Von der Freude, (Klassen)lehrer zu sein

ISBN 978-3-532-62874-4

Ist der Lehrermangel eine Folge der Vermiesung des Berufs?

von Margrit Brügger*

(31. Oktober 2022) Aufmüpfige Kinder, fordernde Eltern, die mit dem Rechtsanwalt drohen, überbordende administrative Aufgaben, Lehrpläne und behördliche Kontrolleure, die der Pädagogik oft mehr als nur hinderlich sind – mit all dem sind Klassenlehrer konfrontiert und vielfach auch massiv in ihrer Arbeit behindert. Alain Pichard hat die vielfältigen, zum Teil aufreibenden Aufgaben des Klassenlehrers beschrieben.1 Wie kann man da von der Freude, Klassenlehrer zu sein, reden?

Um 5.30 Uhr klingelt der Wecker. Ein Tag mit sieben Unterrichtslektionen steht mir bevor. Bei meinen morgendlichen Verrichtungen fühle ich mich noch gar nicht fit. Am liebsten würde ich wieder ins Bett gehen. Ausserdem gehen mir noch private Diskussionen von gestern schwer durch den Kopf. Es hilft alles nichts – ich muss! Um 6.45 Uhr bin ich in der Schule, ordne noch kurz meine Materialien, schreibe noch etwas an die Wandtafel, mache vielleicht noch ein paar Kopien.

Dann, 7.15 Uhr, geht’s los. Die Schüler kommen herein. Wir begrüssen uns mit Handschlag und ich tauche ein ins Beziehungsgeschehen mit meinen Schülern. Bei jedem und jeder ist mir wieder gegenwärtig, wie seine Situation ist, was gestern war, wie es ihm oder ihr geht. Hier und da knüpfe ich mit kleinen Bemerkungen an, zeige damit dem einen oder anderen mein Interesse, meine Sympathie und dass ich an ihn denke.

Natürlich schwätzen die Schüler, lärmen, laufen herum. Sie setzen sich nicht automatisch hin und schauen mich erwartungsvoll an. Das muss ich schon selber bewirken. Das geht auch: Ich stehe vor der Klasse, schaue die Schüler an, in meinem Blick und meiner Haltung liegt die Erwartung, dass sie ruhig werden, sich auf das einstellen, was ich ihnen zu sagen habe, was heute bei uns läuft. Natürlich sage ich auch mal etwas, zu allen, z.B. «Es ist Zeit, setzt euch hin!», oder zu einzelnen, z.B. «Ghökan, soll ich dir eine schriftliche Einladung schicken?».

Es kommt nicht so sehr darauf an, was ich sage, das sind keine magischen Worte. Es kommt darauf an, dass ich sicher bin, dass sie auf mich hören werden, dass sie sich gemeint fühlen. Ich muss voll und ganz präsent sein und gerne vor ihnen stehen mit dem Gefühl, dass wir jetzt etwas Wichtiges und Spannendes vorhaben, bei dem jeder gefragt ist. Es funktioniert.

Es funktioniert, weil Kinder und Jugendliche auf Erwachsene ausgerichtet sind. Es funktioniert umso besser, wenn sie sich gemeint fühlen, wenn sie sich gemocht und ernst genommen fühlen. Auch Jugendliche sind nicht per se gegen Erwachsene oder desinteressiert. Sie wollen gesehen werden, sie wollen Teil einer Gemeinschaft sein, sie wollen etwas lernen und etwas leisten.

Der Unterricht beginnt. Und damit eine vielfältige Interaktion zwischen den Schülern und mir und den Schülern untereinander. Wir lernen, das heisst, wir setzten uns mit dem Stoff auseinander, erwerben Einsicht, Verständnis, Fähigkeiten und Fertigkeiten. In dieser Arbeit finden wir uns, tauschen wir uns aus, lernen wir uns besser kennen, erfahren wir den anderen, bauen wir Beziehung auf.

Am Ende eines Schultages stelle ich oft fest, dass ich meine privaten Sorgen völlig vergessen habe, dass meine morgendliche Müdigkeit sich in kraftvolle Energie und Motivation verwandelt hat. Nun aber bin ich erschöpft, auch dieses Gefühl wird erst deutlich, wenn der letzte Schüler, die letzte Schülerin sich verabschiedet hat. Bis dahin hält sich meistens meine Aufmerksamkeit, meine Präsenz in der Beziehung.

http://bildung-wissen.eu/

«In der pädagogischen Beziehung fachlich zu bilden und durch die Sache zu erziehen»2

Lehrersein ist selbstverständlich Stoffvermittlung, dazu ist die Beherrschung des methodischen und didaktischen Handwerks Voraussetzung für Erfolg. Doch dann ist es in erster Linie Beziehungsgeschehen. Von dem Moment an, wo die Schüler das Klassenzimmer betreten, bin ich voll präsent, darauf eingestellt, sie entgegenzunehmen, das Geschehen in der Klasse zu gestalten, Lernprozesse zu fördern, zu ermutigen, anzuleiten, Beziehungen zu stiften, auch zur Konfliktlösung anzuleiten.

Schüler und Schülerinnen erwarten etwas vom Erwachsenen. Wir können sie anleiten, ermutigen, zuhören, Vorbild sein, uns mit ihnen auseinandersetzen, uns voll für sie interessieren. Wir können Schüler und Schülerinnen zu einer Klassengemeinschaft zusammenführen, in der alle bedeutsam sind, in der gegenseitigen Hilfe lebt, die miteinander etwas auf die Beine stellt. Oder anders ausgedrückt ist eine Klasse «eine Gemeinschaft, die miteinander an der Sache arbeitet und dabei auch menschlich zusammenwächst.»3

Die Freude, die man als Lehrer erlebt, wenn man einem jungen Menschen aus der Entmutigung heraushilft, indem man ihm zu Lernerfolg verhilft, kann ich mir in kaum einem anderen Beruf vorstellen. In jungen Menschen das Interesse für die Welt zu wecken, ihnen die Sicht für biologische oder physikalische Phänomene zu eröffnen, oder auch schlicht, ihnen dazu zu verhelfen, einen Text so zu lesen, dass sie ihn verstehen können, ein mathematisches Problem mit Hilfe eines Dreisatzes zu lösen, die Rätsel der Prozentrechnung zu lüften, sie anzuleiten, sich selbst ein Kleidungsstück zu nähen oder ein stabiles Regal zu bauen, oder auch, einen erbitterten Streit unter ihnen so zu moderieren, dass sie lernen, trotz Wut und Zorn einander zuzuhören und so die Sicht des anderen zu sehen, zu verstehen und wieder zueinander zu finden.

Die Liste der sinnvollen Lerninhalte, der menschlichen und zwischenmenschlichen Entwicklungsmöglichkeiten ist unendlich gross und vielfältig. Egal in welchem Fach, auf welcher Stufe, in welcher Schulform auch immer: Wo hat man grössere Einflussmöglichkeiten, wo ist man mehr, direkter und echter in Beziehung, wo kann man so stark junge Menschen begleiten, unterstützen, bilden und formen?

Auch Fachlehrer sind selbstverständlich wichtig, können viel Bedeutsames bewirken. Als Klassenlehrer, in Schulformen und -stufen, in denen man seine Klasse täglich mehrere Stunden unterrichtet, kann man den Ton, die Stimmung in der Klasse sehr stark prägen. Wenn man die Schüler und Schülerinnen das ganze Schulleben begleitet, alle Feste, Anlässe, Lager usw. mit ihnen bestreitet, Elterngespräche führt und Lebensplanungen – weiterführende Schule, Berufsfindung – mit ihnen entwickelt, hat man sehr viel in der Hand, das Geschehen, die Stimmung in der Klasse zu gestalten, zu ermutigen, den Klassengeist zu fördern.

Wo bleiben die Junglehrer und -lehrerinnen?

Da stellt sich die Frage, warum heute viele Lehrer lieber Fachunterricht geben als eine Klasse zu führen. Und noch weiter: Warum gibt es überhaupt zu wenige Lehrer? Die Pädagogischen Hochschulen in der Schweiz berichten stolz, dass sie sehr viele junge Leute ausbilden. Wo bleiben die? Wir erfahren auch, dass ein grosser Teil voll ausgebildeter Lehrer und Lehrerinnen nach kurzer Zeit des Unterrichtens den Beruf schon wieder aufgeben. Warum?

Sie haben sich doch einmal dafür entschieden, wollten ihn also wohl auch ausüben. Professor Jochen Krautz, als Lehrerausbilder mit der Frage konfrontiert, ist auch der Meinung, dass junge Leute diesen Beruf ergreifen mit der Hoffnung, Kindern und Jugendlichen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Doch dann «trainiert man ihnen die Kälte der PISA-Empirie an, lehrt sie, den ‹Output› ihrer Methoden und Techniken zu ‹evaluieren› und zu ‹optimieren›. Pädagogische Beziehung? Um Gottes Willen – unprofessionell!

Was an Engagement noch bleibt, muss die weitere Ausbildung zu Lehrplan-Erfüllern und die Überforderung in einem aberwitzig kontrollierten und bürokratisierten Schulalltag überleben.

Und doch bleibt am Grund jedes pädagogischen Handelns die Hoffnung. Stirbt sie, stirbt auch die Pädagogik und damit der menschliche Sinn der Schule. Wozu eine Schule des Kompetenztrainings, der Outputmessung und der digitalen Geräte? Wozu darin Lehrerin oder Lehrer sein? Daran verzweifeln derzeit viele, junge und ältere Lehrerinnen und Lehrer.»4

Trotzdem …

Ich trotze dem. Noch. Ich versuche, in der Schule das als wesentlich für das Lernen erkannte Agens, die Beziehung und ihre Gestaltung, aufrecht zu erhalten. Ich mache Klassenunterricht. Die Effektivität dieser Unterrichtsform ist vielfach empirisch belegt.

Michael Felten, Lehrercoach und Schulentwicklungsberater, erklärt in Anlehnung an den Hamburger Erziehungswissenschaftler Herbert Gudjons, «diese Unterrichtsform sei von hoher Effizienz und Planbarkeit, sie erlaube lebendige Interaktion und den Aufbau von Gesprächskultur und sozialer Kohäsion, biete vielfältige Rückkopplungsmöglichkeiten und breites Methodenarsenal, und sie ermögliche die Nutzung des Potentials der ganzen Klasse.»5

Wozu verlangt man bei dieser eindeutigen Erkenntnis zunehmend fragmentierende und vereinzelnde Selbstlernmethoden von uns? Es ist absurd, aber das, was bei meinen Schülern gut wirkt, mache ich fast heimlich. Ich mache nur so viel an Evaluationen, Messungen, Selbstlernmethoden mit, wie unumgänglich ist. Doch alles das sind überflüssige, erschwerende bis zuweilen schädliche Einflüsse, die mir das Unterrichten erschweren und mitunter verleiden. Ich fühle mich zunehmend mehr in die Enge getrieben und in die Zange genommen.

Mir sind eine ganze Reihe gestandener Lehrer und Lehrerinnen bekannt, die früher in Pension gegangen sind, weil sie die Zwänge, denen sie unterworfen wurden und die Erschwernisse ihres Berufes nicht mehr ertragen haben. Würde man nicht viele meiner Kollegen wieder fürs Schule geben gewinnen können, wenn man sie endlich von diesem unnötigen Ballast befreien würde? Und würden nicht viele junge Menschen wieder Freude an diesem Beruf finden, den ein erfahrener Psychologe einmal als den schönsten überhaupt bezeichnete, wenn man sie wieder richtig ausbildete und sie in der Beziehungsgestaltung mit ihren Schülern Freude haben liesse?

* Margrit Brügger unterrichtet seit Jahrzehnten erfolgreich in der Schweiz und Deutschland als Sonderschullehrerin, Heilpädagogin und Klassenlehrerin sowie als Schulleiterin einer Sonderschule. Sie arbeitet auf der Grundlage der Adler’schen Individualpsychologie, der Entwicklungspsychologie und der Bindungstheorie.

1 https://condorcet.ch/2022/07/der-klassenlehrer-die-klassenlehrerin-frueher-das-ziel-heute-gemieden und https://condorcet.ch/2022/07/classroom-management/

2 Jochen Krautz. Bilder von Bildung. Für eine Renaissance der Schule. München 2022, S. 27

3 Idem, S. 37

4 Idem, S. 137

5 Michael Felten. «Mit dem ganzen Haufen». Lob des Klassenunterrichts. Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V., Universität Köln, 2022, S. 18.
Link dazu: https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2022/05/Flugschrift3_digital.pdf

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