Frankreich

Auflösung der Nationalversammlung – der «Mozart der Finanzen» spielt mit dem Feuer

von Yann Le Houelleur,* Paris

(14. Juni 2024) Die Millionen von Franzosen, die an die Urnen gingen, um ihre 79 Abgeordneten für das Europäische Parlament zu wählen, wussten nicht, dass sie bereits am 30. Juni erneut den Weg in die Wahllokale werden an-treten müssen. Am Sonntag, dem 9. Juni 2024, ertönte im grössten europäischen Land ein Donnerschlag:

Yann Le Houelleur.
(Bild zvg)

Mit ernster Stimme und vertieften Gesichtszügen nach seinen von ständigen Turbulenzen geprägten sieben Jahren im Elysée-Palast hielt Emmanuel Macron eine kurze Fernsehansprache, sobald die Hochrechnungen der Wahlergebnisse bekannt waren:

«Die wichtigste Lehre aus diesen Wahlen ist, dass es kein gutes Ergebnis für die präsidiale Mehrheit ist. Die rechtsextremen Parteien haben sich in den letzten Jahren allen Fortschritten in Europa widersetzt [...] und sie sind überall auf unserem Kontinent auf dem Vormarsch. Ihre Vertreter erreichen 40 Prozent der abgegebenen Stimmen.»

Mit Verweis auf die Verfassung traf der Staatschef «eine schwerwiegende Entscheidung», nämlich:

«Ich habe mich entschieden, die Nationalversammlung aufzulösen.»

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will die Nationalversammlung
auflösen. (Bild YLH)

Frankreich ist seinen Gläubigern ausgeliefert

Die Umfragen lagen kaum falsch, als sie dem Rassemblement National (RN) 33 Prozent der Stimmen zusprachen. Alles deutet nun darauf hin, dass der RN etwas mehr als 30 Prozent erreicht hat. Renaissance, die von Anhängern Emmanuel Macrons gegründete Partei, kommt auf rund 15 Prozent. Es folgt Place Publique, eine linke Gruppierung, die aus den Überresten der Sozialistischen Partei entstanden ist.

Für Emmanuel Macron ist dies ein folgenschwerer Schlag in einem Land, das so zersplittert ist wie nie zuvor. Die Franzosen haben einen äusserst harten Wahlkampf erlebt, einerseits aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise und anderseits aufgrund der starken Spannungen, die von einem grossen Teil der Linken, hauptsächlich den Vertretern von La France Insoumise (LFI), nach den israelischen Luftangriffen im Gazastreifen ausgelöst wurden.

Die Kirsche auf diesem unverdaulichen Kuchen ist die Herabstufung der Bonität Frankreichs durch die Ratingagentur Standard & Poor's. Früher wurde Macron als der «Mozart der Finanzwelt» bezeichnet. Es hat sieben Jahre «Macronismus» gebraucht, um zu der ernüchternden Erkenntnis zu gelangen, dass die zweitgrösste Volkswirtschaft Europas ihren Gläubigern ausgeliefert ist.

«Am Ende des 4. Quartals 2023 beliefen sich die Schulden Frankreichs auf mehr als 3100 Milliarden Euro und die Zahl der Unternehmensinsolvenzen nimmt zu», äusserte ein Abgeordneter des RN besorgt in einer von CNews ausgestrahlten Diskussionsrunde. Unabhängig von ihrer politischen Couleur machen sich die Abgeordneten zu den Vertretern der vom Leid geplagten Menschen in ihren Wahlkreisen, die von der Abschwächung der französischen Wirtschaft betroffen sind.

Eine Bürgerin vor Wahlplakaten für die EUParlamentswahlen. (Bild YLH)

Wachsende Unsicherheit

Hinzu kommt eine Angst, die sich überall im Land verschärft: die Unsicherheit und die Zunahme extremer Gewalttaten, die zu zahlreichen Todesfällen führen. Für manche hat der Bürgerkrieg, der von den grössten Pessimisten – «den klarsten Köpfen», wie manche sagen – angekündigt wird, bereits begonnen. Die auf kontinentaler Ebene anstehenden Fragen wurden in Wirklichkeit aber von den EU-Parlamentskandidaten meist in den Hintergrund gedrängt und die Wähler haben sich zu nationalen Themen geäussert. Die Frage der Zuwanderung wurde in den Fernsehdebatten sehr oft thematisiert. Die Führer des RN betonten, dass jedes Jahr 500 000 Migranten in Frankreich ankommen und die meisten von ihnen bereit sind unter freiem Himmel zu schlafen, zu betteln oder sich sogar von brutalen Mafias, vor allem Drogenhändlern, anwerben zu lassen.

Aufgrund der derzeitigen Gesetzgebung und den zugewiesenen Mitteln sind die Behörden jedoch nicht in der Lage, sie auszuweisen. Zum ersten Mal in einem Wahlkampf haben die Unsicherheiten, die diese verstärkte Einwanderung mit sich bringt, viele politische Parteien beschäftigt. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels lagen die endgültigen Ergebnisse für ganz Frankreich noch nicht vor. Die Journalistin Charlotte d'Ornellas kommentierte: «Sicher ist jedoch, dass es in unzähligen Wahlkreisen eine Flutwelle zugunsten des Rassemblement National gegeben hat.»

Ein RN-Premierminister?

Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob Emmanuel Macron nicht ein doppeltes Spiel treibt, indem er insgeheim einen Sieg des RN erhofft. Sollte das Rassemblement National mehr als die bisherigen 88 Sitze in der Nationalversammlung erhalten, müsste der Präsident das Amt des Premierministers einem führenden Vertreter des RN anvertrauen, wahrscheinlich dem jungen 29-jährigen Jordan Bardella, der dieser Partei vorsteht. Emmanuel Macron könnte so auf einen Misserfolg seines aus der radikalen Rechten stammenden Premierministers setzen, um die Nationalversammlung ein Jahr später ein zweites Mal aufzulösen (was ihm laut Verfassung erlaubt ist). Ist der französische Präsident ein Machiavellist? Dies ist die Meinung vieler Beobachter, die der Ansicht sind, dass er mit dem Feuer spielt.

Schliesslich ist dem noch anzufügen, dass die Erneuerung der Nationalversammlung nur wenige Tage vor der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele stattfinden wird, was die allgemeine Verwirrung nur noch verstärken kann.

Wenn die Parteien, die Emmanuel Macron unterstützen, keine Sitzmehrheit erreichen, wird die neue Regierung wahrscheinlich kaum imstande sein, die Lage zu beherrschen, während die Mitarbeiter des Zentralen Nachrichtendienstes Frankreichs islamistische Anschläge vorhersagen. – Zweifellos, der Staatschef spielt mit dem Feuer.

* Yann Le Houelleur war lange Jahre Korrespondent in Brasilien (wo er etwa 17 Jahre lebte) für mehrere Zeitungen in der Schweiz und in Frankreich, darunter das inzwischen verschwundene Journal de Genève und die immer noch aktuelle regionale Tageszeitung La Liberté. Parallel zu diesem Korrespondentenmandat baute er fast während der gesamten Zeit eine französischsprachige Zeitung auf, die in São Paulo, die Stadt, in der er sich niedergelassen hatte, gedruckt wurde. Franc-Parler [Freie Rede], so der Name dieser Zeitung, hat ein zweites Leben erfahren: Seit vier Jahren entwickelt er fast im Alleingang eine digitale Zeitschrift von Gennevilliers aus, einer Stadt im Departement Hauts-de-Seine, die nur wenige Metrostationen von Paris entfernt liegt. Und diese Zeitschrift, die während des Covid-Lockdowns entstand, heisst natürlich wieder Franc-Parler.

Quelle: https://www.infomeduse.ch/2024/06/09/dissolution-de-lassemblee-nationale-en-france-le-mozart-de-la-finance-joue-avec-le-feu/, 9. Juni 2024

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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