AMLO versucht Mexiko und Lateinamerika aus dem imperialen Griff der USA zu befreien

Medea Benjamin (Bild Wikipedia)

von Medea Benjamin*

(18. August 20229 Präsident Andrés Manuel López Obrador ist bei den Mexikanern im In- und Ausland sehr beliebt. Das liegt nicht nur an seiner Innenpolitik: AMLO spielt auch eine Schlüsselrolle bei der Herausforderung der US-Dominanz in Lateinamerika.

Als der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (bekannt unter seinen Initialen AMLO) am 12.  Juli nach Washington D.C. reiste, war seine aufregendste Begegnung für die Mexikaner in den Vereinigten Staaten und in Mexiko nicht sein Treffen mit Präsident Joe Biden, sondern seine spontane Begegnung mit Gratulanten vor seinem Hotelzimmer im Lombardy. Einige von ihnen waren von Orten wie Chicago und New York City angereist, nur um einen Blick auf ihren Präsidenten zu werfen.

Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador hält eine
kurze Rede, während er mit US-Präsident Joe Biden im Oval Office am
12. Juli 2022 in Washington, mit Journalisten spricht. (Keystone/EPA/
CHRIS KLEPONIS/SIPA USA/POOL)

Das Video dieser Begegnung, die für den Geheimdienst, der ihn zu beschützen hatte, ein Albtraum gewesen sein muss, ging im Internet viral. Es zeigt, wie der Präsident den Kopf aus dem Fenster streckt, Küsse verteilt, einen ihm zugeworfenen Blumenstrauss auffängt und von Mariachis [typisch mexikanische Musikformation] ein Ständchen mit dem Lied «Amigo» («Du bist mein Seelenbruder, ein Freund, der in jeder Hinsicht und an jedem Tag immer bei mir ist») gesungen wird.

AMLO überhäufte sie mit Lob und dankte ihnen für ihr Opfer, in die Vereinigten Staaten zu kommen und hart zu arbeiten, um ihren Familien in Mexiko Geld schicken zu können. «Ihr seid Helden und Heldinnen», sagte er mit einem breiten Grinsen. «Unsere Wirtschaft wächst dank dem, was ihr euren Verwandten schickt. Ihr seid aussergewöhnliche Migranten. Ich liebe euch sehr.» Er erzählte ihnen von seinen Plänen, sich mit Präsident Biden zu treffen und sich für Einwanderungsreformen einzusetzen, damit sie legal ein- und ausreisen können. Die bewundernde Menge unter ihm rief zurück: «Wir lieben Sie, Präsident, wir sind bei Ihnen.»

Laut einer Anfang Juli veröffentlichten Umfrage1 repräsentieren die Dutzenden, die sich unter dem Hotelfenster versammelt hatten, Millionen von Mexikanern. Sie ergab, dass AMLO mit 66 Prozent eine der höchsten Zustimmungsraten aller Staatsoberhäupter der Welt hat. Und das trotz der unzähligen Probleme, die das Land weiterhin plagen: Inflation, Korruption, Gewalt.

AMLO hat viele Kritiker. Kritiker von der Rechten verurteilen seine populistische Wirtschaftspolitik, wie etwa die Verstaatlichung von Lithium. Sie sagen, er habe die Macht zentralisiert und dulde keinen Dissens. Auf der Linken sagen die Kritiker, er mache sich zum Komplizen der repressiven US-Einwanderungspolitik, habe seine Versprechen, die Rechte der indigenen Bevölkerung zu verteidigen, nicht eingehalten und nicht genug getan, um die schreckliche Welle der Femizide und der Angriffe auf Journalisten zu stoppen.

Doch seine Anhänger sehen ihn als Mann des Volkes, der am 1. Dezember 2018 mit einem überwältigenden Mandat an die Macht kam, um mit den korrupten Parteien zu brechen, die Mexiko fast ein Jahrhundert lang regiert hatten. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, sein eigenes Gehalt um die Hälfte zu kürzen und die Gehälter der meisten anderen Spitzenbeamten zu beschneiden. Er bot das extravagante Präsidentenflugzeug zum Verkauf an und zog es vor, auf kommerziellen Flügen in der Economy Class zu reisen. Er öffnete die ehemalige Präsidentenresidenz für die Öffentlichkeit, so dass Millionen von Mexikanern und Touristen das palastartige Haus und die Gärten geniessen konnten.

Ein weiterer Grund für die Beliebtheit des Präsidenten ist der ausserordentliche Aufwand, den er für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit betreibt – vielleicht mehr als jeder andere Staatschef der Welt.

Seit seinem Amtsantritt hält er von Montag bis Freitag Marathon-Pressekonferenzen ab, die um 7 Uhr morgens beginnen und zwei bis drei Stunden dauern. Die «La Mañanera» genannten Konferenzen werden live im öffentlichen Fernsehen übertragen und auf einem eigenen YouTube-Kanal sowie direkt auf der offiziellen Website des Präsidenten gestreamt.2 Das Büro des Präsidenten schätzt, dass erstaunliche zehn Millionen Menschen das Programm verfolgen.

Anders als bei Presseveranstaltungen mit Drehbuch in den Vereinigten Staaten handelt es sich um freie Diskussionen, bei denen der Präsident in einem volkstümlichen Stil über alles Mögliche spricht, von COVID-19 über Infrastrukturprojekte und die Migrantenkrise bis hin zu den besten Lebensmitteln Mexikos und den günstigsten Orten, an denen man Benzin kaufen kann. Er spricht in einem langsamen, Konversationston, der den politischen Jargon in verdauliche Begriffe zerlegt, und stellt sich den Fragen der Presse ohne Drehbuch.

AMLO besteht darauf, dass die zweihundertjährige Vorherrschaft der USA in Lateinamerika erschöpft ist und ein Ende haben muss.

AMLO, der behauptet, dass die Mainstream-Medien die Öffentlichkeit oft falsch informieren oder wichtige Themen ignorieren, nutzt diese Pressekonferenzen ironischerweise, um die Medien zu umgehen und seine Botschaft direkt an die Menschen zu bringen. Sein offener Stil stellt einen grundlegenden Bruch mit der Vergangenheit dar, in der Präsidenten jahrelang keine einzige ungeprüfte Frage eines Reporters beantworteten.

Aber AMLO ist mehr als nur ein beliebter mexikanischer Präsident; er ist zu einer führenden progressiven Persönlichkeit in Nord- und Südamerika geworden. Er hat Unterstützung und Dankbarkeit für mutige Aktionen erhalten, die er in Solidarität mit bedrängten linken Führern und Nationen ergriffen hat. Nachdem die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) 2019 einen Putsch gegen Evo Morales ausgelöst hatte, schickte AMLO ein Flugzeug, um Morales aus dem Land zu bringen und ihm Asyl in Mexiko anzubieten. Morales schreibt AMLO die Rettung seines Lebens zu.

Er hat auch dem inhaftierten Whistleblower Julian Assange Asyl angeboten3 und kürzlich vorgeschlagen, dass die New-Yorker Freiheitsstatue abgebaut und an Frankreich zurückgegeben werden sollte, falls Assange ausgeliefert und in den USA inhaftiert wird.

Als enger Freund Kubas schickte AMLO während des Höhepunkts der Pandemie dringend benötigte Lieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff auf die Insel und kündigte im Mai 2022 an, dass Mexiko mehr als fünfhundert kubanische Ärzte einstellen werde, um den Mangel an medizinischen Fachkräften im ländlichen Mexiko auszugleichen.

Er wetterte gegen die US-Sanktionen gegen Kuba und bezeichnete sie als «verwerflich» und als einen Hauptgrund für die Auswanderung der Kubaner. Er sagte, das kubanische Volk verdiene eine «Auszeichnung für seine Würde», weil es der Einmischung der USA über sechzig Jahre lang widerstanden habe, und das gesamte Land sollte zum Weltkulturerbe erklärt werden.

Mexiko war Gastgeber4 des Dialogs zwischen der venezolanischen Regierung und der Opposition des Landes und widersetzte sich dem Druck der USA, den Oppositionsführer Juan Guaidó als «Übergangspräsidenten» anzuerkennen.

AMLOs Anhänger in der Hemisphäre schätzen auch seine wiederholte Aufforderung an den spanischen König und die katholische Kirche, sich für die Eroberung Lateinamerikas zu entschuldigen.

Aber AMLOs Position als regionaler Führer wurde durch seine Weigerung, am Amerika-Gipfel5 von Präsident Biden im Juni 2022 in Los Angeles teilzunehmen, wirklich gestärkt, da Kuba, Nicaragua und Venezuela ausgeschlossen waren. Dies hatte einen Schneeballeffekt, der andere Staatsoberhäupter veranlasste, das Treffen fallenzulassen; Bidens Gipfel wurde so zu einem Flop.

Der Amerika-Gipfel ist eng mit der OAS6 verbunden, einer weiteren Institution, die AMLO vor allem wegen ihrer Rolle beim bolivianischen Staatsstreich7 kritisiert hat. AMLO hat dazu aufgerufen, die OAS durch ein wirklich autonomes Gremium zu ersetzen – «ein Lakai für niemanden». Dieser Ersatz wäre die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC).

Die CELAC besteht erst seit zehn Jahren und umfasst im Gegensatz zur OAS Kuba, Venezuela und Nicaragua, nicht aber die USA und Kanada. Ihr Ziel ist es, die Unabhängigkeit, Integration und Autonomie Lateinamerikas und der Karibik zu fördern. Die Ausrichtung eines CELAC-Gipfels durch Mexiko im Jahr 2021, an dem fast alle Staats- und Regierungschefs der Region teilnahmen, verlieh der Organisation einen enormen Auftrieb.

AMLO und einige andere lateinamerikanische Führer sind mit ihrem Konzept der lateinamerikanischen Integration noch einen Schritt weiter gegangen und fordern eine Art Europäische Union mit einer einheitlichen Währung und dem Recht, Grenzen zu überschreiten. Dies erinnert an den Traum von Simón Bolívar, ein geeintes Lateinamerika zu schaffen.

Was die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten betrifft, so bewegt sich AMLO auf einem schmalen Grat zwischen der Ablehnung der US-Politik gegenüber Lateinamerika und der Aufrechterhaltung einer positiven Beziehung – auch unter Donald Trump. Mexiko hat nach Ansicht von AMLO keine Alternative, da das Land eine 2000 Meilen lange Grenze hat und nach Berechnungen der mexikanischen Regierung etwa 40 Millionen Mexikaner in den Vereinigten Staaten leben. Mehr noch, fast 80 Prozent der mexikanischen Exporte gehen in die Vereinigten Staaten.

AMLO besteht jedoch darauf, dass die zweihundertjährige Vorherrschaft der USA in Lateinamerika erschöpft ist und beendet werden muss.

«Wir sind kein Protektorat, keine Kolonie oder der Hinterhof von irgendjemandem», erklärte er8 in einer bahnbrechenden Rede im Juli 2021. «Wir sagen ‹adios› zu den Zwängen, Einmischungen, Sanktionen, Ausschlüssen und Blockaden». Stattdessen rief er zu einer Beziehung auf, die auf Nichteinmischung, Selbstbestimmung und der friedlichen Lösung von Konflikten beruht.

Diese Ideen finden in ganz Lateinamerika Widerhall, insbesondere angesichts der neuen linken Strömung, die den Kontinent erfasst hat – die Wahl von Präsident Gustavo Petro9 in Kolumbien ist die jüngste und spektakulärste angesichts der engen Allianz des Landes mit den Vereinigten Staaten. Wenn Lula in Brasilien die kommenden Wahlen gewinnt, wird der Kontinent reif für eine neue regionale Architektur sein und seine Beziehungen zu den USA selbst bestimmen. Der Kontinent wird auch nach neuen Entwicklungsmodellen greifen, die nicht auf Extraktivismus und Unternehmensgewinnen beruhen, sondern die Lebensqualität und die Umwelt verbessern. Millionen Menschen in der ganzen Hemisphäre werden auf ihre neuen Führer sowie auf AMLO und die CELAC schauen, und mithelfen diesen Prozess zu steuern.

*  Medea Benjamin ist Mitbegründerin von «CODEPINK for Peace» und Autorin mehrerer Bücher, darunter «Inside Iran: The Real History and Politics of the Islamic Republic of Iran».

Quelle: https://jacobin.com/2022/07/amlo-mexico-president-us-celac-latin-america, 21. Juli 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://morningconsult.com/2022/06/07/latin-american-leader-approval/

2 https://lopezobrador.org.mx/

3 https://www.aljazeera.com/news/2022/7/18/lopez-obrador-says-he-pleaded-for-assange-in-letter-to-biden

4 https://www.france24.com/en/americas/20210903-maduro-s-representatives-venezuelan-opposition-to-resume-talks-in-mexico

5 https://jacobin.com/2022/05/the-summit-of-the-americas-is-an-instrument-of-us-hegemony-in-latin-america

6 https://jacobin.com/2021/09/abolish-organization-of-american-states-oas-bolivia-election-fraud-coup-amlo-condor-us-imperialism

7 https://jacobin.com/2020/09/oas-evo-morales-bolivia-coup-fraud-cepr

8 https://www.youtube.com/watch?v=JrvSTSyk2WE

9 https://jacobin.com/2022/07/colombia-left-politics-gustavo-petro-francia-marquez

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