Was für eine verkehrte Welt!
Verantwortung für den Bildungserfolg von den Erwachsenen auf die Kinder abgeschoben
von Christine Staehelin*
(5. September 2025) Die Erhebungsdaten der in der Nordwestschweiz durchgeführten Check-Tests sowie anderer Leistungstests in der Schweiz sprechen eine klare Sprache. Der Leistungsabfall im Fach Deutsch betrifft insbesondere die Primarstufe, und die Leistungsunterschiede zwischen den Kindern sind gross. Offenbar spielt die soziale Herkunft – wie auch immer sie hier definiert wird – eine grosse Rolle, mehr noch als die Muttersprache, wie bisher vermutet wurde. Daten liefern jedoch keine Ursachen.

(Bild zvg)
Trägt die Schule jedoch dazu bei, dass Herkunftseffekte verstärkt werden, wie die Auswertungen nahelegen, verfehlt sie ihre kompensatorische Aufgabe und trägt zur Verfestigung sozialer Ungleichheiten bei.
Hier beginnt die freie Interpretation. Generell zeigt sich, dass die Gründe dafür einerseits bei den individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler gesucht und andererseits beim Schulsystem vermutet werden. Doch diese beiden Aspekte dürfen nicht getrennt voneinander betrachtet werden. In einer demokratischen Gesellschaft gilt Bildung als zentrales Mittel, um allen Teilhabe zu sichern und ihnen unabhängig von sozialer Herkunft oder Einschränkungen eine aktive Teilnahme am öffentlichen Leben zu ermöglichen.
Trägt die Schule jedoch dazu bei, dass Herkunftseffekte verstärkt werden, wie die Auswertungen nahelegen, verfehlt sie ihre kompensatorische Aufgabe und trägt zur Verfestigung sozialer Ungleichheiten bei. Wenn dieser Trend in den letzten fünf Jahren festgestellt werden kann, stellt sich die Frage, was sich in dieser kurzen Zeit an den Schulen so grundlegend verändert hat, dass sich diese unmittelbaren Auswirkungen zeigen.
Der Lehrplan beschreibt nicht mehr, was vermittelt werden soll, sondern was gekonnt werden muss. Damit einher gehen Unterrichtsformen, die zunehmend auf das sogenannte selbstverantwortliche Lernen setzen. Was für eine verkehrt Welt!
Die stärkste Veränderung an den Bildungsinstitutionen betrifft meiner Meinung nach die Verschiebung der Perspektive vom Lehren auf das Lernen. Das zeigt sich zuallererst im Lehrplan 21. Der Lehrplan beschreibt nicht mehr, was vermittelt werden soll, sondern was gekonnt werden muss. Damit einher gehen Unterrichtsformen, die zunehmend auf das sogenannte selbstverantwortliche Lernen setzen: «Von der Unterrichtsentwicklung zur Lernentwicklung», wie es in den Visionen für die Volksschule der Stadt Basel heisst. Die Lehrerinnen und Lehrer stellen Lernangebote bereit, die die Schülerinnen und Schüler wahrnehmen – oder auch nicht. Damit verschiebt sich die Verantwortung für den Bildungserfolg von den Erwachsenen auf die Kinder. Was für eine verkehrte Welt!
Wenn die Schule ihre Aufgaben als pädagogische Institution wahrnehmen soll, muss sie die Verantwortung für das Lehren übernehmen. Nicht die Kinder wählen Lernangebote aus, sondern die Erwachsenen vermitteln, was wichtig und bedeutsam ist. Sie führen die Kinder in die Welt ein, indem sie die jüngere Generation für die Sache begeistern, die Freude am Verstehen fördern, mit Bestehendem vertraut machen und die Neugier auf Neues wecken. Das geschieht jedoch nicht mittels sogenannter Lernangebote, die zunehmend nur noch digital verfügbar sind; es sind die Lehrerinnen und Lehrer, die dies vermitteln – Lehren ist eine menschliche Praxis.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lehren als Leitmotiv für Schulen als pädagogische Institution wiedergewonnen werden muss und dass Fragen der Pädagogik, Didaktik und Methodik ins Zentrum gestellt werden sollten. Eine Verschiebung der Verantwortung auf die Schülerinnen und Schüler ist nicht zumutbar, verstärkt bestehende Unterschiede und lässt die Kinder und Jugendlichen letztlich allein. Wozu sollen sie noch lernen, wenn wir als Erwachsene ihnen die Begeisterung für das Wichtige, das Schöne und das Gemeinsame unserer geteilten Welt nicht mehr vermitteln?
* Christine Staehelin, geboren 1963, ist Primarlehrerin mit Master in Erziehungswissenschaften und Autorin. Sie ist seit 2021 Mitglied des Erziehungsrats des Kanton Basel-Stadt und Leiterin der Fachgruppe Bildung der Grünliberalen Basel-Stadt. |
Quelle: https://condorcet.ch/2025/08/was-fuer-eine-verkehrte-welt/?print=pdf, 24. August 2025