Zukunftsprojekt Neutralität
Neutralitätsstudien – Ein wachsendes Feld in einer zunehmend multipolaren Welt
von Prof. Dr. Pascal Lottaz,* Japan
(15. November 2024) (CH-S) Während im Mutterland der Neutralitätspolitik, der Schweiz, die Neutralität des Landes durch eine leichtfertige Aussenpolitik verludert, hält am anderen Ende der Welt ein Schweizer, Pascal Lottaz, eine internationale wissenschaftliche Konferenz zu diesem Thema ab. Sie führt uns vor Augen, dass Neutralität keineswegs obsolet ist, sondern ein kostbares Gut, das es zum Wohl Aller weltweit zu erringen und zu erhalten gilt. Im Folgenden geben wir einen Bericht des Konferenzleiters Pascal Lottaz wieder.
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Ich freue mich, wieder zurück zu sein und berichten zu können, dass die Konferenz «Neugestaltung der Neutralität und ihrer Forschung», die wir Ende Oktober hier in Kyoto abgehalten haben, ein voller Erfolg war. Mehr als 60 Forscher beteiligten sich drei Tage lang an 13 Panels – online und offline – zu diesem alten, aber immer noch relevanten Thema.
Einer der interessantesten Aspekte der Konferenz waren die vielen Beiträge von Kollegen aus dem globalen Süden, die deutlich machten, dass Neutralität weder ein europäisches Konzept noch ein «junges» Phänomen ist. Einer meiner Lieblingsvorträge war der meines indischen Kollegen, Professor Sumit Pathak, der zeigte, dass der indische Denker und Stratege Kautilya bereits vor 2400 Jahren in seinem Hauptwerk, dem «Arthashastra», eine äusserst nuancierte und ausgefeilte Typologie von Neutralitätsstrategien ausgearbeitet hatte.
Seine Landsfrau Ashmita Rana, Doktorandin an der Jawaharlal-Nehru-University, hielt ebenfalls einen inspirierenden Vortrag über ihr Forschungsprojekt über Nepals Kampf um Neutralität in den 1970er und 80er Jahren. Und ein Kollege aus Indonesien, Dr. Ristian Supriyanto, diskutierte brillant die Frage, ob Blockfreiheit eine Form der Neutralität ist und wie es selbst innerhalb der ASEAN unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, welches Konzept für lokale Schwergewichte wie Indonesien und Malaysia nützlicher ist.
Ein weiterer Höhepunkt war die Teilnahme von vier (!) Kollegen aus dem winzigen Malta, darunter der Aussenminister des Inselstaates von 1982 bis 1987.
Dr. Alexander Sceberras Trigona berichtete uns aus erster Hand von seinen Bemühungen, Maltas neutrale Aussenpolitik in der Verfassung zu verankern, um sie vor den Launen der einen oder anderen politischen Fraktion zu schützen, die in Zukunft die parlamentarische Mehrheit erlangen könnte – ein sehr kluger Schachzug, wenn man bedenkt, wie leicht es für Finnland und Schweden war, ihre Neutralität aufzugeben. In beiden Ländern war sie nicht in der Verfassung verankert. Minister Trigona berichtete uns auch von den Entkolonialisierungskämpfen der Malteser und wie dies den Wunsch nach «echter» Unabhängigkeit, einschliesslich der vollen Souveränität über alle militärischen Einrichtungen und der Entfernung britischer Stützpunkte, massgeblich beeinflusste.
Minister Trigona war nicht der einzige ehemalige Diplomat, der nach Kyoto reiste. Wir hatten auch ein wunderbares Gespräch über die Erfahrungen der Mongolei als bündnisfreier Staat zwischen Russland und China und über das Bestreben, das Land zu einer atomwaffenfreien Zone zu machen (was bei den P5 nicht leicht zu vermitteln war). Kein Geringerer als der Chefunterhändler, Botschafter Jargalsaikhan Enkhsaikhan, berichtete uns von der heiklen Diplomatie, die erforderlich ist, um Kernwaffenstaaten ein deeskalierendes Prinzip zu verkaufen. Seine Analyse hat er bereits veröffentlicht. Sie können sie hier finden.1
Ein weiterer Höhepunkt war das Panel am Freitagmorgen, bei dem es uns gelang, unterschiedliche und sogar gegensätzliche Analysen über das Weltgeschehen im Zusammenhang mit dem russisch-ukrainischen Krieg und dem zunehmenden Konflikt zwischen den USA und China zusammenzubringen. Trotz der analytischen Unterschiede zeigte die anschliessende Diskussion in der Fragerunde einmal mehr, warum akademische Strenge und Respekt vor gegensätzlichen Ansichten Eckpfeiler des wissenschaftlichen Fortschritts sind. Nur durch die Diskussion gegensätzlicher Standpunkte kommen wir einem richtigen Verständnis nicht nur der Probleme selbst, sondern auch der Mentalität der beobachtenden Parteien näher.
Nicht zuletzt brachte die Konferenz neue Ideen für zukünftige Kooperationen und Projekte im Bereich der Neutralitätsforschung hervor. Eine davon, die von Minister Trigona vorgestellt wurde, ist die Entwicklung eines Neutralitätsindex, um zu messen und zu bewerten, «wie neutral» die 193 UN-Mitgliedstaaten sind und wie sie im Vergleich zueinander abschneiden. Eine der Erkenntnisse, die wir aus diesen drei Tagen gewonnen haben, ist, dass jedes Land der Welt «in gewissem Masse» neutral gegenüber einigen Konflikten ist. Im politischen Sinne ist Neutralität kein binärer Zustand, sondern eine Position auf einem Kontinuum. Daher würde die Entwicklung eines Neutralitätsindex auf der Grundlage von 10 oder 12 Faktoren ein heuristisches Verständnis der relativen Position von Staaten ermöglichen und neue Türen für vergleichende Arbeiten öffnen.
Zusammenfassend war die Konferenz eine erfreuliche akademische Veranstaltung, bei der wir uns eingehend mit allen neutralen Themen befassen konnten. Es wurden neue Ideen geboren und Freundschaften geschlossen.
Vielen Dank an die Universität Kyoto für die Forschungsstipendien, die diese Veranstaltung ermöglicht haben, und an alle Kollegen, die den weiten Weg nach Kyoto auf sich genommen haben! Lassen Sie uns weiter diskutieren.
Es kann und wird noch mehr über diese Konferenz berichtet werden. Bitte bleiben Sie dran für unsere Veröffentlichungen hier auf Substack, auf YouTube2 und in Form eines bearbeiteten Buches irgendwann im nächsten Jahr. Updates werden auch auf NeutralityStudies.com3 veröffentlicht. Vorerst können Sie das gesamte Programm und die Abstracts der Redner auf der Konferenz-Homepage hier einsehen.4 PowerPoint-Folien und Videos werden folgen. (PL)
* Dr. Pascal Lottaz ist ausserordentlicher Professor an der Universität Kyoto, wo er die Neutralität in den internationalen Beziehungen untersucht und das Forschungsnetzwerk neutralitystudies.com leitet. Er ist Schweizer Bürger und Mitglied der internationalen Sektion der Sozialdemokratischen Partei. Seit 10 Jahren lebt er in Japan. Zu seinen neueren Büchern gehören «Sweden, Japan, and the Long Second World War» (Routledge, 2022), «Neutral Beyond the Cold: Neutral States and the Post-Cold War International System» (Lexington Books, 2022), und «Notions of Neutralities» (Lexington Books, 2019). Er schrieb auch Artikel über «Neutrality Studies» für die Oxford Encyclopedia und «The Politics and Diplomacy of Neutrality» für die Oxford Bibliography. Sie können ihm auf YouTube folgen: https://www.youtube.com/@neutralitystudies. |
Quelle: https://pascallottaz.substack.com/p/impressions-from-the-2024-neutrality, 30. Oktober 2024
2 https://www.youtube.com/@neutralitystudies
3 https://neutralitystudies.com/
4 https://pascallottaz.notion.site/2024-Neutrality-Conference-f4f27cb4b9fd471ab4a92b4d0eb3d812