China ist anders

Politische Reisenotizen

von Beat Schneider,* Schweiz

(14. Juni 2024) Kaum im Flugzeug der Air China spüre ich die Folgen der Geopolitik. Weil sich China nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligt, können wir durch den eurasischen Luftsektor fliegen und sparen so gegenüber SWISS, die einem sanktionierenden Land angehört, ein paar Stunden. Ich lasse einen schwachen Bundesrat hinter mir, der die schweizerische Neutralität leichtsinnig zur Disposition stellt.

Beat Schneider. (Bild
www.beatschneider.com)

Entlang der eurasischen Achse

Eurasien, das von Europa über Russland, Zentralasien und Iran bis nach China reicht, ist die bevölkerungs- und ressourcenreichste Region der Erde und deshalb von grosser strategischer Bedeutung. Die USA tun alles, um das Zustandekommen einer eurasischen Achse zu verhindern: NATO-Osterweiterung und Abblocken der deutsch-russischen Kooperation. Im ukrainischen Stellvertreterkrieg ist Russland im Visier, Hauptziel ist aber China, gegen welches die USA in aller Offenheit einen Krieg vorbereiten. Für das Pentagon ist es nur noch eine Frage des Wann. Nun aber runter nach Beijing!

Viel Ideologie und Moralin

In China spüre ich nach einigen Tagen ein Nachlassen der Spannung, die ich mitgenommen habe. Bei uns herrscht ein aufgeheiztes Klima, fast wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Die Mainstreammedien sind – mit Nuancen – gleichgeschaltet und mobilisieren gegen abweichende Meinungen. Es trieft nach Ideologie und moralinschwangeren Statements. Die Stimmung ist eher pessimistisch und depressiv. Mir fällt auf, dass die Leute hier entspannter und unideologischer sind, irgendwie nüchterner und pragmatischer. Westliche Untersuchungen beschreiben zudem die Mehrheit der chinesischen Jugendlichen als zukunftsoptimistisch. Verkehrte Welt! Ich denke, dass eine der grössten Herausforderungen für die chinesische Führung darin besteht, Wege zu finden, um die Jugendlichen immer von neuem zu gewinnen. Eine Herausforderung, die sich jeder Gesellschaft stellt.

Morgengymnastik mit Tai-Chi-Quan. (alle Bilder Beat Schneider)

Im Park des Sonnentempels

Auf meinen China-Reisen habe ich mir angewöhnt, früh aufzustehen und meistens schlaftrunken einen Park aufzusuchen, wo ich mit anderen Leuten Morgengymnastik mache. Im Beijinger Park des Sonnentempels hat es mehr Junge als früher. Viele bewegen sich im anmutigen Tai-Chi-Quan-Rhythmus. Dieser Kampfsport offenbart einiges über China. Er besteht aus einer ständigen Yin-Yang-Gewichtsverlagerung, wobei vor dem (imaginierten) Gegner zurückgewichen wird, um ihn mit wenig Kraftaufwand ins Leere laufen zu lassen und gleich wieder elegant in die Offensive zu gehen, solange, bis der Gegner vor Anstrengung ermüdet aufgibt. So geschehen – und zwar in grossem Stil – 1934 im 10 000 Kilometer «Langen Marsch», wo die Nationale Volksarmee sich in ständiger Defensive befand und mit begrenzten, aber schlauen Konterattacken den Gegner ermüden und besiegen konnte.

Eingeschüchtert

Bei meinen Treffen an chinesischen Universitäten wird mir die gegenwärtige Stimmung an den Schweizer Hochschulen bewusst: Es herrscht zum Teil Angst vor kritischer Meinungsäusserung. Eingeschüchterte Kollegen getrauen sich nur noch anonym an die Öffentlichkeit. Mir fällt auf, wie engagiert und selbstbewusst die Debatten sind, an denen ich hier teilnehme. Es gibt parteiunabhängige Kollegen wie Zhang Tangyang an der Shanghaier Fudan-Universität, der im Westen erfolgreich publiziert und hier liberale unorthodoxe Positionen vertritt. Verkehrte Welt.

McDonald’s

Auch bei akademischen Treffen ist es in China üblich, dass Entscheidendes beim gemeinsamen Essen am runden Drehtisch zur Sprache kommt. Das gemeinsame Essen ist in China ein wichtiges Ereignis. An der Fudan-Universität, einer weltweit renommierten Hochschule, treffe ich Zhang Weiwei, den ehemaligen Dolmetscher Deng Xiaopings und heutigen Direktor des China-Instituts, einer der Thinktanks der Zentralregierung. Er fragt mich nach dem Unterschied zwischen China und den USA und antwortet gleich selbst:

China hat acht grosse vieltausendjährige Esskulturen. Die USA haben McDonald’s. Nach herzlichem Lachen erläutert Zhang mittels eines Gedankenexperiments seine These vom Zivilisationsstaat China, der mehr sei als ein Nationalstaat im europäischen Sinn: Man stelle sich vor, dass die Zivilisationen des Alten Ägyptens oder des klassischen Griechenlands heute noch existierten und in moderne Staaten eingebettet wären. Diese Staaten wären Zivilisationsstaaten. Genau das treffe auf China zu. Einziger Unterschied: Die 5000-jährige Zivilisation und Kultur lebe noch heute im modernen China. Der chinesische Zivilisationsstaat sei dem kurzlebigen US-Staat meilenweit voraus.

Eine besondere Sucht

Lin Jinhua, Vizepräsident des Marxismus-Instituts der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) in Beijing, vertraut mir beim gemeinsamen Essen an, dass die Chinesen eine «besondere Sucht» hätten, sie seien nämlich seit Urzeiten lernsüchtig! (Gleichzeitig sind sie sehr sicherheitsbedürftig und kontrollfreundlich. BS). Mir fällt auf, dass die Menschen, denen ich in China begegne, alle sehr neugierig und offen sind. Sie wissen sehr viel mehr über uns als wir über sie. Unser Chinawissen wird auf einem beschämend tiefen Stand gehalten. Es fehlt selbst an elementaren Kenntnissen. Kein Wunder, dass sich antichinesische Klischees hartnäckig halten! Das westliche China-Bashing hat ein leichtes Spiel. Ignoranz und Arroganz sind Zwillinge.

SUVs noch und noch

Überraschung auf den Strassen Beijings und Shanghais: Es verkehren fast nur grosse Mittelstands- und Oberschichten-Limousinen, davon viele SUVs. Kleinwagen gibt es praktisch nicht. Die modernen Karossen sind offenbar sehr erstrebenswert. Sie sorgen jedenfalls während der Rushhour für grossen Stau. Muss China alle unsere Fehler nachahmen! Ich ertappe mich bei typisch eurozentristischen und hochnäsigen Gedanken.

China ahmt nicht nach, sondern ist viel weiter. Aus Umweltgründen wird der Autoverkauf stark limitiert und durch Losentscheid geregelt. Der ÖV wird massiv ausgebaut. In der 25-Millionen-Metropole Shenzhen, einem Innovations- und Öko-Labor Chinas, schweben nur noch batteriegetriebene PKWs, Taxis, Busse und LKWs durch die Strassen. Eine revolutionäre umweltschonende chinesische Batterie kommt demnächst auf den Markt. Zudem krempelt China seine Städte in energiesparende Smart Cities um, mit kurzen Arbeitswegen, viel Grünflächen und minimal energetischem und maximal vernetztem Verkehr.

Sozialistisch

Wen Tiegun, Ökonomieprofessor an der Beijinger Renmin-Universität und bekannter Agrarexperte, gibt mir ein konkretes Beispiel für den «Sozialismus chinesischer Prägung»: China leidet als international stark vernetztes Land wie die westlichen Industrieländer an der enormen Menge liquiden Kapitals (Finanzialisierung). In China kommen sie durch die grossen Bilanzüberschüsse und die massiven Investitionen von westlichem Kapital zustande. Während im Westen ein stetiger Abzug des akkumulierten Kapitals aus dem produktiven Sektor in den Finanzsektor stattfindet, wo eine schier unkontrollierbare Spekulationsblase entstanden ist, steht in China der grösste Teil des Finanzkapitals unter staatlicher Kontrolle. Die Regierung hat die Macht und die Möglichkeit, diese Ressourcen gezielt für die wirtschaftliche Entwicklung einzusetzen. Konkret verfolgt sie seit 2015 die Strategie, das liquide Kapital für die Schaffung von modernen Infrastrukturen und die Gründung von neuen Unternehmen im weniger entwickelten chinesischen Westen einzusetzen. Die Staatsbanken tätigen dort enorme Anschubfinanzierung für neue lokale Startups, die dann allmählich in die Hand der ländlichen Bevölkerung übergehen. Dadurch werden ganze ländliche Regionen revitalisiert und auch für NeuzuzügerInnen aus dem Osten des Landes attraktiv gemacht.

Korrektur

In Shanghai treffe ich Li Eric, einen bekannten Wirtschaftsexperten und CEO verschiedener Firmen. Er spricht Klartext und ist bei der jungen Mittelschicht sehr beliebt. Er sieht fehlerhafte, durch den Markt verursachte ökonomische Verzerrungen wie der Immobilienboom und redet von der Notwendigkeit einer gelenkten wirtschaftlichen Transformation über die Angebotsseite. Diese könne aber nur durch den Staat vorgenommen werden. Das Investitionskapital müsse in neue innovative Branchen gelenkt werden. Nur so könne der berüchtigten «Falle des mittleren Einkommens» entgangen werden. Auf meine Frage, was China anders mache als der Westen, antwortet Li: Die makroökonomische Umleitung (nicht Beschränkung) der Wirtschaft schade zwar gewissen Interessensgruppen des Landes, sei aber die grosse Stärke Chinas, was übrigens auch von der Washington Post so gesehen wird.

Steilflug

Im Shanghaier Stammhaus des IT-Konzerns Huawei treffe ich Qian Colins, einer der CEOs von Huawei. Er erzählt mir das Huawei-Märchen. Huawei ist vor ein paar Jahren von drei jungen Ingenieuren gegründet worden und beschäftigt heute 210 000 Menschen, die alle Aktionäre des Konzerns sind. Davon sind sage und schreibe 56% in Forschung und Entwicklung tätig. Diese traumhafte Quote ist der Grund, weshalb Huawei, nachdem der Konzern von den USA sanktioniert und die Google-Dienste auf dem Handy gesperrt worden waren, nach einem Jahr sämtliche Module selbst entwickeln konnte. Seitdem befindet sich das Paradepferd der chinesischen IT-Branche laut Qian (in Übereinstimmung mit westlichen Analysten) auf Steilflug.

Lamakloster in Beijing.

Umweg über China

Nirgends auf meinen Reisen bin ich mental so weit von zuhause entfernt wie in China. China ist ein völlig Anderes. Durch den Umweg über China sehe ich meine Heimat aus Distanz und lerne, den eigenen Standpunkt besser zu verstehen und zu justieren. Das wiederum führt zum weiteren Verstehen des Anderen. Im Umweg besteht die Zirkularität der Erkenntnis. Ein zentrales Prinzip der Kybernetik.

Sowohl-als-auch

Die chinesische Kultur ist eine Kultur des Sowohl-als-auch. Sie ist imstande, die beiden Seiten eines Phänomens gemeinsam zu denken und danach zu handeln. Ziel des Konfuzianismus ist eine friedliche, sichere und vor allem eine harmonische Welt. Angewendet auf die heutige Wirtschaft bedeutet das ein harmonisches Sowohl-als-auch von Entfesselung und staatlicher Bändigung der Produktivkräfte, von Wettbewerb und staatlicher Makroplanung, von Innovation und Kontrolle. Das ist die grosse Stärke und Grundlage für die Dynamik des chinesischen Wirtschaftswunders und gleichzeitig ein systemischer Vorteil gegenüber dem Westen. Dort herrscht die Kategorie des Entweder-oder. Schwarz oder weiss. Entweder ist etwas sozialistisch oder kapitalistisch! Im modernen China gibt es ein Sowohl-als-auch von Modernem und kultureller Tradition. China weiss auf beiden mentalen Klaviaturen gleichzeitig zu spielen und sich die kulturellen Instrumente der westlichen Modernisierung anzueignen, ohne zu verwestlichen. Das macht das System widerstandsfähig.

Granatapfel

In Urumqi, der Hauptstadt der Autonomen uighurischen Region Xinjiang, treffe ich Ma Xingrui. Er ist Mitglied des 25-köpfigen Politbüros, dem zentralen Machtorgan der KP China, welche heute rund 100 Millionen Mitglieder zählt. Wie in China üblich spricht auch Ma gern in anschaulichen Metaphern und mit einprägsamen Bildern. Er sagt, dass die 56 ethnischen Gruppen der Volksrepublik zusammenhalten wie die vielen Kerne des Granatapfels, die in der roten Schale eingebettet sind. Er spielt damit den Konflikt mit der uighurischen Ethnie in Xinjiang an. Darüber und über den uighurischen IS-Terrorismus bis in die 2010er Jahre habe ich mich in «Chinas langer Marsch in die Moderne» ausführlich geäussert.

Im Kindergarten.

Kindergarten-Lehrplan

Der Besuch eines staatlichen Kindergartens in Korla (Xingjiang) wird zu einem Höhepunkt der diesjährigen Reise. Er umfasst 260 Kinder und 16 Lehrpersonen, liegt in einem grossen Terrain mit viel Natur und einem gepflegten und modernen Design. Der Lehrplan umfasst: Erlernen und Üben von vielen praktischen Fertigkeiten mit adäquaten Werkzeugen und Instrumenten, künstlerische Tätigkeiten, Respekt im Umgang mit der Natur, Pflanzen und Tiere beobachten, mit moderner Technik und Astronautik (!) vertraut werden, Umgang mit Erfolg und Scheitern. Alles mit viel Spiel und Sport und möglichst in Gruppen. Ein klares und zielstrebiges Konzept, das den Kleinkindern schon früh einen weiten Horizont eröffnet.

Für autoritätsgeschädigte Westler ist das zu viel Top down, bei dem Kreativität und Individualität zu kurz kommen (Stichwort: Ja nichts vorgeben!). Das chinesische ist ein anspruchsvolles Konzept, das vermutlich nur auf der Grundlage einer tausendjährigen und immer noch präsenten kulturellen Tradition funktioniert. Die Erziehung, welche die Kleinen geniessen, ist einer der Gründe, weshalb China heute mental und praktisch auf einer soliden Basis steht.

Praktizierter Feminismus

In Beijing begegne ich Huang Shu, der Vizedirektorin des internationalen Departements des Allchinesischen Frauenverbandes (ACWF), der grössten Massenorganisation der Welt. Huang redet selbstbewusst in Fakten: Der Einsatz für die Rechte der Frauen sei seit dem Befreiungskampf ein zentrales und selbstverständliches Anliegen. Was mir als ehemaligem Parlamentarier vor allem in den Ohren bleibt: Sämtliche gesetzgeberischen Massnahmen Chinas gehen in die Vernehmlassung zum ACWF, ohne dessen Placet sie wenig Erfolg haben.

So habe zum Beispiel die Erhöhung des Frauenrentenalters, wie in der reichen Schweiz geschehen, in China, einem Land mit bescheidenem Wohlstand, keine Chance. Ich bin allerdings nicht sicher, ob China mit seiner sinkenden Geburtenrate nicht doch irgendwann das Rentenalter beider Geschlechter erhöht. Es liegt gegenwärtig bei 55 für Frauen (bei Arbeiterinnen sogar bei 50), beziehungsweise bei 60 Jahren für Männer. Oder wird China das steigende Manko an erwerbstätigen Generationen mit künstlicher Intelligenz und der Arbeitskraft von Robotern kompensieren? China ist das zuzutrauen.

Allmacht der Partei

Folgende Aussage meines Dolmetschers Mi wird westliche Ohren überraschen: Im Nationalen Volkskongress, dem chinesischen Parlament mit rund 3000 Abgeordneten, das von den westlichen Medien als Kopfnicker Gremium denunziert wird, gibt es ein hängiges Gesetzesprojekt, das nur schleppend vorankommt, beziehungsweise immer wieder vertagt wird: Im Gesetz für die Mittelschulen soll der Gymnasialunterricht wieder unentgeltlich (!) gemacht werden. Grund für die Vertagung ist die Blockade durch die ärmeren Provinzen, die mehr bezahlen müssten und die reicheren Provinzen, welche beim innerchinesischen Lastenausgleich mehr zur Kasse gebeten würden. Das Lobbyieren der ParlamentarierInnen der jeweiligen Provinzen hat Erfolg. Der Schweizer Föderalismus lässt grüssen!

Zweite Chance

Im oben erwähnten Marxismus-Institut treffe ich auch Xin Xianyang, den Direktor und gleichzeitigen Parteisekretär dieses einflussreichen Thinktanks der Partei. Mit verschiedenen Kolleginnen und Kollegen des Instituts erlebe ich zum zweiten Mal einen interessanten Austausch über den Marxismus. Xin zitiert ein Sprichwort: Der Osten geht auf, der Westen geht unter. Der westliche Marxismus geht tatsächlich unter. Er hat seine Chance vertan. Während die westliche Linke mit sich selbst hadert und mit der eigenen Marginalisierung beschäftigt ist und den Anschluss an die globale Entwicklung verpasst, befinden sich die chinesischen MarxistInnen an der Spitze einer wachsenden wirtschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Entwicklung. Eine zweite Chance für den Marxismus im 21. Jahrhundert?

Skyline von Shanghai.

Globaler Süden

Überall in China ist sie präsent: die Neue Seidenstrasse (BRI), das grösste Infrastrukturprojekt der Weltgeschichte, Ausdruck des «asiatischen Aufstiegs» und nichts weniger als ein geostrategischer Modellversuch der Globalisierung im 21. Jahrhundert. Die Menschen hier haben eine andere Sicht auf die BRI als ein Grossteil der westlichen Staaten. Für sie ist sie ein Kooperationsprojekt eines arrivierten Entwicklungslandes vor allem mit den Ländern des globalen Südens und von grosser Bedeutung für den Wohlstand. Sie dient selbstverständlich auch dem Interesse Chinas. Dieses handelt wie jeder Staat auf dieser Welt in wohlverstandenem Eigeninteresse. Dazu stehen die Chinesen. Aber die BRI ist eben auch mehr! Chinas zunehmendes geopolitisches Gewicht ermöglicht den Ländern des globalen Südens die Wahl von Alternativen zur bisherigen neokolonialen Abhängigkeit vom Dollar und vom Währungsfonds, womit sie weniger erpressbar sind.

Kulturrevolution

Oft werde ich in China von einfachen Leuten und von Kadern gefragt, wieso der kollektive Westen seit einiger Zeit auf China so aggressiv reagiere, wieso die westlichen Menschen China nicht verstünden und was China besser machen müsse, um verstanden zu werden

China hat Mühe nachzuvollziehen, weshalb der Westen, der doch gewohnt sei, rational zu handeln, auf das stärker gewordene China so «irrational reagiere». Insbesondere hat man in China keine Erklärung dafür, dass sich die Sozialdemokratie und vor allem die Grünen an die Spitze des «China-Bashing» und der transatlantischen Phobie-Allianz gestellt haben. Beredter Ausdruck dafür: der unter dem Label von «feministischer Aussenpolitik» segelnde Bellizismus und die Sinophobie Baerbockscher Provenienz, ein Gipfel des rational daherkommenden Irrationalismus!

Die Chinesen wissen, dass sich der Westen in einer grossen Krise befindet. Ich frage mich aber, ob China realisiert hat, dass in Europa und in den USA seit einiger Zeit ein Kulturkampf, eine Art Kulturrevolution stattfindet. Ihre Merkmale: Verlust des Vertrauens in die Eliten und in die Institutionen und Medien, Frust nach der langjährigen Dominanz des linksliberalen Mainstreams, Angst vor dem Verlust der kulturellen Identität und der nationalen Souveränität.

Der grösste Wunsch

Im wunderbaren Lama-Tempel in Beijing, dem grössten ausserhalb Tibets, wo Chinesen ihre Gebete und Wünsche mit Räucherstäbchen zelebrieren, werde ich aufgefordert, auf einem Schrein meinen grössten Wunsch zu deponieren. Das bringt mich in ein Dilemma: Soll ich einen privaten Wunsch äussern oder wünschen, dass wir den Klimawandel global in den Griff bekommen, so dass auch meine zwei Enkelinnen und zwei Enkel eine gute Zukunft haben? Die Chinesen haben es einfacher. Sie deponieren die stereotypen drei Wünsche: «Glück, langes Leben, Reichtum».

* Beat Schneider (1946) ist emeritierter Professor für Kunst- und Designgeschichte. Er lehrte an der Hochschule der Künste Bern (HKB). Er ist Autor folgender Bücher: «Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte. Sozialgeschichtlich und patriarchatskritisch» (1999); «Design. Eine Einführung. Entwurf im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext» (2005); «Geheimnisvolles Kreta. Erste Hochkultur Europas» (2013); «Chinas langer Marsch in die Moderne. Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen» (2023). Politisch ist Beat Schneider ein 1968er und war Gründungsmitglied und in der nationalen Leitung der Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH). Für diese war er während zwölf Jahren im bernischen Grossen Rat und im Stadtrat der Stadt Bern.

(Vom Autor verfasst im April 2024)

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