Sozialabbau und Aufrüstung
Wirtschaftliche und soziale Folgen der Kriegspolitik in Deutschland
von Sevim Dagdelen,* Deutschland
(26. September 2023) (Red.) Unter dem Motto «Den Frieden und die Zukunft gewinnen, nicht den Krieg» hat das Kölner Friedensforum am 1. September 2023 zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen.
Anlass war der Weltfriedenstag. Vor vollbesetztem Saal hielt die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen («Die Linke») eine eindrückliche Rede. Deutlich sprach sie sich gegen die Russland-Sanktionen und eine Kriegseskalation durch weitere Waffenlieferungen aus. Sie setzt sich entschieden für eine diplomatische Lösung des Kriegs ein.
Als sie in ihrer Rede aufzeigte, welche gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen die Kriegs- und Aufrüstungspolitik der gegenwärtigen Bundesregierung hat, wurde sie mit stehenden Ovationen bedacht. Anwesende Gewerkschaftsmitglieder prangerten in der anschliessenden Diskussion an, dass zum Beispiel ein hervorragend arbeitendes Kinderkrankenhaus in Köln aus finanziellen Gründen geschlossen werden soll. Die städtische Infrastruktur sei vielerorts marode. Der Krieg und die Sanktionen gegen Russland hätten sich zu einem Kampf gegen die Bevölkerung und den deutschen Sozialstaat entwickelt.
Die Schweiz ist ebenfalls vom wirtschaftlichen und sozialen Zerfall Deutschlands und weiterer EU-Länder betroffen, denn ihre Wirtschaft hängt auch von den Exportmöglichkeiten in die EU ab. Durch die Übernahme der westlichen Sanktionspolitik ist die Schweiz von hohen Energiekosten und dem Abzug von Geldern aus der Finanz- und Industriewirtschaft betroffen. Gleichzeitig werden die nationale Souveränität, die integrale Neutralität, wie auch der wirtschaftliche und soziale Wohlstand gefährdet.
Im Folgenden dokumentiert der «Schweizer Standpunkt» die 10 Thesen der Autorin, die sie auch als Beitrag zur aktuellen Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag formulierte.
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Eins. Deutschland ist im Krieg. Im Niedergang und im Ausnahmezustand. Allein, es gibt kaum eine öffentliche Debatte über die dramatischen Umbrüche in unserem Land. Mit 85,5 Milliarden Euro nach NATO-Kriterien für das Militär hat die Bundesregierung für 2024 einen Haushalt aufgelegt, der alle historischen Dimensionen seit Bestehen der Bundesrepublik sprengt. Es sind die höchsten deutschen Militärausgaben seit 1945. Deutschland steigt damit zur ausgabenstärksten Militärmacht in Europa noch vor Russland auf.
Zwei. Wer glaubt, diese historisch hohen Militärausgaben werden keine Kürzungen im Sozialbereich nach sich ziehen, sollte besser auf den Haushaltsansatz der Bundesregierung für 2024 schauen, der in dieser Woche im Bundestag diskutiert wird. Hier ist das Prinzip «Sozialabbau und Aufrüstung sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille» augenfällig, wie etwa folgende Kürzungsposten zeigen. Müttergenesungswerk: minus 93 Prozent, Familienferienstätten: minus 93 Prozent, Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten: minus 77 Prozent, freie Jugendhilfe: minus 19 Prozent, Wohngeld: minus 16 Prozent, BAföG: minus 24 Prozent. Der Etatentwurf zeigt, wir haben es mit einem sozialen Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu tun.
Drei. Dieser soziale Krieg gegen die eigene Bevölkerung beinhaltet aber auch eine Politik, die die Infrastruktur in Deutschland weiter kaputtkürzt und Deutschland als Industrieland massiv gefährdet. Viele denken hier oft nur an die Bahn, was sicherlich stimmt. Aus Personalmangel müssen Bahnstrecken zeitweilig eingestellt werden, so grotesk ist die Lage mittlerweile. Ein anderes, nicht minder gravierendes Beispiel sind die Krankenhäuser. Die wirtschaftliche Situation der Kliniken ist dramatisch. Es droht ein Kahlschlag bei der Gesundheitsversorgung und die Schliessung vieler weiterer Krankenhäuser, ohne dass hier von der Bundesregierung gegengesteuert wird. Am Ende wird ein völlig kaputtes Gesundheitssystem stehen, das britischen Verhältnissen gleicht.
Ende Juli 2023 standen im Vereinigten Königreich 7,6 Millionen Menschen auf Wartelisten für eine Routineoperation, so viele wie noch nie seit 2007, dem Beginn der Aufzeichnungen dazu. 383 000 Menschen warteten seit über einem Jahr auf eine OP. Diese neoliberale Politik kalkuliert den Tod von Millionen Menschen ein, die sich keine Operation an einer Privatklinik im Ausland leisten können. Die Bundesregierung jedenfalls ist mit ihrem Wirtschaftskrieg verantwortlich für den beispiellosen Niedergang in Deutschland. Wer hier auch noch nach weiteren Verschärfungen der Sanktionen ruft oder wie Teile der Führung der Partei Die Linke lamentiert, dass diese nur «halbherzig umgesetzt» werden, sollte das Wort «Sozialstaat» nicht länger in den Mund nehmen.
Vier. Verbunden mit den Rüstungsanstrengungen der Bundesregierung ist eine beispiellose Beteiligung am Stellvertreterkrieg in der Ukraine. Finanzminister Christian Lindner hat in Kiew fünf Milliarden Euro «Ertüchtigungshilfe», sprich: Waffenhilfe, zugesagt. Jährlich, bis 2027. Das findet sich auch im Haushaltsansatz für 2024 wieder. Während die Kindergrundsicherung mit 2,4 Milliarden Euro viele Kinder arm zurücklassen wird, geht bei Rüstung alles. Die Aufrüstungshilfe für die Ukraine wird zum ständigen Posten. Die Bundesregierung macht Deutschland damit zu einem Militärstaat in der Mitte Europa. Ein Fünftel aller Ausgaben der Ampel, fast 20 Prozent, fliessen in militärische Zwecke. Eine ungeheuerliche Dimension.
Fünf. Deutschland ist nach den USA und Grossbritannien der Staat, der sich am stärksten am Stellvertreterkrieg gegen Russland beteiligt. Hier wird der Ruf nach Lieferung immer weiterer und immer schwererer Waffen beständig lauter, was auch führende Köpfe der Partei Die Linke betrifft. Angefangen hat es mit ein paar Helmen, nach dem «Leopard»-Kampfpanzer geht es mittlerweile bereits um «Taurus»-Marschflugkörper – Mittelstreckenwaffen, die Städte in Russland treffen können und atomar bestückbar sind. Offenbar in der Hoffnung, dass der Spagat gelingt, sich über Waffenlieferungen, militärische Ausbildung ukrainischer Soldaten und geheimdienstliches Zuarbeiten bei der Zielerfassung am Krieg beteiligen zu können, ohne direkt dafür Konsequenzen erfahren zu müssen. Das könnte sich als trügerisch erweisen.
Sechs. Deutschland ist aber nicht allein wegen der gigantischen Rüstungsausgaben im Ausnahmezustand, sondern auch wegen der Sanktionen gegen Russland und ihrer Folgen. Die Bundesregierung hatte den Wirtschaftskrieg gemeinsam mit der EU den USA folgend vom Zaun gebrochen, in der Hoffnung, so Grünen-Aussenministerin Annalena Baerbock, Russland zu ruinieren. Wie so oft im Leben kam es anders, als man dachte. Man könnte mit Blick auf die Bundesregierung auch sagen: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Zur Überraschung der Aussenministerin ist es Deutschland, das einen wirtschaftlichen Einbruch erleidet, und nicht Russland. Während die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 2,5 Prozent wächst, weil man andere Absatzmärkte für seine Energielieferungen gefunden hat bzw. soviel LNG-Gas nach Europa liefert wie nie zuvor, galoppieren in Deutschland die Preise für Energie und Lebensmittel. Die Bundesregierung hat zwar Ersatz für das russische Gas gefunden, aber die Preise für das US-amerikanische Fracking-Gas sind deutlich höher und stellen die Existenz der deutschen Industrie insgesamt in Frage. Jetzt wird überlegt, den Industriestrom für grosse Konzerne in den energieintensiven Branchen dauerhaft aus Steuermitteln zu subventionieren. Aber ist das wirklich ein tragfähiges wirtschaftliches Konzept, wenn bei mittelständischen Bäckereien der Ofen kalt bleibt?
Sieben. Im Zuge des Krieges ist die demokratische Souveränität Deutschlands unter die Räder gekommen. Die Ampelkoalition hat sich beim Wirtschafts- und Stellvertreterkrieg in der Regel als Transmissionsriemen der Entscheidungen Washingtons verstanden – bis dahin, dass sich die Bundesregierung von den USA bei den Panzerlieferungen sogar in die erste Reihe schieben liess. Damit spitzt sich eine Entwicklung zu, in der die Bundesrepublik zum einen als US-Truppenstützpunkt wie ein unsinkbarer Flugzeugträger der USA agiert und in der US-Investmentfonds in der deutschen Wirtschaft eine bestimmende Funktion einnehmen konnten.
Die Bundesregierung agiert hier wie die politische Vertretung einer Kompradoren-Bourgeoisie im Lateinamerika der 1970er Jahre, als Erfüllungsgehilfe der Interessen von US-Konzernen. Das geht so weit, dass die Ampel dabei ist, die wichtigen Wirtschaftsbeziehungen zu China aufs Spiel zu setzen – auf die Gefahr hin, der deutschen Automobilindustrie, in der über 800 000 Beschäftigte arbeiten, den Todesstoss zu versetzen.
Acht. Die Bundesregierung hat das weltpolitische Schicksal Deutschlands auf Gedeih und Verderb an den absteigenden Hegemon USA geknüpft. Problem dabei: Um den eigenen drohenden Abstieg zu verhindern, ist der Hegemon bereit, auch engste Verbündete unter den Bus zu werfen, wie man im Englischen sagt. Es sei hier nur an die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines erinnert. Bei allen Bemühungen auch deutscher Leitmedien, eine Gegenerzählung zu entwickeln, die auf unbekannte Ukrainer als Täter verweist, stehen weiterhin die Recherchen des US-Investigativreporters Seymour Hersh im Raum, die auf eine unmittelbare Inauftraggabe von US-Präsident Joe Biden verweisen – mit einer nachträglichen Einweihung von Bundeskanzler Olaf Scholz in den Terrorplot. Die Bundesregierung jedenfalls scheint grosse Angst vor möglichen Enthüllungen zu haben, die in Richtung Washington weisen könnten.
Anders ist es nicht zu erklären, dass lediglich eine Handvoll Ermittler in Deutschland mit der Aufklärung des grössten Terroranschlags in der jüngeren Geschichte Europas befasst sind. Wer weniger Ermittler mit der Aufklärung der Terroranschläge auf die Energieinfrastruktur Deutschlands und Europas beauftragt, als mit der Ahndung eines Kaufhausdiebstahls befasst sind, der kann kein wirkliches Erkenntnisinteresse haben. Hier scheinen «Ermittlungen» lediglich geführt zu werden, um die wirklichen Täter und ihre Hintermänner nie benennen zu müssen.
Der Krieg in der Ukraine zeigt: Wer heute im Westen seine demokratische Souveränität verteidigen will, kann das allein mittels bedingungsloser Neutralität tun. Denn auch die Nato, der sich die Kommission und der Rat der EU dienstbar machen, dient nur als Transmissionsriemen geopolitischer Interessen von US-Konzernen. Nur wenn wir sagen: «Kein Krieg ist unser Krieg, auch dieser nicht», schaffen wir den diplomatischen Spielraum, auf Verhandlungen zu drängen und Deutschland als Kriegspartei herauszunehmen.
Neun. Der französische Sozialist Jean Jaurès wies darauf hin, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen. Zugleich muss man konstatieren, dass auch dieser Krieg verbunden ist mit einem brutalen Klassenkampf in Deutschland, wobei die oben gewinnen und die unten verlieren. Dazu nur zwei Zahlen: Während die Beschäftigten in Deutschland vier Prozent an Reallohnverlusten zu erleiden haben – die höchsten Verluste seit Ende des Zweiten Weltkriegs –, explodieren mit 170 Milliarden Euro die Gewinne der Dax-Konzerne. Dieser Krieg als Wirtschafts- und Stellvertreterkrieg bewirkt eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, bei der die Bundesregierung Schmiere steht. Nicht einmal eine wirkliche Übergewinnsteuer hat sich die Ampel abringen können. Sie trägt Schuld für die Verelendung grosser Teile der Bevölkerung in Deutschland.
Zehn. Angesichts des Niedergangs in Deutschland und einer drohenden direkten Kriegsbeteiligung ist es höchste Zeit, den Kriegstreibern in den Arm zu fallen. Es braucht klare Kante gegen Waffenexporte und Wirtschaftskrieg, gegen die asoziale Ausplünderung der grossen Mehrheit der Bevölkerung. Unbeeindruckt vom lauten Chor der Bellizisten gilt es, auf einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine ohne Vorbedingungen zu drängen. Die Friedensinitiative der BRICS-Staaten, die bald 47 Prozent der Weltbevölkerung und 37 Prozent der Weltwirtschaftsleistung repräsentieren, könnte hier Vorbild sein. Noch ist Zeit. Aber die Zeit läuft auch gegen Berlin.
* Sevim Dagdelen ist 1975 in Duisburg geboren. Von 1998 bis 2001 absolvierte sie ihr Studium der Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg, von 2001 bis 2002 ein Akademisches Jahr an der juristischen Fakultät der University of Adelaide in Südaustralien und von 2002 bis 2006 war sie an der Universität zu Köln. Seit 2005 ist Sevim Dagdelen Mitglied im Deutschen Bundestag für «Die Linke» und im Auswärtigen Ausschuss sowie stellvertretendes Mitglied im Verteidigungsausschuss. Sie ist auch Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung der NATO (NATO PV), stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sowie Mitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI e.V.). |
Quelle: https://www.sevimdagdelen.de/sozialabbau-und-aufruestung-2/, 6. September 2023
(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin)