Tagung in Solothurn, 15. und 16. Oktober 2022 – Teil 6

Partizipative Demokratie in Venezuela

Vorbemerkung
(Red.) Die Schweizerin Natalie Benelli, Vorstandsmitglied und Europakorrespondentin der alternativen Medienorganisation Women’s Press Collective (WPC), die in New York die Zeitschrift «Collective Endeavor» (CE) herausgibt, illustriert mit Ihrem untenstehenden Artikel die vielversprechenden Ansätze für eine «Partizipative Demokratie in Venezuela». Während der Tagung wurde am Samstagabend der Film von terra tv «Nostalgikerinnen der Zukunft» vom an der Tagung anwesenden belgischen Regisseur Thierry Deronne gezeigt und erläutert. Der folgende Artikel gibt, wie auch der Film, einen spannenden Einblick in die Lebenssituation der arbeitenden Familien in Venezuela.
Natalie Benelli. (Bild zvg)

Arbeiterfamilien bauen ihre Gemeinschaften auf

von Natalie Benelli,* PhD, Europakorrespondentin

(9. Januar 2023) Seit 1999 macht Venezuela eine Politik und Gesetzgebung, die die aktive Beteiligung der arbeitenden Bevölkerung und ihrer Familien an der demokratischen Entscheidungsfindung fördern.

Die partizipative Demokratie in Venezuela wird vor allem durch Kommunalräte und Kommunen (comunas) gefördert, lokale Selbstverwaltungsorgane, die Entscheidungsbefugnisse und materielle Ressourcen direkt an die Menschen vergeben. In diesen Gremien sind die Venezolanerinnen und Venezolaner direkt an der kollektiven Lösung der Probleme beteiligt, die die Bevölkerung betreffen.

Die Schaffung einer «neuen» Republik für alle

Vor dem Sieg der bolivarischen Bewegung unter der Führung von Hugo Chávez bei den Präsidentschaftswahlen 1998 waren die meisten Arbeiterfamilien mit niedrigem Einkommen von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen. Ihre Viertel, Barrios genannt, die auf den Hügeln rund um die Hauptstadt Caracas liegen, waren nicht einmal auf den Stadtplänen verzeichnet.

Der römisch-katholische Priester Charles Hardy beschrieb das Barrio, in dem er 1985 wohnte, als «Hütten aus Presspappe und Blech», in denen ein Haus nur durch «eine Pappwand» vom anderen getrennt war. In den Häusern gab es kein fliessendes Wasser, keine Toiletten und keine geschlossenen Abwasserkanäle, «vor meiner Tür führte ein Strom aus schwarzem Wasser die Abwässer aus den Wohnungen meiner Nachbarn in den kleinen schwarzen Fluss hinter meinem Haus».

Kurz nach seinem Amtsantritt gewann Präsident Hugo Chávez Frías ein Referendum zur Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, die eine neue Verfassung für Venezuela ausarbeiten sollte, die jedem Kind, jeder Frau und jedem Mann die grundlegenden Menschenrechte garantiert.

Die verfassungsgebende Versammlung, deren Mitglieder alle Kategorien der arbeitenden Bevölkerung repräsentierten, erarbeitete eine neue «Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela», die im Dezember 1999 von 71% der Wähler angenommen wurde.

Aufbau der Volksmacht: Kommunalräte

Um die neue, wahrhaft demokratische Gesellschaft zu verwirklichen, fördert die bolivarische Regierung die Schaffung von Kommunalräten, lokalen, gemeindebasierten Einheiten der direkten demokratischen Selbstverwaltung.

Das Gesetz über die Kommunalräte wurde 2009 verabschiedet. Die Einwohner eines bestimmten geografischen Gebiets wählen Mitglieder in die Ausschüsse des Rates, die sich gemeinsam mit Themen wie Ernährung, sauberes Wasser, angemessener Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Bildung, Gleichstellung der Geschlechter, öffentliche Verkehrsmittel, Sicherheit, Sport und Kultur befassen. Die Kommunalräte übertragen Entscheidungsbefugnisse und staatliche Mittel an diejenigen, die die Gemeinde und ihre Bedürfnisse am besten kennen – die lokalen Arbeiter und ihre Familien.

Im September 2020 gab es in Venezuela 45 095 Kommunalräte und 3230 Kommunen. Die Kommunalräte umfassen 200 bis 400 Haushalte in den Grossstädten, 20 Haushalte in den ländlichen Gebieten und 15 Haushalte in den indigenen Gebieten.

Bereits 2007 flossen 30% der für die lokalen Gemeindestrukturen bereitgestellten Mittel direkt an die Kommunalräte.

Kommune oder nichts

Die bolivarische Regierung hat mehrere Gesetze verabschiedet, darunter das «Gesetz über die Kommunen», das «Gesetz über die Volksmacht» und das «Gesetz über das kommunale Wirtschaftssystem», die es den Kommunalräten ermöglichen, sich mit von Arbeitern geführten Fabriken, Dienstleistungsunternehmen und landwirtschaftlichen Betrieben zusammenzuschliessen und Kommunen (comunas) zu bilden.

Die Kommunen sind das Herzstück der partizipativen und proaktiven Demokratie Venezuelas und bilden die Basis der Volksmacht. Sie erstrecken sich über grosse geografische Gebiete und umfassen Tausende von Einwohnern, vor allem in Gegenden mit niedrigem Einkommen.

Die Delegierten der Kommunalräte bilden das Entscheidungsgremium oder Parlament der Kommune, das darüber berät und entscheidet, was die von der Kommune betriebenen Fabriken produzieren, wie hoch die Löhne der Arbeiter sind, wie die Produkte verteilt werden und wie etwaige Überschüsse am besten in die Kommune investiert werden können, um das Wohl der Gemeinschaft zu sichern. Die Kommunen haben auch eigene Banken, die die finanziellen Mittel der Kommune verwalten.

Im Jahr 2009 wird das «Ministerium der Volksmacht für Kommunen und soziale Bewegungen» geschaffen. Am 20. Oktober 2012 unterstrich der verstorbene Präsident Hugo Chávez Frías die Bedeutung der Kommunen für den bolivarischen Prozess mit der Erklärung «Kommune oder nichts!» Im Frühjahr 2021 verabschiedete die venezolanische Nationalversammlung zwei Gesetzesprojekte, die den Aufbau kommunaler Städte und die Schaffung eines nationalen Parlaments der Kommunen fördern.

Das organisierte Volk schafft seine eigenen Dienstleistungen

Frauen stellen die Mehrheit der der Leader in der Gemeinschaft und sind das Herzstück des Aufbaus von Kommunalräten und Kommunen. Sie tragen entscheidend dazu bei, dass Venezuelas Arbeiterfamilien Zugang zu Lebensmitteln, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und anderen lebensnotwendigen Gütern haben, die durch den Wirtschaftskrieg bedroht sind, den die US-Regierung, ihre Verbündeten in Europa und Amerika und die reiche Elite Venezuelas gegen sie führen.

Die US-Sanktionen machen es für Venezuela nahezu unmöglich, auf den internationalen Märkten erschwingliche Lebensmittel zu erwerben. Die venezolanische Regierung versorgt sechs Millionen Familien mit subventionierten Lebensmitteln über die von der Bevölkerung betriebenen «CLAP» (spanische Abkürzung für Lokale Komitees für Beschaffung und Produktion). Freiwillige Helfer aus den Quartieren, die von den Kommunalräten betreut werden, gehen von Tür zu Tür und erkundigen sich nach dem Lebensmittelbedarf der Einwohner. Die Kommunalräte organisieren dann den Transport und die Verteilung der CLAP-Kisten. Die Kommunen richten Gemeinschaftsküchen ein, in denen Freiwillige Mahlzeiten für einkommensschwache Familien zubereiten und ausgeben.

Die Kommunalräte sind auch Protagonisten der Gran Misión Vivienda, dem venezolanischen Wohnungsbauprogramm, das seit 2011 mehr als 3,5 Millionen Wohnungen errichtet und an einkommensschwache Familien abgegeben hat. Im Arbeiterviertel «Nueva Comunidad Socialista Amatina» in Caracas haben sich 137 Familien zusammengeschlossen, um ihre zukünftigen Wohnungen zu entwerfen und zu bauen. Die Frauen waren federführend bei diesem Prozess, der durch die Organisation der Gemeinschaft und die Unterstützung der Regierung in Form von Zuschüssen und Fachwissen, wo nötig, ermöglicht wurde.

Hundertprozentige Gesundheitsversorgung

Der Prozess des Aufbaus einer Kommune durch und für die Menschen wird in dem Dokumentarfilm «Zeiten des Kampfes» (Tiempos de lucha) gezeigt, einer Koproduktion der Kommune Altos de Lidice in Caracas und der Populären und Lateinamerikanischen Schule für Film, Fernsehen und Theater (EPLACITE), einer 1995 in Venezuela gegründeten, gemeindebasierten lateinamerikanischen Film-, Fernseh- und Theaterschule. Der Dokumentarfilm konzentriert sich auf den Aufbau einer Gesundheitsversorgung für alle durch den Zusammenschluss der Gesundheitsausschüsse der Gemeinderäte in der Kommune.

Die Kommune Altos de Lidice besteht aus 5190 Einwohnern, davon sind 1000 Kinder. Jeder einzelne Einwohner hat Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung und medizinischen Untersuchungen.

Die in der Bevölkerung verankerten Gesundheitsausschüsse bilden Teams aus Freiwilligen, die die Haushalte der Nachbarschaft aufsuchen und sich nach den gesundheitlichen Bedürfnissen der Bewohner erkundigen. Sie verteilen Medikamente an Bewohner, die ihr Haus nicht verlassen können, begleiten Ärzte bei ihren Hausbesuchen bei kranken Gemeindemitgliedern und überwachen kranke Bewohner.

Die Gesundheitsausschüsse überprüfen auch den Gesundheitszustand jedes einzelnen Kindes in einem Viertel und beobachten Unterernährung und Übergewicht, um sicherzustellen, dass diese Kinder die notwendige Behandlung erhalten. Sie richten zudem kommunale Apotheken ein, die Medikamente an die Bevölkerung abgeben und organisieren Impf- und Präventionskampagnen, um die Bevölkerung vor bestimmten Gesundheitsproblemen zu schützen.

Eine echte demokratische Beteiligung

Kommunalräte und Kommunen sind grundlegende Instrumente für die Beteiligung der arbeitenden Bevölkerung an echten demokratischen Entscheidungsprozessen. Im Gegensatz zu den USA und vielen europäischen Ländern basieren die Wahlen zu den Kommunalräten und Kommunen nicht auf dem Reichtum, dem Aussehen oder den Slogans einzelner Personen, und die Entscheidungen werden nicht im Interesse der wohlhabenden Eliten getroffen, sondern auf der Grundlage der täglichen Bedürfnisse, die die arbeitenden Menschen und ihre Familien für sich selbst definiert haben.

* Natalie Benelli ist Präsidentin von ALBA Suiza und Mitglied der nationalen Koordination der Vereinigung Schweiz-Cuba. Auf ihren Reisen nach Venezuela besuchte sie Projekte im Bereich des sozialen Wohnungsbaus und der Lebensmittelverteilung, die von Kommunalräten und Kommunen (comunas) organisiert werden. Durch Vorträge und Artikel in «Collective Endeavor» und europäischen Publikationen teilt sie ihre Erfahrung aus erster Hand mit dem Publikum in Europa und in den USA.

Quelle: Collective Endeavor, Vol 26, Issue 1, Winter 2022
(Übersetzung aus dem Englischen: «Schweizer Standpunkt»)

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