Wer ist verrückter, der Pazifist oder der Krieger?

Christian Campiche. (Bild
www.infomeduse.ch)

von Christian Campiche,* Lausanne

(18. Oktober 2022) Die offizielle Schweiz besteht darauf – sie wird den amerikanischen F-35 Flieger kaufen. Wozu?

Gleichzeitig wird das Budget der Schweizer Armee um 2 Milliarden Franken erhöht. Wer bietet mehr? Den einzigen Rat, den ich Frau Amherd und allen Angehörigen des Schweizer Generalstabs geben möchte, ist die Lektüre der Lebensgeschichte des Schweizer Friedensapostels Max Daetwyler. Was für ein aussergewöhnlicher Mensch! Und ich bin es nicht gewohnt, mich in Lobeshymnen zu ergehen.

Der gebürtige Zumikoner wird im Online-Lexikon als der «originellste» Zürcher bezeichnet. Und das aus gutem Grund: 1914 war er 28 Jahre alt, als er sich weigerte, in die Armee einzutreten. Er wird als untragbarer Psychopath eingestuft und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Stop! Die «Art brut»,1 das Etikett des Spinners – ist das nicht das Schicksal eines jeden Menschen, der stört?

Eine Karriere als Wehrdienstverweigerer beginnt. Daetwyler protestiert gegen den Bürgerkrieg in Spanien und China. Sein Engagement führte dazu, dass er noch viele Monate hinter Gittern verbrachte, unter anderem 1944, nachdem er versucht hatte, die Einstellung der Feindseligkeiten zu fordern. Niemand ist ein Prophet im eigenen Land.

Flughafen Zürich, 28. Februar 1968. Max Daetwyler besteigt ein Flugzeug nach
Washington, um der amerikanischen Regierung Friedensvorschläge zur
Beendigung des Vietnamkrieges zu unterbreiten. (Bild Keystone/Str)

Doch Daetwyler ist mehr als ein Exaltierter, der allergisch auf Kanonendonner reagiert. Er ist im Herzen ein Pazifist. Im Jahr 1932 traf er im Garten von Romain Rolland am Genfersee Gandhi und liess sich von den Weisheiten des berühmtesten Hungerstreikers der Welt leiten.

Für den Rest seines Lebens – er starb 1976 – verliess er seinen biologischen Gemüsegarten, seine Frau und seine beiden Kinder nur, um mit einer weissen Fahne in der Hand durch Europa zu reisen. 1964 findet man den Mann mit dem langen Bart auf dem Roten Platz in Moskau, wo er seine Fahne der Brüderlichkeit und des Friedens aufstellt.

Natürlich höre ich von hier aus die Spötteleien der Dozenten für strategische Wissenschaften. Die Utopie ist gefährlich, Leute wie Dätwyler sind nur verantwortungslose Spassvögel. Die weisse Fahne hissen, eine defätistische Haltung einnehmen – sind Sie verrückt? Haben Sie gesehen, was in der Welt passiert?

Ich jedoch frage Sie: Wer ist verrückter, der Pazifist oder der Krieger? Derjenige, der bremst und die mörderische Entwicklung anprangert, oder derjenige, der aufs Gaspedal drückt?

* Christian Campiche, 1948, ist ein Schweizer Journalist, Essayist und Romanautor. Er war Journalist bei der Schweizerischen Depeschenagentur (1980–1988), stellvertretender Chefredaktor des Magazins Bilan (1989–1994) und der Tageszeitung L'AGEFI (1994–1996). Er leitete den Wirtschaftsteil des Journal de Genève (1996–1998) und von La Liberté (2000–2007). Er ist Mitarbeiter der Online-Zeitungen Infosperber, journal21 und sept.info. Im Jahr 2003 gründete er die Schweizer Online-Zeitung la méduse, die er bis heute betreibt.

Quelle: https://www.infomeduse.ch/2022/10/02/du-pacifiste-ou-du-guerrier-qui-est-le-plus-fou
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 Die «Art brut» ist ein Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern, Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen Behinderung und gesellschaftlichen Aussenseitern, etwa Insassen von Gefängnissen, aber auch gesellschaftlich Unangepassten. (wikipedia)

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