Ein italienischer Standpunkt

Afghanistan: Der amerikanische Plan für eine neue Katastrophe

Aus aktuellem Anlass veröffentlicht der «Schweizer Standpunkt» Analysen aus verschiedenen Regionen der Welt zu den Ereignissen in Afghanistan.

Manlio Dinucci (Bild zvg)

Von Manlio Dinucci*

(23. August 2021) General Scott Miller, Befehlshaber der US-amerikanischen und alliierten Streitkräfte in Afghanistan, kündigte am 25. April den Beginn des Abzugs der ausländischen Truppen an, der gemäss der Entscheidung Präsident Bidens bis zum 11. September abgeschlossen sein sollte. Beenden die USA den seit fast zwanzig Jahren geführten Krieg? Um diese Mitteilung zu verstehen, muss man zunächst die Ergebnisse des Krieges betrachten.

Der Blutzoll an Menschenleben ist kaum zu beziffern: Die «direkten Todesopfer» unter den US-Militärs belaufen sich auf etwa 2500, die Zahl der schwer verletzten Soldaten auf über 20 000. Die getöteten Auftragnehmer (US-Söldner) sollen sich auf etwa 4000 belaufen, zuzüglich einer unbekannten Zahl Verwundeter. Die Verluste beim afghanischen Militär sollen sich auf etwa 60 000 belaufen. Die Zahl der zivilen Todesopfer ist nicht bekannt: Nach Angaben der UNO seien es in nur zehn Jahren etwa 100 000 gewesen. Die «indirekten Todesfälle» durch Armut und Krankheit, aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges, lassen sich nicht ermitteln.

Soldaten der US-Armee patrouillieren am 23. November 2009 bei
Baraki Barak in Afghanistan. «Der Blutzoll an Menschenleben während der
20jährigen Besetzung Afghanistans ist kaum zu beziffern». (Bild keystone,
AP Photo/Dario Lopez-Mills)

Die wirtschaftliche Bilanz ist relativ gut bestimmbar. Für den Krieg – so dokumentierte die New York Times auf der Grundlage von Daten der Brown University – gaben die USA über 2000 Milliarden Dollar aus, plus über 500 Milliarden für die medizinische Versorgung der Veteranen. Die Kriegsoperationen kosteten 1500 Milliarden Dollar, aber der genaue Betrag bleibt «undurchsichtig». Die Ausbildung und Bewaffnung der afghanischen Regierungstruppen (über 300 000 Mann) kosteten 87 Milliarden. 54 Milliarden Dollar wurden für «Wirtschaftshilfe und Wiederaufbau» ausgegeben, die grösstenteils aufgrund von Korruption und Ineffizienz verschwendet wurden, um «Krankenhäuser zu bauen, die nie Patienten behandelten, und Schulen, die keinen einzigen Schüler ausbildeten und manchmal nicht einmal existierten». 10 Milliarden Dollar wurden für die Drogenbekämpfung ausgegeben, mit folgendem Ergebnis: Die Opiumanbaufläche hat sich vervierfacht, so dass der Opiumanbau zum wichtigsten Wirtschaftszweig in Afghanistan wurde und heute 80 % des weltweit illegal produzierten Opiums liefert.

Die USA haben sich mit Finanzierung des Krieges in Afghanistan hoch verschuldet: Bisher mussten sie 500 Milliarden Dollar zahlen, wiederum mit öffentlichen Geldern, und diese Summe wird bis 2023 auf über 600 Milliarden Dollar ansteigen. Darüber hinaus wurden bisher 350 Milliarden Dollar für die US-Militärs ausgegeben, die in den Kriegen in Afghanistan und im Irak schwere Verletzungen und Behinderungen erlitten haben, und dieser Betrag wird in den nächsten Jahrzehnten auf 1000 Milliarden Dollar ansteigen, wobei mehr als die Hälfte dieser Ausgaben auf die Folgen des Krieges in Afghanistan zurückzuführen ist.

Die politisch-militärische Bilanz des Krieges, der Ströme von Blut vergossen und enorme Ressourcen verbraucht hat, ist für die USA katastrophal – ausser für den militärisch-industriellen Komplex, der damit enorme Gewinne generierte. «Die Taliban, die stärker geworden sind, kontrollieren einen grossen Teil des Landes oder kämpfen darum», schrieb die New York Times. An diesem Punkt schlagen Aussenminister Blinken und andere vor, dass die USA die Taliban offiziell anerkennen und finanzieren sollten, da sie so «weniger hart regieren könnten als befürchtet, nachdem sie teilweise oder ganz die Macht übernommen haben – um die Anerkennung und finanzielle Unterstützung der Weltmächte zu gewinnen».

Gleichzeitig, so berichtet die New York Times, «verfeinern das Pentagon, amerikanische Spionagebehörden und westliche Verbündete ihre Pläne für den Einsatz einer weniger sichtbaren, aber dennoch schlagkräftigen Truppe in der Region, einschliesslich Drohnen, Langstreckenbombern und Spionagenetzwerken.» Laut Bidens Anweisung ziehen die USA ihre 2500 Soldaten ab, berichtete die New York Times, «aber das Pentagon hat dort tatsächlich etwa 1000 Truppen mehr vor Ort, als es öffentlich zugegeben hat. Diese gehören zu Spezialkräften sowohl des Pentagon als auch der CIA», zusätzlich zu den über 16 000 US-Auftragnehmern, die zur Ausbildung der afghanischen Regierungskräfte eingesetzt werden könnten.

Das offizielle Ziel des neuen strategischen Plans ist es, «zu verhindern, dass Afghanistan wieder zu einer terroristischen Basis wird, die die USA bedroht». Das wirkliche Ziel ist dasselbe wie vor zwanzig Jahren: eine starke militärische Präsenz in diesem Gebiet an der Schnittstelle zwischen dem Nahen Osten, Zentral-, Süd- und Ostasien. Es handelt sich um ein Gebiet von primärer strategischer Bedeutung – insbesondere gegenüber Russland und China.

* Manlio Dinucci ist Italiener und Geograph, Geopolitologe, Journalist und Bücherautor. Seine letzten Bücher sind: Laboratorio di geografia, Zanichelli 2014; Diario di viaggio (drei Bände), Zanichelli 2017; L’arte della guerra / Annali della strategia Usa/Nato 1990–2016, Zambon 2016; Guerra nucleare. Il giorno prima. Da Hiroshima a oggi: chi e come ci porta alla catastrofe, Zambon 2017; Diario di guerra. Escalation verso la catastrofe (2016–2018), Asterios Editores 2018.

Quelle: https://ilmanifesto.it/afghanistan-il-piano-usa-di-una-nuova-catastrofe/, 27. April 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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