Afghanistan – ein zweites Vietnam?

Bekanntlich kommt die Lüge mit dem Lift, während die Wahrheit die Treppen hochsteigt.

von Robert Seidel

(8. September 2021) Die Bilder des übereilten Abzugs der US-Army aus Kabul rufen Erinnerungen an den Abzug vor 46 Jahren aus der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon wach. Mit einem Vergleich der beiden US-amerikanischen Kriege, Vietnam und Afghanistan, wird der Versuch unternommen, mögliche Konsequenzen für eine friedlichere internationale Politik zu ziehen.

Wenn man den US-amerikanischen Kriegseinsatz in Vietnam (1964–1975) und den militärischen Einsatz unter US-Kommando in Afghanistan (2001–2021) vergleicht, findet man verschiedene Parallelen. Vielleicht gelingt es über dieses Vorgehen, einen nüchternen Blick auf die hinter beiden Kriegen stehenden Abläufe zu gewinnen. Es waren und sind auch bei Weitem nicht die einzigen Kriege, in denen der Zivilbevölkerung über Jahre bzw. Jahrzehnte grosses Leid und Unrecht angetan wurde. Allein die Kriege und kriegsähnlichen Zustände in Irak, Jemen, Sudan oder auch Syrien mahnen an den ursprünglichen Impuls der UNO-Gründung nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges, nämlich Frieden unter den Nationen zu suchen.

Leiden der Zivilbevölkerung

Sowohl im Vietnam-Krieg als auch im Afghanistan-Krieg musste in erster Linie die Zivilbevölkerung den grössten Tribut an Leid zahlen. Zu den Toten kommen die Verletzten, die Traumatisierten, die Kinder, die nur Krieg als Alltag kennengelernt haben, die gesellschaftliche Verrohung, der wirtschaftliche Verfall, die Armut, die Drogenprobleme oder die ökologischen Schäden hinzu.

Völkerrechtswidrige Kriege

In beiden Kriegen spielte die US-Administration eine unrühmliche Rolle. Es waren, wie sich im Nachhinein zeigte, völkerrechtswidrige Angriffe. Die Gründe waren in beiden Fällen vorgeschoben, um medial gesteuert eine aggressive Kriegsbereitschaft im eigenen Land zu erzeugen. In Vietnam wurde der Tonkin-Zwischenfall herangezogen, um den Krieg zu beginnen. Dieser Zwischenfall erwies sich später als US-amerikanische «False-Flag»-Operation.1

Dass nach dem Anschlag am 11.9.2001 auf das World Trade Center ausgerechnet Afghanistan als Konsequenz systematisch bombardiert werden sollte, hatte weder eine logische noch eine rechtliche ausreichende Begründung. Stammte doch der angebliche Hauptdrahtzieher aus Saudi-Arabien und war ausserdem jahrelang durch den US-Geheimdienst ausgebildet und finanziert worden. Wie heute bekannt ist, war der Krieg gegen Afghanistan schon vor dem Anschlag geplant.2

Abhängigkeit westlicher Staaten

Dass die grosse Mehrheit der westlichen Regierungen beide Kriege unterstützte, lässt deren politische Abhängigkeiten deutlich werden. Während der Krieg gegen Vietnam ideologisch mit der Bedrohung durch den Kommunismus gerechtfertigt wurde, fand der Schulterschluss im Afghanistan-Krieg über den gemeinsamen «Global War on Terrorism»3 statt.

Kriegskosten abgewälzt

Beide Kriege verursachten immense Kosten. Die Auflösung der Goldbindung des US-Dollars im August 1971 wird heute allgemein als Folge der gigantischen Staatsverschuldung der USA durch den Vietnam-Krieg angesehen. Mit einem Handstreich verteilten die USA ihre Schulden über den gesamten Erdkreis. Ähnlich verhält es sich heute mit dem Afghanistan-Krieg (und den vielen parallel geführten US-Kriegen). Die gigantische Staatsverschuldung wird über die FED finanziert, die ungehemmt Dollar produziert. Eine weltweite Inflation wird auch diesmal die Schulden über den gesamten Erdkreis verteilen.4

«Agent Orange» und Tora Bora

Ein Synonym für den Vietnam-Krieg war der Einsatz des Entlaubungsmittels Agent Orange5 und der Brandwaffe Napalm.6 Zwei Waffen, unter denen die Bevölkerung Vietnams noch heute, nach 50 Jahren leidet. Auch in Afghanistan kamen verbotene Kriegsmittel zum Einsatz. Da der Waffeneinsatz meistens geheim bleibt, wird man Genaueres erst nach Jahren erfahren. Bei der Bombardierung von Tora Bora wurden offenbar Uranwaffen eingesetzt (Daud Miraki).7 – Von medizinischer Hilfe oder wissenschaftlichen Untersuchungen zur Behebung der Folgen ist wenig bekannt. – In beiden Kriegen wurde vom «Westen» gefoltert, illegal inhaftiert, deportiert und massakriert – dies entgegen des selbst gesetzten Anspruchs sich am Völker- und Menschenrecht zu orientieren.

My Lai als moralische Wende

Doch nun werden Unterschiede deutlich. Die im Vietnam-Krieg zum Teil noch unabhängige Berichterstattung – auch renommierter Medienhäuser – führte zu starken Protesten in der amerikanischen Zivilbevölkerung. Die Fragwürdigkeit des Krieges wurde diskutiert, die US-Administration verlor den Rückhalt in der Bevölkerung auch aufgrund von realistischen Bildern und Berichten: die Bilder von Särgen junger amerikanischer Soldaten, das Massaker von My Lai,8 die Veröffentlichung der «Pentagon Papers»,9 das Foto eines schreienden Mädchens nach einem Napalmbomben-Angriff.10 Dies grub sich in das Gedächtnis der öffentlichen Meinung ein. Der Glaube an eine politisch integre Führung war gebrochen.

«Embedded journalism»

Die Konsequenz war der «embedded journalism». Keine unzensierten Bilder drangen mehr aus Afghanistan. Journalisten war eine Berichterstattung nur an der Seite und unter Kontrolle der Armee erlaubt. Die strenge Kontrolle verhinderte kritische Berichte. Unhinterfragt übernahmen die Medienhäuser regierungsamtliche Berichte oder Armeenachrichten. Das führte zu einer völlig unrealistischen Berichterstattung, die keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Geschehnisse mehr zuliess. – Hätte doch die Aufgabe darin bestanden, mögliche Missstände, Fragwürdigkeiten oder Kriegsverbrechen aufzudecken.

Julian Assange und Edward Snowden

Aber zeitgleich entstanden Internetforen, die es wagten US-geheimdienstliche Berichte und Bilder zu veröffentlichen. Nun drang die Wirklichkeit des Krieges an die Öffentlichkeit. Wikileaks war eine der wichtigen Plattformen. (Das ist der Grund, warum Julian Assange und der Whistleblower Edward Snowden von der US-Administration bis heute international gnadenlos verfolgt werden).

Einbindung des Westens

Während die USA in Vietnam und später in Kambodscha und Laos alleine versuchten den «Kommunismus» einzudämmen (Containment-Politik),11 gelang es ihnen im Afghanistan-Krieg mit der Ausrufung des NATO-Bündnisfalles Kosten, Soldaten, Material und Knowhow ihrer Verbündeten für «ihren» Krieg zu nutzen. Interessanterweise liessen sich viele linke Regierungen Europas darauf ein (z.B. SPD Gerhard Schröder, Labour Party Tony Blair). Ausserdem wurden die PfP-Mitglieder [«Partnerschaft für den Frieden»] der Nato ebenfalls zur Mitarbeit aufgefordert. So entsandte die Schweiz zeitweilig auch Militär nach Afghanistan.12 Anders als in Vietnam setzten die USA häufiger Ausländer oder Söldnern von Privatunternehmen ein. Nicht mehr US-Soldaten sollten offiziell sterben, sondern Soldaten fremder Nationalität, die in den Statistiken nicht auftauchen sollten.

Politik der verbrannten Erde

Mit dem Abzug der amerikanischen Armee aus Saigon war der Vietnam-Krieg 1975 für die USA beendet. Ihre Spuren hinterliessen sie mit dem Opiumanbaugebiet im sogenannten «Goldenen Dreieck», das in den 1970er Jahren als Heroin seinen ersten verheerenden Siegeszug durch die westlichen Staaten antrat. Doch Südostasien konnte sich stabilisieren und erholen.

In Afghanistan verfolgen die USA offenbar die «neuere» Strategie der längerfristigen Destabilisierung so wie in Irak, Libyen, Somalia, Jemen oder Syrien:13 verfeindete Kriegsfraktionen werden bewaffnet und gegeneinander ausgespielt, staatliche Strukturen werden geschwächt, geheime militärische Operationen werden nach Belieben durchgeführt. Eine Politik der verbrannten Erde – ohne Rücksicht auf die Bevölkerung: Ein krasser Verstoss gegen das Völkerrecht, das ein offizielles und faktisches Kriegsende fordert, um die Zivilbevölkerung zu schützen.

Vorgeschobene «Hilfe»

Neu war in Afghanistan das sogenannte «zivilgesellschaftliche Engagement» der Nato-Kriegsallianz: Engagement für Frauenrechte, Genderlehrstühle an der Universität, der Bau von Schulen und Spitälern usw. Sie sollten einen Aufbau nach westlichen Werten vorantreiben und den militärischen Einsatz moralisch rechtfertigen. Eine aberwitzige und teure PR-Kampagne, die sich jetzt als unwirksam erwies. Viele seriöse NGOs liessen sich missbrauchen.

Kriege verunmöglichen

Elf Jahre Vietnam-Krieg, 20 Jahre Afghanistan-Krieg: unsägliches menschliches Leid, offizielle Lügen, bewusste Missachtung des internationalen Völkerrechts und der Menschenrechte, Kosten und Schäden in Billionenhöhe. Eine Analyse der Ursachen, der politischen Abläufe, der Kriegsgewinnler,14 der Korruption, des Versagens nationaler und internationaler Organisationen wäre sinnvoll, um politische Abläufe dieser Art in Zukunft verhindern zu können. «War is obsolete», erst recht im Zeitalter atomarer Bewaffnung. Die Bewohner der Erde haben andere Probleme und benötigen die finanziellen Ressourcen, um globale Probleme wie Hunger, Armut und Krankheiten zu bekämpfen.

1 Der Tonkin-Zwischenfall mit dem Zerstörer USS-Maddox wurde als Kriegsgrund inszeniert, um einen Angriff auf Nordvietnam zu rechtfertigen. Anschliessend begann das gigantische Bombardement Nordvietnams.   vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tonkin-Zwischenfall.

2 Vgl. Helmut Scheben: «Die Illusion von der einzigen Weltmacht USA ist geplatzt.» Infosperber vom 18.8.2021. Scheben beschreibt den Überfall auf Afghanistan im September 2001 als Folge geplatzter Pipeline-Geschäfte der US-Administration mit dem damaligen Taliban-Regime.
https://www.infosperber.ch/politik/welt/die-illusion-von-der-einzigen-weltmacht-usa-ist-geplatzt/

3 Global War on Terrorism (GWOT) war ein von der damaligen US-Regierung unter George W. Bush verbreitetes Schlagwort, worunter der politische, militärische und juristische Kampf gegen ausgesuchte Personen und Staaten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zusammengefasst wurde.

4 Vietnam: Viele Nationalbanken hielten damals US-Dollars in ihren Depots mit der Absprache, dass der Dollar an den Goldpreis gebunden sei. Da die Verschuldung der US-Regierung durch den Vietnam-Krieg unbezahlbar wurde, lösten die USA die Bindung an den Goldpreis. D.h. sie vergaben kein Gold mehr zu dem zuvor vereinbarten Dollarpreis. Afghanistan: Die US-Kriege in den 2000er Jahren und der überproportional aufgeblähte «Verteidigungshaushalt» werden über eine riesige Staatsverschuldung finanziert. Dies ermöglicht die FED, indem sie US-Staatsanleihen in unbegrenzter Höhe aufkauft. Eine Rückzahlung ist nicht mehr möglich, eine Inflation wird unausweichlich.

5 Agent Orange wurde als Entlaubungsmittel eingesetzt, um die Gegner im Urwald besser zu erkennen. Es ist der giftigste Vertreter der Dioxine. Es führt zur Vergiftung der Nahrungsmittelkette und zu massiven Missbildungen Neugeborener. Auch heute noch werden auf Grund des Giftes missgebildete Kinder geboren. Entschädigungsklagen von Vietnamesen und US-Veteranen wurden von den US-Gerichten abgewiesen.

6 Napalm ist eine Brandwaffe mit dem Hauptbestandteil Benzin, das geliert wird. So wird erreicht, dass Napalm als zähflüssige, klebrige Masse am Ziel haftet und eine starke Brandwirkung entwickelt.

7 In verschiedenen Medien erschienen schwer überprüfbare Meldungen über den Einsatz geheimer Waffen. So zum Beispiel: Rüdiger Göbel. «Uranwaffeneinsatz am Hindukusch: Ganz Afghanistan nuklear verseucht? jW sprach mit Mohammed Daud Miraki, Direktor des ‹Afghan DU and Recovery Fund› (www.afghandufund.org)». In: junge welt vom 24.10.2003

8 Massaker an 504 Dorfbewohnern durch die US-Army im März 1968. Vgl. dazu: Bernd Greiner. Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburger Edition. 2007. ISBN 978 3 9360 96 80 4

9 Durch die Veröffentlichung der Pentagon Papers wurde bekannt, dass die US-Administration die US-Bevölkerung in Bezug auf den Vietnam-Krieg systematisch und andauernd belogen hatte.

10 Das Foto eines vor Angst, Schmerz und Schrecken schreienden Mädchens nach einem Napalmbomben-Angriff 1972 auf ein vietnamesisches Dorf rief weltweit Empörung gegen den Kriegseinsatz der USA hervor. Vgl. https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article231649425/Kim-Phuc-Das-Napalm-Maedchen-aus-Vietnam.html

11 Containment-Politik: Strategie der USA seit 1947, um die Ausbreitung des Kommunismus durch die UdSSR weltweit zu «einzudämmen».

12 Die sogenannte Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace PfP) ist eine 1994 ins Leben gerufene Organisation zur militärischen Anbindung an die Nato von nicht-Nato-Mitgliedern aus Europa und Asien. Die Schweiz ist seit dem 11. Dezember 1996 Mitglied der PfP. Von Februar 2004 bis März 2008 nahm die Schweiz am ISAF-Einsatz der Nato in Afghanistan teil. Da der Einsatz zusehends bewaffnet wurde, entschied der Bundesrat wegen der Neutralität des Landes die Beendigung der Teilnahme.

13 Vgl. Thierry Meyssan: Zielt die Niederlage in Afghanistan darauf ab, Russland und China zu behindern? https://www.voltairenet.org/article213829.html, 25. August 2021

14 Wer vom Kriegsgeschäft profitieren will, macht oft genug seinen Einfluss auf Entscheidungen in der Politik geltend.

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