«War is obsolete» – Menschenrechte einhalten

Fehlende Mechanismen, um Vorbereitung und Durchführung von Kriegen zu ahnden

von Thomas Scherr

(18. Oktober 2022) Viel wird über Menschenrechte gesprochen. Das ist gut so. Es wird gestritten um die freie Meinungsäusserung, die Migration, die Armut usw. Es wird sich empört über die Einhaltung oder Nichteinhaltung verschiedener Menschenrechte. All dies ist richtig und wichtig.

Doch noch immer schwächeln die Menschenrechte an ihrem fundamentalsten Teil, nämlich dem Recht auf Leben. Immer noch wird der bewusst herbeigeführte Tod von Millionen Menschen stillschweigend in Kauf genommen. An diesem Punkt muss endlich ernst gemacht werden. Wie können wir das Recht auf Leben endgültig durchsetzen?

Wer über den Tod anderer entscheidet, hat «Macht» über deren Leben – direkt oder indirekt. Direkt, wenn er einen Befehl zum Töten gibt, zum Beispiel mit dem Abschuss von Raketen. Oder indirekt, indem er Waffen liefert, Lieferungen von Lebensmitteln verhindert oder an der Börse gegen die Lebensgrundlagen anderer spekuliert –, im Wissen darüber, dass Existenzen auf dem Spiel stehen.

Nicht immer ist auf den ersten Blick ersichtlich, ob das Leben anderer existenziell betroffen ist. Und nicht immer ist erkennbar, welche Planungen, Strategien und vorausgehende Handlungen letztendlich Ursachen für tödliche Ereignisse sind. Macht wird dann brandgefährlich, wenn sie über Leben und Tod entscheidet, ohne dass die Rechte der Betroffenen geschützt sind.

Nürnberger Prozesse

Nach zwei Weltkriegen mit katastrophalen Folgen, in denen moderne Techniken zum Töten entwickelt und eingesetzt wurden, in denen Giftgase, Krankheitserreger, Hunger und Genozid als Waffen gebraucht wurden, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals zu einer rechtlichen Aufarbeitung dieser Verbrechen, zu umfassenden Prozessen gegen die Täter: den Nürnberger Prozessen.

Auch wenn man zu Recht einwenden kann, es habe sich um Siegerjustiz gehandelt, weil nur eine Seite angeklagt wurde, bleibt es jedoch der Versuch, das masslose Unrecht eines Krieges zu ahnden.

Hiroshima und Nagasaki machten die Dringlichkeit eines weltweiten Kriegsverbotes überdeutlich. Das massenhafte Sterben und Vegetieren von Zehntausenden von Menschen über Generationen durch nur zwei Bomben machten deutlich, dass es heute nicht mehr um das Überleben Einzelner, sondern um das Überleben der gesamten Menschheit geht. «War is obsolete» (Doug Rokke).

Charta der Vereinten Nationen

Aus dem Bewusstsein, dass im Zweiten Weltkrieg willkürlich und massenhaft Millionen unschuldiger Menschen getötet und die Existenzen von Abermillionen Menschen zerstört wurden, entstand die Charta der Vereinten Nationen. Sie hat den Frieden als oberstes Ziel und gibt konkrete Ziele und Grundsätze vor. Von ihr ausgehend sind viele Verträge erarbeitet worden, die den Frieden sichern sollen: Kontrolle und Abrüstung atomarer, biologischer und chemischer Waffen, Verträge zur gegenseitigen Inspektion, Verträge zu vertrauensbildenden Massnahmen wie die KSZE-Verhandlungen und dann die Einrichtung der OSZE. Daneben sollen Organisationen wie zum Beispiel Unicef oder die WHO das Leben der Menschen weltweit sichern und verbessern. Es entstand ein Netzwerk verschiedener Einrichtungen zum Wohle der gesamten Menschheit, auch wenn man über die Umsetzung derer Ziele geteilter Meinung sein kann.

Der Weg zu einer friedlichen Koexistenz für alle ist vorgezeichnet. Jede Abkehr davon bedeutet inzwischen eine Inkaufnahme von Krieg und Elend – und damit den Tod unschuldiger Menschen.

Wie konnte es dazu kommen, dass Regierungen sich anmassen, über andere Völker zu bestimmen? Dass sich immer wieder Akteure finden, die jenseits von Recht, Gesetz und Moral für Profit, aus Machtstreben, aus einer Hybris oder aus verbrecherischen Motiven, das Lebensrecht anderer aufs Spiel setzen, – ohne dafür bisher zur Verantwortung gezogen zu werden –, liegt nicht in der menschlichen Natur begründet, sondern schlicht im mangelnden Bewusstsein und im noch fehlenden Willen überstaatlich Konsequenzen zu ziehen.

Mechanismen zur Durchsetzung entwickeln

Die allgemeine Einsicht, dass Mechanismen durchgesetzt werden müssen, die das Recht auf Leben des Einzelnen schützen, fehlt leider noch. Es scheint sogar fast so, dass Rückschritte stattgefunden hätten, und dass das mittelalterliche «Recht des Stärkeren» seit den 1980er Jahren wieder an Einfluss gewonnen hätte. Muss uns erst ein Einsatz von Atomwaffen zur Vernunft bringen?

Obwohl in fast allen Staaten der Erde das Recht auf Leben festgeschrieben ist, scheint es im internationalen Bereich noch Nachholbedarf zu geben. Noch fehlt das allgemeine Bewusstsein und damit die Möglichkeiten, Recht durchzusetzen. Die Nürnberger Prozesse könnten einen groben Orientierungsrahmen bieten. Juristische Grundlagen für ein derartiges Vorgehen gibt es im Rahmen des Völkerrechts genug.

Bewusstsein für Frieden entwickeln

Es muss keine Weltherrschaft sein. Nötig ist ein allgemeines Bewusstsein über das Recht auf Leben und die Endlichkeit der menschlichen Existenz. Pragmatische Blaupausen, um Kriege und damit die massenhafte Tötung Unschuldiger zu verhindern, liegen zahlreich vor. Man denke nur an die Überlegungen von Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky zur kollektiven Sicherheit. Auch Modelle der staatlichen Neutralität oder Blockfreiheit können wichtige Anregungen geben. Wie heisst es doch: «Wege entstehen im Gehen».

Zurück