Pädagogik

Lehrkräftemangel: Die wahren Gründe

Mario Andreotti. (Bild wikipedia)

von Prof. Dr. Mario Andreotti*

(11. April 2023) Landauf, landab sind Schulpräsidenten und Schulleiter daran, für das neue Schuljahr Lehrkräfte zu suchen. In der Ostschweiz ist die Situation zwar etwas weniger dramatisch als in anderen Landesteilen. In der Bodenseeregion konnten erneut alle offenen Lehrerstellen besetzt werden. Trotzdem bleibt die Situation auch hier angespannt, wie Gastautor Professor Dr. Mario Andreotti schreibt.

Für den sich seit Jahren zuspitzenden Lehrermangel werden vonseiten der Schulbehörden und Bildungspolitiker mehrheitlich Gründe genannt, welche die wahren Ursachen verschleiern. Es ist von zu tiefen Einstiegslöhnen, von zu grossen Klassen, von steigenden Schülerzahlen, von zunehmender Teilzeitarbeit der Lehrkräfte und dergleichen mehr die Rede. Das mag ja alles stimmen. Doch die eigentlichen Gründe für den akuten Mangel an Lehrkräften liegen anderswo.

Seit einiger Zeit brodelt es in verschiedenen Schulen, weil Schulbehörden, aber auch Schulleiter den Lehrkräften in teilweise forscher Gangart, sich am Lehrplan 21 orientierende Lernkonzepte verordnen wollen. Die Lehrkräfte werden dazu in Weiterbildungskurse geschickt, um auf ihre neue Rolle als Coaches oder Lernbegleiter getrimmt zu werden. Zudem werden sie kontrolliert und evaluiert, mit Lernberichten, Beobachtungsbögen, Protokollen und Koordinationssitzungen belastet, so dass sie kaum mehr zum Unterrichten kommen, geschweige denn Zeit für den menschlichen Kontakt mit den Schülern finden. Trotz ihrer mehrjährigen Hochschulausbildung traut man ihnen nicht mehr zu, den Unterricht selbständig zu organisieren. Es braucht dazu noch Lernberater, Schulentwickler, Evaluatoren, Supervisoren und Instruktoren, die in erster Linie zu kontrollieren haben, ob die einzelnen Lehrkräfte in ihr Raster passen.

Verpönter Frontalunterricht würde beste Lernergebnisse bringen

Der Lehrerberuf ist im Begriff, massiv abgewertet zu werden. Bis anhin organisierten und erteilten die Lehrkräfte den Unterricht und genossen dabei, im Rahmen des Lehrplans, Methodenfreiheit. Sie leiteten die Geschicke ihrer Klassen und wurden von administrativem Krimskrams weitgehend verschont, so dass sie sich ihrer Hauptaufgabe, dem Unterrichten vollumfänglich widmen konnten.

Heute haben die Lehrkräfte nach dem Lehrplan 21 zu unterrichten, der auf 470 Seiten über 2000 Kompetenzstufen auflistet. Die einst hochgehaltene Methodenfreiheit ist nur noch Theorie. Der Frontalunterricht, der nachgewiesenermassen die besten Lernergebnisse brachte, ist vollkommen verpönt. An seine Stelle tritt «selbstorganisiertes Lernen», bei dem die Schüler ihren Lernprozess selber steuern sollen und die Lehrperson nur noch als Coach an der Seitenlinie den Lernprozess begleitet.

Zu all dem beklagen sich die Lehrkräfte zunehmend über die mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit. Überfüllte Klassen, integrativer Unterricht und ständig neue administrative Aufgaben tragen dazu bei, dass bei den Lehrkräften das Gefühl fehlender Anerkennung entsteht. Verwundert es da noch, dass unter solchen Bedingungen immer mehr Lehrkräfte die Freude am Beruf verlieren?

* Prof. Dr. Mario Andreotti, geboren 1947 in Glarus, studierte Germanistik, Geschichte und Didaktik des höheren Lehramtes in Zürich. 1975 promovierte er bei Emil Staiger mit einer Doktorarbeit über Jeremias Gotthelf. 1977 erwarb er das Diplom für das Höhere Lehramt an Gymnasien. Bis 2012 war Andreotti Lehrer an der Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen. Seither war er Lehrbeauftragter und Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und an Höheren Fachschulen. Als Experte für moderne deutsche Literatur ist er Mitglied in verschiedenen Literaturkommissionen und schreibt regelmässig Kolumnen und Meinungsbeiträge in renommierten Zeitungen und Zeitschriften.

Quelle: https://condorcet.ch/2023/03/zu-wenig-lehrerinnen-und-lehrer-die-wahren-gruende, 21. März 2023

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