Wer Kinder von allem verschonen will, tut ihnen keinen Gefallen

von Allan Guggenbühl*

Viele Eltern stellen ihren Nachwuchs ins Zentrum und verlangen nichts von ihm. Doch zum Erwachsenwerden gehören auch Frustration, Herausforderungen – und sie überwinden zu lernen.

Allan Guggenbühl. (Bild
allanguggenbuehl.com

«Am Montagmorgen ausschlafen ist ein Menschenrecht!», erklärt mir der Jugendliche trotzig. Er ist empört, dass sein Lehrmeister von ihm verlangt, dass er nach dem Wochenende um sieben an seinem Arbeitsplatz erscheint. Am Montagmorgen müsse er sich vom Wochenende erholen! Früh aufstehen sei unmöglich!

Aufwachsen ist ein langer, komplizierter und herausfordernder Prozess. Die meisten Kinder verbringen ihre ersten Lebensjahre in einem geschützten Lebensraum. In Kleinfamilien sind sie das Zentrum der Aufmerksamkeit der Eltern. Diese richten ihre Freizeit und den Alltag nach ihren Sprösslingen aus. Ferien werden auf die Kinder ausgerichtet und ihre sozialen Kontakte observiert. Das Wohl und die Vermeidung von Frustrationen sind wichtige Anliegen der Eltern. Später, in der Schule, versucht man bei Problemen auf die Kinder einzugehen und ihnen empathisch zu begegnen. Ultimative Forderungen und demonstrative Abgrenzung gelten als problematisch – es geht darum, zuzuhören und einen Konsens zu finden. Bei Problemen wird nach Ursachen geforscht, es werden allenfalls Zusatzhilfen aufgeboten. Eltern wie Schulen sind bestrebt, den Kindern eine glückliche Kindheit zu ermöglichen und sie adäquat zu fördern.

Kinder und Jugendliche verlangen sich oft mehr ab, als ihre Eltern
vermuten. (Bild keystone)

Professionalisierte Freizeit

Doch Kinder waren nicht immer im Fokus der Erwachsenenwelt; die Bedeutung der Kindheit und die Strategien der Eltern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Vor fünfzig oder hundert Jahren hatten die wenigsten Kinder ein eigenes Schlafzimmer. Sie schliefen im gleichen Raum oder sogar im gleichen Bett wie ihre Geschwister, und bei Tisch mussten sie sich mit einer unmöglichen Schwester oder dem groben Bruder auseinandersetzen.

Heute wachsen viele Kinder mit wenig oder keinen Geschwistern auf und verfügen sogar über ein eigenes Badezimmer. Wollen sie spielen, werden sie nicht in den Keller verbannt, sondern selbstverständlich steht ihnen das Wohnzimmer zu Verfügung. Ihre Freizeit verbringen Kinder nicht mehr auf der Strasse, in Wäldern oder Hinterhöfen; sie wurde professionalisiert. Malkurse, Spielgruppe, Schwimmkurse, Ballett, Resilienzkurse oder Piratenabenteuer stehen auf dem Programm. Die Erwachsenen sind präsent und können bei Streitigkeit eingreifen. Bei einem zu langen Schulweg wird bei der Behörde interveniert und bei Strafen im Unterricht schalten die Eltern die Schulleitung ein (früher gab es zu Hause eine Zusatzstrafe). Der Schutz der Kinder und das Eingehen auf ihre Wünsche haben heute Priorität.

Wir alle wünschen unseren Kindern eine glückliche, entspannte Kindheit. Im Wissen um die Folgen von schlechten Kindserlebnissen schenken wir der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen viel Aufmerksamkeit und wollen, dass die nachfolgende Generation mit wenig Frust und Ärger aufwächst. Je ausgeprägter der Wohlstand einer Gesellschaft und je kleiner die Kinderzahl, desto grösser ihre emotionale Bedeutung und Sorge um sie. Die zentrale Bedeutung der Kinder hat Auswirkungen auf ihr Verhalten.

Es gibt kein Recht auf Wohlbefinden

«Meine Kameradinnen waren uh gemein zu mir! Sie haben mich beim Gummitwist ausgeschlossen», beschwert sich ein Mädchen bei der Mutter. Ein Gespräch mit der Lehrerin ist die Folge und schliesslich ein Kreisgespräch in der Klasse. Die beschuldigten Mädchen versprechen, nicht mehr gemein zu sein und ihre Schulkollegin miteinzubeziehen. Dass dieses Mädchen wegen ihrem mangelnden Kooperationswillen und ihrem schnippischen Verhalten ausgeschlossen wurde, ist kein Thema. Die Eltern und die Pädagogin wollen auf keinen Fall, dass das Mädchen frustriert und möglicherweise traumatisiert wird.

Das Problem der kind- und jugendzentrierten Einstellung ist, dass den Kindern suggeriert wird, sie hätten ein Recht, so akzeptiert zu werden, wie sie seien, und Frustrationen nicht ihr Fehler seien. Sie hätten ein Anrecht auf Wohlbefinden und darauf, dass auf ihre Wünsche eingegangen werde. Ein wichtiger Aspekt des Aufwachsens tritt dadurch in den Hintergrund: die Überwindung eigener Frustrationen, die Notwendigkeit eigener Anstrengungen und die Relativierung eigener Schmerzerlebnisse.

Das Leben ist keine Selbstverwirklichungsarena, sondern mühsame Erlebnisse. Misserfolge, Gemeinheiten, Ungerechtigkeiten, soziale Ablehnung gehören ebenso zum Aufwachsen wie die Entwicklung eigener Interessen, Freundschaften und schöne Erlebnisse. Wichtig ist jedoch: Nicht jeder Mensch und nicht jede Institution empfängt einen mit offenen Armen. Viele sind von einem nicht beeindruckt, vermissen Fähigkeiten, Intelligenz oder empfinden einen sogar als Störfaktor. Man macht nicht nur Freunde, man begegnet auch Feinden. Das Leben ist anstrengend.

Eine harte Haut zu entwickeln, Durchhaltewille und die Fähigkeit, eigene Wünsche und Empfindungen in gewissen Situationen zurückstellen zu können, gehört darum zum Entwicklungsprogramm ins Erwachsenenalter. Hie und da gilt es, seinen Ärger hinunterzuschlucken, eigene Empfindlichkeiten zu ignorieren, Ungerechtigkeiten zu ertragen und cool zu bleiben. Erwachsen zu werden ist hart, weil das besorgte Auge der Mutter und die Interventionen des Vaters fehlen. Man ist auf sich allein gestellt und die Umgebung findet einen oft nicht so grossartig, wie es die Eltern taten oder vielleicht ein Therapeut suggerierte. Der Weg zum Erwachsenensein ist steinig und gepflastert mit Misserfolgen sowie traumatischen Erlebnissen. Man muss lernen, wegzustecken und eigene Gefühle zu verdrängen.

Das Problem ist jedoch, dass die Pädagogik die Themen Abhärtung und das Ertragen von Frustrationen vermeidet; verständlicherweise richtet sie sich lieber auf positive Ziele aus. Die Förderung von Begabungen und Interessen steht im Vordergrund. Harmonie, Selbstverwirklichung und natürlich die Verhinderung von Frustration stehen auf dem Programm. Als Vater oder Mutter wünscht man seinem Kind eine glückliche Kindheit.

Die Folge ist jedoch, dass eine Generation heranwächst, die schlecht mit Misserfolgen und Kränkungen umgehen kann und deshalb unliebsame Anpassungsforderungen als Frechheit empfindet. Sie erwartet, dass die Umgebung sich auf sie abstimmt, und ist empört, wenn eigene Wünsche und Empfindlichkeiten ignoriert werden. Wie wir jedoch alle wissen, ist der Weg ins Erwachsenenleben kein Honigschlecken, sondern auch mit dem Erleben eigener Unzulänglichkeiten, Versagen und Ungerechtigkeiten verbunden. Die Welt wartet nicht auf einen, und für viele Anliegen hat die Umgebung kein Verständnis.

Das Rad der Zeit kann man nicht zurückdrehen. Niemand wünscht sich eine lieblose oder knallharte Erziehung, wie es in britischen Internatsschulen üblich war. Die Erziehung und die Schule sollen menschlich sein. Der Wohlstand und die Kindzentriertheit haben jedoch mit zur Folge, dass die Härte des Lebens nicht mehr in Kinderbanden erfahren wird, in denen Hackordnungen herrschen, und in Familien, in denen das materielle Überleben im Vordergrund steht oder man sich gegenüber mehreren Geschwistern durchsetzen muss. Man spricht mit dem Kind und verhandelt, wenn etwas nicht seinen Wünschen entspricht, und sucht nach einvernehmlichen Lösungen. All dies sind wichtige Fortschritte, die man nicht aufgeben will. Die Gefahr ist jedoch, dass die Auseinandersetzung mit der Härte des Lebens suspendiert wird. Jugendliche erreichen das Erwachsenenalter mit einer Haltung, in der Selbstüberwindung und Härte sich selbst gegenüber nicht Platz hat.

Sich selber überwinden

«Ja, wir haben eine Scheune, in der wir übernachten können, falls es regnet!», versichert der dreizehnjährige Pfadfinderführer der Mutter eines Knaben seiner Gruppe am Telefon. Sie haben ein Lagerwochenende im Zürcher Oberland in einem Wald geplant. Handys haben nur die Pfadiführer. Ich bin beeindruckt von der Organisationsfähigkeit dieses Pfadfinderführers und frage ihn, wie er die Scheune gefunden habe. «Scheune? Ich habe nichts organisiert», antwortet er. «Doch es beruhigt die Mutter, wenn ich es behaupte.»

Tatsächlich kam am Wochenende ein Gewitter auf und die Truppe musste sich unter Blachen im Wald schützen. Die Pfadis kehrten ziemlich durchnässt nach Hause zurück. Zum Erstaunen der Eltern war das Wochenende jedoch für die Pfadfinder ein voller Erfolg. Die acht- bis zehnjährigen Knaben kehrten stolz nach Hause zurück. Keine Spur von Wehleidigkeit.

Vielleicht ist es nicht an den Eltern und der Schule, Kinder Wehleidigkeit abzugewöhnen, sondern sie lernen es unter sich, selbstständig oder in Gruppen. Wenn Kinder unter sich sind, sich in ein Thema vertiefen oder einem Sport widmen, lernen sie auch, von sich etwas abzuverlangen und nicht überempfindlich zu reagieren. Gegenüber Kollegen und Kolleginnen kann man sich nicht eine zu grosse Wehleidigkeit erlauben und ein gemeinsames Ziel spornt an, sich selbst zu überwinden. Die Pfadigruppe wurde durchnässt und halb durchgefroren. Doch anschliessend waren die Knaben stolz auf ihr Erlebnis. Sie hatten das Gefühl, etwas erreicht zu haben, und prahlten später über das Wochenende. Sie wurden in ihrem Selbstvertrauen gestärkt, missliche Situation meistern zu können.

* Allan Guggenbühl ist Psychologe und Psychotherapeut. Er ist Professor emeritus an der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Quelle: https://schweizermonat.ch/wer-kinder-von-allem-verschonen-will-tut-ihnen-keinen-gefallen/, 24. November 2025

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