Russland

Neues Leben: vier Studentenporträts

Ein Bericht über junge Leute, die nach dem Ausbruch des Ukraine-Konfliktes ihr Leben neu auf‘s Gleis bringen

von Maria D.*

(7. März 2023) Niemand weiss, womit das eigene Leben überraschen kann. Und man kann sich kaum rechtzeitig auf rigorose Schicksalswenden vorbereiten. Heutzutage beobachtet die ganze Welt, wie sich das grosse Drama im slawischen Raum abspielt.

Ich unterrichte an einer Universität in Russland. Die benachbarte Lage meiner Region zu der Ukraine ist dafür verantwortlich, dass es fast in jeder Studentengruppe einen oder mehrere Studierende gibt, die durch die Kriegsumstände gezwungen waren, ihre ukrainischen Heimatstädte – Odessa, Kertsch, Luhansk, Mariupol usw.– zu verlassen.

Falls die Lehrsituation es erlaubt, nehme ich mir ab und zu Zeit, um mich mit diesen Studierenden auszutauschen und ihre persönliche Situation in Erfahrung zu bringen. Dabei interessiert mich, wie sich die Bildungssituation und die Lebenspläne der Betroffenen geändert haben. Hier sind vier Porträts (mit geänderten Namen):

Lisa kommt aus Luhansk, im Jahr 2014 war sie 9 Jahre alt und kennt seit der Zeit kein normales ruhiges Leben. Vorher sei in der Region alles ruhig gewesen. Ihr erster und einziger Pass ist ein Pass der Luhansker Volksrepublik, weder russisch noch ukrainisch. Lisas ältere Schwester ist Musikwissenschaftlerin, unterrichtete am Luhansker Konservatorium. Jetzt natürlich nicht mehr. Mit ihrer Familie wohnt sie jetzt ausserhalb der umkämpften Stadt.

Von der Universität bekam Lisa bereits als Erstsemester einen Platz im Studentenwohnheim,1 auf den einheimische Studierende normalerweise ein paar Jahre warten müssen. Lisa ist aufgeschlossen und befreundet mit mehreren aus der Studiengruppe. Zu Weihnachten organisiert sie das Spiel «Secret Santa» und wundert sich übrigens darüber, dass niemand aus ihrem neuen russischen Bekanntenkreis den Nikolaustag feiert – in der Ukraine sei der Tag allen Kindern bekannt und wird am 19. Dezember gefeiert. Als Kind entdecke man ein Geschenk vom Nikolaus unter dem Kissen. Tatsächlich sind Ukrainerinnen und Ukrainer mit westeuropäischen Traditionen gut vertraut.

Ivone, eine kecke Studentin von der Krim, wohnt heute ebenfalls in dem Studentenwohnheim auf dem Campus. Ihr Weg nach Russland enthielt eine Zwischenstation. Zunächst zog die Familie aus Donezk auf die Halbinsel Krim, als 2014 die ersten Militäraktionen den Donbass heimsuchten. Damals fuhr sie noch als Kind mit ihrem Vater im Auto und malte auf das Papier, was sie hinter dem Fenster sah. Als ihr Vater auf der Kinderzeichnung seiner Tochter lauter Panzer entdeckte, zerriss er eilig die Zeichnung, so Ivones Kindererinnerungen. Als sich vor ein paar Jahren die Wahl des Studienortes für Ivone stellte, entschied sich die Familie für Russland. Weil das hiesige Diplom, anders als ein «Krim-Diplom», in Europa anerkannt werde.

Juri kommt aus der Region Charkiw. Er hat einen deutschen Familiennamen, wisse aber nichts über die eigene Herkunft, denn sein Vater habe seinen Vater nicht gekannt. In Russland, dem Heimatland seiner Mutter, fühlt sich Juri wohl. Auch an der Uni ist er mit jedem in der Studiengruppe gut befreundet. Jedoch wollte er früher an einer Universität in Polen studieren. Jetzt besitzt er nur einen bereits abgelaufen ukrainischen Pass.

Droht ihm ein Einzug in die russische Armee und an die Front, falls er einen russischen Pass und russische Staatsangehörigkeit beantragen würde? Es wäre unter den Bedingungen einer allgemeinen Mobilmachung möglich, jedoch leidet Juri an einer chronischen neurologischen Krankheit, mit der man nicht in die russische Armee eingezogen wird. Würde er jetzt in die Ukraine zurückkehren, um einen neuen ukrainischen Pass zu beantragen, so wäre er sofort, ungeachtet der Krankheit, in die ukrainische Armee eingezogen und de facto gezwungen, gegen seine jetzigen Kommilitonen zu kämpfen. Das wünsche er sich selbstverständlich nicht.

Roman kommt aus Cherson, oder doch nicht ganz … Als er fünf Jahre alt war, zogen seine Eltern aus der Ukraine nach Nordafrika, wo Roman dreisprachig aufgewachsen ist. Fliessend beherrscht er Arabisch, Englisch und Russisch. In der Oberschule kehrte er nach Cherson zurück, um den Schulabschluss zu machen. Dort lernte er auch Ukrainisch. Mit seinen perfekten Englischkenntnissen verdient er als Youtuber seinen Lebensunterhalt. Roman ist selbstbewusst und lustig und nimmt es seinen Kommilitonen nicht übel, dass sie sich über ihn amüsieren, wenn er im Russischen komische Betonung macht.

Ja, die Wortbetonung ist im Russischen nicht immer leicht. Romans Vater lebt zurzeit in Cherson, seine Mutter und Schwester in Österreich. Er besitzt einen ukrainischen Pass, lernt intensiv Deutsch, will in Europa Fuss fassen und sein Studium fortsetzen. In die Ukraine zurückzukehren, wäre jetzt für ihn – einen jungen, sportlichen Mann – lebensgefährlich.

Was an allen jungen Leuten aus der Ukraine auffällt, ist ihre – trotz all den Untaten, die in ihrer Heimat passieren – Lebensfreude und ihr Optimismus. Sie wollen ihr Leben meistern. Sie sind offen für die Welt und für ihr Glück.

1 Zimmer in Studentenwohnheimen sind in Russland schwer zu bekommen, weil sie vom Staat vollständig finanziert werden, für Studierende also praktisch kostenlos sind bzw. man muss nur sehr wenig dafür bezahlen. Solche Zimmer sind zuerst sehr gesucht, jedoch nach dem Einzug gewöhnungsbedürftig.

Die Bedingungen unterscheiden sich stark von den Studentenwohnheimen in Deutschland, denn in einem kleinen Zimmer von etwa 14–16 Quadratmeter wohnen drei Personen. Da stehen normalerweise drei Betten, ein Tisch, ein paar Stühle. Es gibt einen eingebauten Kleiderschrank. Technik wie Kühlschränke sollen sich die Bewohner selbst besorgen. Toiletten und Küche gibt es auf jeder Etage, die ungefähr 14 Zimmer zählt. Im Erdgeschoss eines fünfstöckigen Wohnheimgebäudes sind Duschkabinen und Waschküche zu finden.

Trotz alledem ziehen nur wenige aus, die meisten schätzen ihren Platz in einem Studentenwohnheim. Denn er bedeutet, dass man nicht zu arbeiten braucht, um eine Mietwohnung zu finanzieren –, man kann einfach lernen. Ausserdem pulsiert hier das studentische Leben und es entstehen jahrelange Freundschaften.

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