Ungarns Ziel: Gender-Ideologie darf in Europa nicht zur Staatsdoktrin werden

Soma Hegedős (Bild zvg)

von Soma Hegedős*

(10. August 2021) Eine internationale Debatte begleitet die vom ungarischen Parlament beschlossene Regelung gegen pädophile Straftäter. Diese Debatte beeinträchtigt ernsthaft nicht nur unser Bild von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten, sondern auch von Menschenrechten und Freiheit.

Die sogenannte ungarische Anti-Pädophilen-Gesetzgebung zum Schutz von Kindern hat sowohl in den Medien als auch in der Politik weltweit für grosses Aufsehen gesorgt. Der ungarische Ansatz wurde von einigen Mitgliedern der Europäischen Kommission stark kritisiert, darunter von Ursula von der Leyen, die sagte, dass die ungarische Kinderschutzgesetzgebung auf den Prüfstand gestellt werden müsse. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, hat die ungarische Entscheidung als Angriff auf LGBTQI-Menschen bezeichnet, der ihrer Ansicht nach gegen internationale und europäische Menschenrechtsstandards verstosse.

Der Fall verdeutlicht, unabhängig von der konkreten rechtlichen und moralischen Beurteilung der ungarischen Gesetzgebung, dass die Auslegung und der Rahmen der Menschenrechte die bedeutendsten Konfliktfelder der heutigen politischen Debatte sind. Und dass schon die Frage, ob beispielsweise die Kindererziehung den Eltern oder eher dem Staat gehört, selbst Gegenstand einer moralischen – ideologischen – Vorannahme ist. Das kann daher nicht nur diskutiert werden, sondern muss diskutiert werden.

Ideologiefreie Kindererziehung – existiert das?

In den letzten Tagen [im Juni 2021] hat das ungarische Parlament auf Vorschlag der Regierung ein Paket von mehreren Änderungen unterschiedlicher Gesetze in Bezug auf den Schutz von Kindern verabschiedet. Von den Änderungen wurde vor allem der Teil kritisiert, der die Darstellung von Pornografie und Inhalten, die Sexualität als «selbstzweckhaft» darstellen oder die Geschlechtsumwandlungen zeigen oder die Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität (!) fördern, für Kinder unter 18 Jahren verbietet.

Es ist daher wichtig zu betonen, dass nicht die Aufklärung über Homosexualität im Allgemeinen und auch nicht deren Darstellung, sondern speziell die propagandistische Förderung durch das Gesetz eingeschränkt wird [siehe Kasten S. 2]. Dennoch halten einige Verfassungsrechtler die besondere Hervorhebung der Homosexualität für verfassungswidrig, da nach bestimmten verfassungsrechtlichen Argumenten nicht zwischen Hetero- und Homosexualität unterschieden werden könne.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán reagierte auf die internationale Kritik und gab eine Erklärung ab: Der Sinn der Regelung sei, dass der ungarische Staat das Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder anerkenne. Daher haben Eltern in bestimmten moralischen Fragen, wie zum Beispiel der Sexualität, das Recht zu entscheiden, wie sie ihre Kinder erziehen.

Trotz ernsthafter Kritik sagen einige Experten, dass die ungarische Gesetzgebung in ihrer jetzigen Form einen grossen Spielraum lässt und dass die tatsächliche Praxis der entscheidende Faktor sein wird. Der Verweis des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dass Eltern das Recht haben, bei der Bildung ihrer Kinder mitentscheiden zu können, hat aber auch die wachsenden theoretischen und inhaltlichen Unterschiede deutlich gemacht.

Während das ungarische Grundgesetz vorschreibt, dass die Familie auf der Eltern-Kind-Beziehung beruht und die Eltern das Recht haben, die Bildung ihres Kindes frei zu wählen, gewinnt in vielen westlichen Ländern der staatliche Trend der sogenannten Defamilisierung zunehmend an Bedeutung. Das Konzept der Defamilisierung tauchte erstmals Anfang der 1990er-Jahre vor allem im feministischen Kontext auf.

Das Wesen der Defamilisierung besteht darin, die Rolle des Staates gegenüber Mutter und Vater bei der Erziehung und Betreuung von Kindern zu stärken. Wir sehen, wie dieses Modell vor allem in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten funktioniert: Der Staat übernimmt eine tragende Funktion in der Erziehung, insbesondere was die finanziellen Belastungen angeht, und setzt gleichzeitig die Rechte der Kinder mit staatlichen Mitteln durch, gegebenenfalls auch gegen die moralische Wahrnehmung und das Erziehungsrecht der Eltern. Die Stärkung der Rolle des Staates in Bezug auf die elterliche Freiheit – genau das Gegenteil von dem, was der Liberalismus einst proklamierte.

Und genau dieser Aspekt – die Rolle des Staates – ist für moderne «Gleichstellungs»-Bewegungen wie die Gender- bzw. LGBTQI-Bewegung von besonderer Bedeutung: Da Geschlechterungleichheiten als allein durch die Sozialisation entstehend wahrgenommen werden, spielen sexuell staatlich kontrollierte Kindererziehung und Erziehung sowie die «Verhinderung» der Entwicklung verschiedener negativer soziomoralischer Instinkte eine Schlüsselrolle bei der Gleichstellung von Minderheiten.

Das Problem ist jedoch, dass die von unseren moralischen Vorstellungen und kulturellen Innervationen geprägte Beziehung zwischen der Sexualität und dem Frau-Mann-Prinzip (und insbesondere dem Eltern-Kind-Prinzip) von derjenigen der Gender-Ideologie völlig verschieden ist. In Europa beispielsweise ist die christlich geprägte moralische Auffassung, dass Kinder und Jugendliche nicht frühzeitig an sexuelle Beziehungen «gewöhnt» oder in sexuelle Abhängigkeiten gedrängt, sondern von propagandistischen sexuellen Reizen ferngehalten werden sollten.

Die beiden Ansichten lassen sich nicht vollständig vereinen und basieren auf unterschiedlichen Annahmen: Während die Ideologie moderner politisch-egalitäre Bewegungen hinsichtlich der Gleichstellung «sexueller Minderheiten» behauptet, dass Kinder das Menschenrecht hätten, durch entsprechende Bildung bereits in jungen Jahren Sexualität zu erfahren und ihre eigene sexuelle Identität auszubilden und anzunehmen, ist die auf den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und der Pädagogik fussende konservative Sichtweise grundlegend anders: Gerade weil die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern durch eine vorzeitige Sexualisierung stark geschädigt werden kann und ein Kind noch gar nicht in der Lage ist, sich in Bezug auf diese Fragen bewusst und sachlich zu entscheiden, ist eine behutsame moralische Anleitung insbesondere aus Elternsicht überaus wichtig.

red. In den von Soma Hegedös in seinem Artikel angesprochenen Gesetzesänderungen geht es um den Schutz Minderjähriger. Viele Eltern, Pädagogen, Kinder und Jugendliche in Europa würden sich solche Schutzklauseln wünschen. Wir dokumentieren hier den Wortlaut der wesentlichen Änderungen:

1. Änderung des Gesetzes XXXI von 1997 über den Schutz von Kindern und die Vormundschaftsverwaltung

Abschnitt 1
(1) Im Untertitel «Die Ziele und Grundsätze des Gesetzes» […] wird folgender Abschnitt 3/A hinzugefügt:
Im Rahmen des Kinderschutzsystems schützt der Staat das Recht der Kinder auf eine ihrem Geburtsgeschlecht entsprechende Selbstidentität.
(2) […] wird folgender Abschnitt 6/A angefügt:
Um die Erfüllung der Ziele dieses Gesetzes und die Verwirklichung der Rechte des Kindes zu gewährleisten, ist es verboten, Personen, die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Inhalte zugänglich zu machen, die pornografisch sind oder die Sexualität in unangemessener Weise darstellen oder die eine Abweichung von der dem Geburtsgeschlecht entsprechenden Selbstidentität, eine Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität propagieren oder darstellen. […]

3. Änderung des Gesetzes XLVIII von 2008 über die Grundbedingungen und bestimmte Beschränkungen für wirtschaftliche Werbetätigkeiten

Abschnitt 3
In § 8 […] wird der folgende Absatz (1a) angefügt:
Es ist verboten, Personen, die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Werbung zugänglich zu machen, die Sexualität in unzulässiger Weise darstellt oder die Abweichung von der dem Geburtsgeschlecht entsprechenden Selbstidentität, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität propagiert oder abbildet. […]

5. Änderung des Gesetzes CLXXXV von 2010 über Mediendienste und Massenkommunikation

Abschnitt 9 […]
(2) § 9 Abs. 6 […] wird durch folgende Regelung ersetzt:
Programme werden in die Kategorie V eingestuft, wenn sie geeignet sind, die körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung von Minderjährigen negativ zu beeinflussen, insbesondere weil sie als zentrales Element Gewalttätigkeit, die Propagierung oder Darstellung einer Abweichung von der dem Geburtsgeschlecht entsprechenden Selbstidentität, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität oder die unmittelbare, naturalistische oder grundlose Darstellung von Sexualität enthalten. Diese Programme werden als «nicht geeignet für Zuschauer unter achtzehn Jahren» eingestuft.

Quelle: https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/das-steht-im-gesetz-der-regierung-orban/

Gender – eine westliche Staatsdoktrin?

Die Debatte macht deutlich, dass die heutigen politischen Kämpfe die Auslegung der Menschenrechte fokussieren: Bestimmte ideologische Bewegungen versuchen, die Menschenrechte als Mittel zur Durchsetzung ihrer eigenen ideologischen Vorstellungen und politischen Interessen zu nutzen.

Es ist kein Zufall, dass sich in einigen Ländern konservative gesellschaftliche Gruppen gegen den Einsatz politischer Mittel zur Durchsetzung der Gender-Ideologie als eine Art Staatsdoktrin aussprechen. Während also in Ungarn kritisiert wird, dass der Staat in Bezug auf Kinderschutz und Erziehung eine relativ neutrale Rolle einnimmt und dabei bestimmte konservative Aspekte berücksichtigt, ist die Situation in vielen westlichen «Wohlfahrts»-Ländern umgekehrt: Das Schlagwort der «sexuellen Vielfalt» wird immer mehr zu einer allgemeinen Staatsideologie. In diesem Zusammenhang werden staatliche Mittel an solche Organisationen vergeben, die sexuelle Vielfalt fördern. Materialien, die sexuelle Vielfalt fördern, werden in die Lehrpläne aufgenommen und die öffentlichen Medien geben den ideologischen Vorstellungen von Geschlecht zunehmend mehr Raum.

Die Realität ist, dass zum Beispiel die Regenbogenflaggen, die in Deutschland – eher provokativ – wegen des Besuchs der ungarischen Fussballmannschaft gehisst wurden, immer mehr auf eine reale ideologisch-globale Differenz und eine Art spezifische staatspolitische Doktrin hinweisen.

Diese Doktrin spiegelt sich auch zunehmend in der Politik der Europäischen Union wider: Erst vor einem Jahr wurde beispielsweise der Entwurf des Fünfjahresprogramms für die Gleichstellung der Geschlechter verabschiedet, das über die Idee der Gleichstellung von Frauen und Männern hinausgeht. Das Programm will die Gleichstellung von Männern und Frauen sowie von «Jungen und Mädchen» «in all ihrer Vielfalt» («in all their diversity») verwirklichen.

Zur Veranschaulichung und zum Verständnis der Gründe und der Relevanz der ungarischen Gesetzgebung werden im Entwurf des EU-Programms als Modell Aktionspläne wie die Bereitstellung von «geschlechtsstereotypenfreier, offener, pluralistischer und ermutigender Kinderliteratur» bei Kinderlesungen und in Kinderbibliotheken genannt.

Streit um demokratische Werte – zwischen den Mitgliedstaaten möglich

Die grosse Frage ist, ob Ungarn oder ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union in dieser Situation noch das Recht hat, eine bestimmte politische Ansicht in diesen Fragen zu vertreten.

Es ist wichtig zu sehen, dass auch nach dem Vertrag von Lissabon gilt, dass die Europäische Union auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge geschaffen wurde, nach denen die Mitglied-staaten – im Rahmen eines Staatenbundes – bestimmte Werte als gemeinsam akzeptieren, aber gleichzeitig ihre eigene verfassungsrechtliche Identität bewahren.

Die Mitgliedstaaten haben die Gründungsverträge der Europäischen Union als gleiche Vertragsparteien unterzeichnet, und so muss die Möglichkeit einer demokratischen Wertedebatte zwischen den Mitgliedstaaten respektiert und gewährleistet werden. Aber nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Union selbst hat die Pflicht, ihrer eigenen kulturellen Vielfalt Rechnung zu tragen – was im Übrigen in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union unmissverständlich deklariert ist. Die EU ist also ausdrücklich in der Pflicht. Und wo zeigt sich die «kulturelle Vielfalt» am deutlichsten, wenn nicht im Bereich der Wertvorstellungen von Familie und Kindererziehung?

In der ungarischen Gesetzgebung gibt es sicher bestimmte Punkte, über die man streiten kann. Die radikale Durchsetzung der Gender-Ideologie und der «sexuellen Vielfalt» als eine Art Staatsideologie – die mit dem föderalen Charakter der EU unvereinbar ist und die traditionellen europäischen Werte und Moralvorstellungen grundsätzlich ablehnt – widerspricht jedoch den Menschenrechten und den ursprünglichen Zielen des Vertrags der Europäischen Union.

* Soma Hegedős ist Jurist und Publizist, derzeitig leitender Forscher (Head Research) bei der ungarischen Denkfabrik Danube Institute. Er hat die juristische Ausbildung an der prestigeträchtigen Eötvös-Lorand-Universität Budapest absolviert. In Deutschland studierte er an der Uni Köln. Seine Artikel sind früher in ungarischen Online- und Wochenzeitungen wie HVG (www.hvg.hu) und Hetek (www.hetek.hu) erschienen.

Quelle: https://www.epochtimes.de/meinung/gastkommentar/ungarns-ziel-gender-ideologie-darf-in-europa-nicht-zur-staatsdoktrin-werden-a3543114.html vom 25. Juni 2021 (Copyright mit freundlicher Genehmigung des Verlags Epoch Times)

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