürfigen Lakaien versuchen, ein korruptes und sterbendes System über Wasser zu halten, das Lügen im Namen der Wahrheit fördert, Knechtschaft im Namen der Freiheit organisiert und uns im Namen des Lebens den Tod aufzwingen könnte. In Die letzten Tage der Menschheit, das 1918 veröffentlicht wurde, spielte Karl Kraus bereits auf jene «Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten» an. Mehr als ein Jahrhundert später ist dieser Satz immer noch aktuell. Zahlreich sind die Politiker, die von den Ereignissen überfordert sind, die sie mit herbeiführten.

Heute haben nicht mehr die Aufklärer die Oberhand, sondern die Verklärer. Vor 20 Jahren haben sie das Ende der Geschichte mit dem Fall der Berliner Mauer verbunden und daraus den endgültigen Sieg der vermeintlichen Marktwirtschaft und den daraus resultierenden Frieden abgeleitet.

Heute treiben sie ihr Unwesen weiter und behaupten, dass der internationale Handel und die Globalisierung der Wirtschaft den Frieden bewahren. Die Geschichte beweist uns das Gegenteil. Gerade als die Wirtschaft ihre erste Globalisierung erlebte, brach der Erste Weltkrieg aus. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die Freihandelsabkommen vervielfacht, wobei der Welthandel, auch der von Waffen und Angst, stark zunahm. Echter Frieden sieht anders aus.

Inwieweit werden die Wirtschaftssanktionen, die jetzt gegen Russland verhängt wurden und die von der hiesigen sowie der dortigen Bevölkerung ertragen werden, das Regime wirklich schwächen? Warum sollten sie wirksamer sein als jene Sanktionen, die damals gegen den Irak oder Libyen verhängt wurden? Diese Fragen wurden von westlichen Politikern offensichtlich kaum gestellt.

Es ist kriminell, die Menschheit auf dem Altar der Nation und für Interessen zu opfern, die nicht ihre eigenen sind. Die rund 200 Millionen Menschen, die seit 1914 durch mehrere Kriege ihr Leben verloren und ihre Familien verlangen Rechenschaft. Karl Kraus sagt:

«Zu Hilfe, ihr Ermordeten! Steht mir bei, dass ich nicht zwischen Menschen leben muss, die aus Ehrsucht oder Selbsterhaltungstrieb Befehl gaben, dass Herzen zu schlagen aufhören und Mütter weisse Haare bekommen! So wahr ein Gott lebt – dies Schicksal wird nur durch ein Wunder heil! Kehret zurück! Fragt sie, was sie mit euch getan haben! Was sie getan haben, als ihr durch sie littet, bevor ihr durch sie starbt! […] Wehrhafte Leichname, Protagonisten Habsburgischen Todlebens, schliesst eure Reihen und erscheint ihnen im Schlaf! Erwacht aus dieser Erstarrung! Tretet vor! Tritt hervor, du lieber Bekenner des Geistes und verlange deinen teuren Kopf von ihnen! […] Tritt vor, ihnen zu sagen, wo du bist und wie es dort ist, und dass du dich nie mehr dazu gebrauchen lassen wolltest!

Karl Kraus. Die letzten Tage der Menschheit,
München, Kösel, 1974, S.679-680

Damit das Unfassbare nicht geschieht, damit Massenvernichtungswaffen niemals eingesetzt werden, müssen Physiker und Informatiker, die an ihrer Entwicklung und möglichen Aktivierung beteiligt sind, alle Aktivitäten in diesem Bereich einstellen. Dies ist ihre moralische Verantwortung gegenüber der Menschheit.

Die grossen Finanzinstitute, unter anderem aus der Schweiz, die in die Produktion von Massenvernichtungswaffen investieren, müssen sofort identifiziert und ihre kriminellen Aktivitäten unterbunden werden. Ausserdem ist das Liefern von schweren Waffen unverantwortlich und hoch gefährlich. Es muss sofort eingestellt werden.

* Marc Chesney, geboren 1959, ist Professor für Quantitative Finance an der Universität Zürich. Er vertritt einen kritischen Standpunkt gegenüber den Finanzmärkten und den Grossbanken. Er ist Autor verschiedener Artikel über die Gefahren, die mit der Grösse und Komplexität der Finanzsphäre verbunden sind. Marc Chesney ist Mitglied von Finance Watch. Er war Research Fellow am «Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik» (Collegium Helveticum) und ist heute Mitglied der Trägerversammlung des ZRWP.

Quelle: https://www.infosperber.ch/wirtschaft/uebriges-wirtschaft/krieg-in-der-ukraine-das-undenkbare-denken/, 12. Mai 2022.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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