Afghanistan: eine vermeidbare humanitäre Katastrophe

Dominik Stillhart. (Bild © icrc)

Erklärung von Dominik Stillhart, Einsatzleiter des «Internationalen Komitees vom Roten Kreuz» (IKRK), zum Abschluss eines sechstägigen Besuchs in Afghanistan.

(7. Dezember 2021) Ich bin ausser mir. Wenn man vom Ausland aus die Fotos von skelettartigen afghanischen Kindern sieht, kann man nur ein sehr verständliches Gefühl des Entsetzens empfinden. Wenn Sie jedoch in der Kinderstation des grössten Krankenhauses in Kandahar stehen und in die leeren Augen hungernder Kinder blicken, die von ihren verzweifelten Eltern umgeben sind, überwiegt die Wut.

Warum Wut? Weil dieses Leid kein unabwendbares Schicksal ist. Die Wirtschaftssanktionen, mit denen man die Machthaber in Kabul bestrafen will, rauben Millionen von Afghanen die grundlegendsten Güter und Dienstleistungen, die sie zum Überleben brauchen. Die internationale Gemeinschaft wendet dem Land den Rücken zu, während es auf eine vom Menschen verursachte Katastrophe zusteuert.

Sanktionen behindern die bilaterale Hilfe

Die Finanzsanktionen haben die Wirtschaft ruiniert und behindern auch die bilaterale Hilfe. Städtische Angestellte, Gesundheitspersonal und Lehrer werden seit fünf Monaten nicht mehr entlöhnt. Einige müssen zwei Stunden zu Fuss zur Arbeit gehen, da die öffentlichen Verkehrsmittel unbezahlbar geworden sind. Sie können sich kaum mehr etwas zu essen kaufen: Ihre Kinder hungern, magern ab bis sie schliesslich sterben.

Im vom IKRK unterstützten Mirwais-Regionalkrankenhaus in Kandahar hat sich die Zahl an Unterernährung, Lungenentzündung und Dehydrierung leidender Kinder von Mitte August bis Ende September mehr als verdoppelt. Die schwere und mittelschwere allgemeine akute Unterernährung ist in der Umgebung von Kandahar im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 um 31% angestiegen. Je nach Region kann der Schweregrad der Unterernährung bei Kindern bis zum Dreifachen der Notstandsschwelle ansteigen. Das Land befindet sich in einer massiven Ernährungskrise, die durch den Wintereinbruch noch verschärft wird.

Verstärkte Unterstützung für Krankenhäuser

Ein Lichtblick in diesem düsteren Bild ist, dass das IKRK am Montag damit begonnen hat, 18 Regional- und Provinzkrankenhäuser und deren 5100 Angestellte zu unterstützen, um den Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitssystems in Afghanistan zu verhindern. Die auf sechs Monate angelegte Unterstützung umfasst die Finanzierung von medizinischem Material und der Betriebskosten, damit die Spitäler weiterhin monatlich fast eine halbe Million Arztbesuche durchführen können.

Dies reicht jedoch bei weitem nicht aus. Dürre, Missernten und der wirtschaftliche Zusammenbruch sind Faktoren, die die Unterernährung verschlimmern. Steigende Lebensmittelpreise machen Grundnahrungsmittel, insbesondere Proteine, unerschwinglich. Darüber hinaus wird der harte afghanische Winter mit seinen Minustemperaturen für alle Menschen, die sich keine Heizung leisten können, eine grosse Belastung darstellen.

Was muss getan werden? Zunächst einmal müssen die Staaten den Dialog mit Afghanistan wieder aufnehmen – nur so kann verhindert werden, dass grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheitsfürsorge und Schulbildung vollständig zusammenbrechen. Politische Erwägungen dürfen humanitären Massnahmen nicht im Wege stehen. Es muss eine politische Lösung gefunden werden, um irreversible humanitäre Folgen zu vermeiden.

Gewährleistung eines reibungslosen Ablaufs der humanitären Einsätze

Ich möchte nun einen technischen, aber sehr zentralen Punkt ansprechen. Die internationale Afghanistan-Hilfe ist derzeit in Gefahr, da die Geldgeber nicht wissen wie sie ihre Zahlungen auslösen könnten, ohne ihre rechtlichen Verpflichtungen aufgrund der UN-Resolutionen des Sicherheitsrats zu verletzen.

Einfacher ausgedrückt: Einige Geber sind der Ansicht, dass sie diese Resolutionen sowie ihre eigenen Gesetze nur dann einhalten können – ohne der afghanischen Bevölkerung lebenswichtige Unterstützung vorzuenthalten –, wenn sie diese Hilfe über Organisationen wie das IKRK und andere bereitstellen. Lieferanten und Bankdienstleistungen stossen auf ähnliche Hindernisse. Daher fordert das IKRK, dass für unparteiische Organisationen, die rein humanitäre Aktivitäten durchführen, im nationalen Recht des Ursprungslandes klare Ausnahmen festgelegt werden. Es liegt in der Tat im Interesse aller, dass die humanitären Operationen in Afghanistan reibungslos funktionieren.

Angesichts des bevorstehenden Winters, der sich bereits als tragisch erweist, plant das IKRK, seinen Einsatz zur Linderung der dringlichsten humanitären Bedürfnisse zu intensivieren, doch Hilfe ist nur ein Teil der Lösung. Der aktuelle und zukünftige Bedarf übersteigt die Kapazitäten der humanitären Organisationen bei weitem.

Laut dem jüngsten Bericht des Index der Konsumentenpreise (IPC) werden zwischen November 2021 und März 2022 mehr als 22 Millionen Afghanen Hunger leiden. Um sich ein Bild von der herrschenden Trostlosigkeit zu machen, muss man nur ab 5 Uhr morgens die endlosen Menschenschlangen vor den Banken sehen, die alle hoffen, etwas Geld abheben zu können.

Der leere Blick hungernder Kinder ist nichts, das man einfach aus seinem Gedächtnis verbannen kann. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Ich rufe die internationale Gemeinschaft auf, schnell Lösungen zu finden, um Millionen von Afghanen vor Elend und Verzweiflung zu bewahren. Es liegt in unser aller Interesse, Afghanistan vor einem erneuten Abgleiten in Konflikte und Gewalt zu bewahren. Den Afghanen muss geholfen werden, in Würde und selbstbestimmt in ihrem eigenen Land leben zu können.

Quelle: https://www.icrc.org/fr/document/afghanistan-une-catastrophe-humanitaire-pourtant-evitable, 22. November 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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