Überlegungen zu den Ereignissen in Afghanistan

Anerkennen oder nicht anerkennen, das ist hier die Frage

Weitere detaillierte Analysen zu Afghanistan (Folgen 1 bis 14 ) von M. K. Bhadrakumar finden Sie auf seiner Homepage www.indianpunchline.com.

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar*

(8. September 2021) An der wöchentlichen Pressekonferenz in Moskau erklärte die Sprecherin des Aussenministeriums, Maria Sacharowa, am Donnerstag, dass Russland die Anerkennung der neuen afghanischen Behörden in Erwägung ziehen werde, sobald eine inklusive Regierung im Land gebildet sei.

Zitat Zakharova: «Wir fordern die Bildung einer inklusiven Koalitionsregierung in Afghanistan, die alle ethnischen und politischen Kräfte des Landes, einschliesslich der ethnischen Minderheiten, einbezieht, so wird sich die Frage der Anerkennung der Behörden des Landes nach Abschluss des Prozesses stellen.» (TASS)

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die von den Taliban geführte Regierung tatsächlich eine inklusive Koalitionsregierung sein wird. Einigen Berichten zufolge wird eine diesbezügliche Ankündigung in Kabul bereits am Freitag erwartet.

Die Bemerkung von Zakharova ist vorausschauend und scheint die neuesten russischen Überlegungen widerzuspiegeln. Erst kürzlich hatte der russische Sondergesandte des Präsidenten für Afghanistan, Samir Kabulow, erklärt, dass die Taliban auf keinen Fall vor einer Entscheidung des UN-Sicherheitsrats von der Terroristenliste gestrichen werden können. «Was die Anerkennung betrifft, so haben wir keine Eile. Wir werden sehen, wie sich das Regime verhält», sagte er.

Moskaus Haltung ist entscheidend

Die Haltung Moskaus in der Frage der Anerkennung der neuen afghanischen Regierung ist in der Tat entscheidend für dessen Stabilität. Es ist inzwischen mehr als deutlich, dass die USA alles tun werden, um zu verhindern, dass die neue Regierung an Einfluss gewinnt. […] Auf die Frage, ob die USA die Möglichkeit haben, sich im Kampf gegen IS-K [Islamischer Staat im Khorasan] mit den Taliban zu koordinieren, wich Verteidigungsminister Lloyd Austin aus, obwohl der gesunde Menschenverstand gebietet, dass die Taliban ein existenzieller Feind von IS-K sind.

Das bedeutet, dass die USA beabsichtigen, die afghanische Regierung zunächst durch Sanktionen, das Einfrieren von Vermögenswerten, die Verweigerung des Zugangs zum internationalen Bankwesen usw. finanziell zu lähmen, um sie dann zu umgehen und ohne Rücksicht auf die Souveränität und territoriale Integrität Afghanistans so ziemlich alles zu tun, was sie wollen. Eine Analyse der Brookings Institution vom Dienstag trägt den Titel «Wird das Taliban-Regime überleben?».

In der Analyse wird erörtert, dass «die Herausforderung für die Gruppe (Taliban) – den Zusammenhalt zwischen ihren vielen verschiedenen Fraktionen unterschiedlicher ideologischer Intensität und materieller Interessen aufrechtzuerhalten – jetzt, da sie an der Macht ist, noch grösser ist».

«Die Fraktionen haben unterschiedliche Ansichten darüber, wie das neue Regime in fast allen Bereichen der Staatsführung regieren sollte: Inklusion, Umgang mit ausländischen Kämpfern, Wirtschaft und Aussenbeziehungen. Viele Befehlshaber der mittleren Ebene auf dem Schlachtfeld – jünger, besser in die globalen Dschihad-Netzwerke eingebunden und ohne persönliche Erfahrung mit der missglückten Taliban-Herrschaft der 1990er Jahre – vertreten eine härtere Linie als die wichtigsten älteren Führer auf nationaler und Provinzebene.»1

Ganz offensichtlich hat der US-Geheimdienst die Taliban tiefgehend infiltriert und hat so die Möglichkeit geschaffen, sie zu spalten, zu schwächen und zu unterwerfen, wenn es für ihn opportun ist. Somit ist klar, dass die Taliban keine leichte Zeit vor sich haben. Das Interesse Washingtons besteht darin, in dem Land eine «staatenlose» Situation ohne eine funktionierende Zentralregierung zu schaffen, damit es nach Belieben intervenieren und seine geopolitischen Ziele gegenüber den Ländern der Region verfolgen kann.

Eine unausgesprochene US-Agenda

Die unausgesprochene Agenda besteht darin, einen hybriden Krieg zu beginnen, in dem die von den USA aus Syrien abgezogenen und nach Afghanistan verlegten IS-Kämpfer zusammen mit kampferprobten Veteranen aus Zentralasien, Xinjiang, dem Nordkaukasus usw. in den Regionen um Afghanistan operieren.

Russland scheint die schwerwiegenden Folgen der sich entwickelnden US-Strategie zu erkennen. Botschafter Vassily Nebenzia hinterfragte zu Recht die böswilligen Absichten der USA und ihrer Verbündeten, die am Montag in aller Eile die Resolution 2593 (2021) zu Afghanistan durch den UN-Sicherheitsrat brachten.

Die Zeit der Ambivalenz ist zu Ende. Das Überleben der von den Taliban geführten Koalitionsregierung wird entscheidend von der internationalen Unterstützung abhängen. Die Politik der Regionalstaaten sollte sich daher in erster Linie daran orientieren, ob eine stabile Regierung in Kabul in ihrem vitalen Interesse liegt oder nicht.

Afghanistan ist heute politisch hoffnungslos zersplittert. Die USA haben auch die Nordallianz systematisch unterminiert und geschwächt, um den Weg für ihre Kabuler Marionettenregierung frei zu machen. Nun ist die Taliban-Regierung buchstäblich die letzte Chance, das Land vor dem Chaos zu retten. Wenn diese Regierung zusammenbricht, ist die Einheit Afghanistans massiv gefährdet; das Land würde von den Warlords in Lehen aufgeteilt, wie Somalia oder der Jemen, und wäre eine ständige Quelle regionaler Instabilität und Terrorismus. Ist es das, was verantwortungsbewusste regionale Staaten wie Indien in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wollen?

Die Anerkennung der neuen Regierung in Kabul durch die regionalen Staaten ist eine absolute Notwendigkeit

Die Antwort ist ganz klar. Die «Innere Sicherheit» der USA wird nicht beeinträchtigt, wenn Afghanistan im totalen Chaos versinkt. Aber die regionalen Staaten sind auf die eine oder andere Weise betroffen, und hier gibt es keine Ausnahme: Die zentralasiatischen Staaten, China, Russland, Iran, Pakistan und Indien sitzen alle im selben Boot.

Jeder der regionalen Staaten hätte ein Eigeninteresse daran, die neue afghanische Regierung zu stärken und ihr dabei zu helfen, die IS-K und andere Terrorgruppen, die während der US-Besatzung wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, zu besiegen. Daher ist die Anerkennung der neuen Regierung in Kabul durch die regionalen Staaten eine absolute Notwendigkeit.

Es muss unbedingt sichergestellt werden, dass die Taliban ihrer Verpflichtung nachkommen, gegen die auf afghanischem Boden operierenden Terrorgruppen vorzugehen. Die Regionalstaaten sollen und dürfen ihre Verantwortung nicht Washington übergeben. Im Namen der «internationalen Solidarität» betreiben die USA in Wirklichkeit die Isolierung Afghanistans als «Pariastaat», um einen Lieblingsausdruck von Staatssekretär Blinken zu verwenden.

Wenn die USA mit ihrer Strategie Erfolg haben, werden die Staaten in der Region einen hohen Preis dafür zahlen, denn die logische Folge wird der Aufstieg des Islamischen Staates in Afghanistan sein. Und es geht nichts über absolute Sicherheit. Die Sicherheit und Stabilität Afghanistans ist untrennbar mit der Sicherheit und Stabilität der Region verbunden. Daher ist es unbedingt notwendig, mit der Taliban-Regierung konstruktiv zusammenzuarbeiten und ihr zu helfen, sich schnell zu konsolidieren, um ihre Politik zu beeinflussen und sie zu ermutigen, sich in eine positive Richtung zu bewegen.

1 https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2021/08/31/will-the-taliban-regime-survive/

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/reflections-on-events-in-afghanistan-12/,  3. September 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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