Chinas Signale für die Zeit nach der Ukraine-Krise

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar*

(28. März 2022) Traditionell hält der chinesische Aussenminister am Rande der Sitzungen des Nationalen Volkskongresses (NVK) in der Grossen Halle des Volkes in Peking Pressekonferenzen ab. Die Pressekonferenz von Staatsrat und Aussenminister Wang Yi1 am 7. März anlässlich der fünften Sitzung des 13. NVK hatte aufgrund der Konfrontation zwischen den USA und Russland, einem epochalen Ereignis, zusätzliche Bedeutung.

Analysten, vor allem Inder, bilden sich leichtfertig die Meinung, dass China der «Sieger» sei und dass eine neue Konstellation «Russland und China gegen den Westen» das neue Paradigma in der internationalen Politik darstelle. Dabei übersehen sie, dass sich die marxistisch-leninistische Philosophie grundlegend von der traditionellen Vorstellung vom Gleichgewicht der Kräfte unterscheidet.

Chinas Staatsrat und Aussenminister Wang Yi gab eine Pressekonferenz für die
Fünfte Sitzung des 13. Nationalen Volkskongresses Chinas zu aussenpolitischen
Themen, Peking, 7. März 2022 (Bild www.fmpr.gov.cn)

Vielmehr sieht sie die Welt als sich nach den Gesetzen der Geschichte entwickelnd. So sind vorteilhafte Beziehungen in der Welt, wie sie sich derzeit um China herum zu entwickeln scheinen, ein Ergebnis der Kräfte der Geschichte, das Bedingungen für den weiteren Fortschritt der Weltgemeinschaft schafft.

China betrachtet das internationale System nicht als Schlachtfeld zweier antagonistischer Lager, ungeachtet der Bemühungen der USA, genau eine solche Kluft in Bezug auf sozioökonomische und politische Systeme, Entwicklungswege und Politiken zu schaffen.

Wangs Ausführungen über die künftige Ausrichtung der chinesischen Diplomatie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass China als «verantwortungsbewusstes grosses Land» dargestellt wird, dem eine besondere Rolle bei der Aufrechterhaltung des Multilateralismus in der entstehenden Situation zukommt.

In der Tat sieht sich China nach dem grossen Erfolg der Olympischen Winterspiele in Peking als «selbstbewusster, selbständiger, offener und inklusiver» Teilnehmer, der alle «politisch motivierten Stör- und Sabotageversuche» der USA und einer Reihe von Verbündeten vereitelt hat.

Die Bedeutung liegt in einer wiedererstarkten chinesischen Diplomatie, die Brücken zu Europa baut. So nimmt China in Bezug auf die Ukraine eine «objektive und unparteiische Haltung» ein, die auf unabhängigen Einschätzungen und den «Vorzügen der Angelegenheit» beruht, wobei es gleichzeitig betont, dass eine Vielzahl komplexer Gründe die derzeitige Situation ausgelöst haben.

Das heisst, der «Grundsatz der unteilbaren Sicherheit» und die «legitimen Sicherheitsbedenken» Russlands wurden ignoriert, während die langfristige Stabilität entscheidend von der Schaffung einer «ausgewogenen, wirksamen und nachhaltigen europäischen Sicherheitsarchitektur» abhängt. Dies ist in der Tat ein Grundprinzip des russischen Ansatzes.

Daher wird die chinesische Diplomatie die Europäer ermutigen, (wieder) Brücken zu Russland zu bauen, was wiederum voraussetzt, dass Europa seine eigene strategische Autonomie und Unabhängigkeit stärkt, um sich in eine solche Richtung zu bewegen. China wird sein Engagement mit den europäischen Ländern intensivieren.

Bezeichnenderweise hielt Präsident Xi Jinping am 8. März ein virtuelles Gipfeltreffen2 mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz ab, bei dem er sich dafür aussprach, dass Paris und Berlin «einen ausgewogenen, wirksamen und nachhaltigen europäischen Sicherheitsrahmen für die Interessen und die dauerhafte Sicherheit Europas und unter Wahrung seiner strategischen Autonomie fördern».

Die grosse Neuigkeit auf der Pressekonferenz von Wang Yi ist das Angebot Chinas, «die notwendige Vermittlung durchzuführen». Deutschland hat Berichten zufolge um chinesische Vermittlung gebeten (in einer im Wesentlichen europäischen Angelegenheit). So etwas hat es in der Geschichte noch nie gegeben! Und das auch noch mit der Unterstützung Frankreichs!

Wang zerstreute die wahnhaften Berichte im Informationskrieg der Biden-Administration, dass Peking sich den USA für ein paar Silberlinge angenähert habe. Dagegen legte Wang den Finger auf den Grund der heutigen Krise: «Ein grosses Land (die USA), das an seiner Hegemonie festhalten will, hat die Mentalität des Kalten Krieges wieder aufleben lassen und die Blockkonfrontation geschürt. Dies hat Instabilität und Spaltung geschürt und einer Welt, die bereits mit so vielen Herausforderungen konfrontiert ist, zusätzliche Schwierigkeiten bereitet.»

Die chinesische Diplomatie wird sich bemühen, Peking in den Mittelpunkt der Bemühungen um Frieden, Zusammenarbeit, Interdependenz, Einbeziehung, Dialog und gemeinsame Sicherheit zu stellen. Chinas Befürwortung des Multilateralismus und der wirtschaftlichen Globalisierung sowie seine entschiedene Ablehnung der US-Hegemonie und ihrer «Blockpolitik» werden zentrale Themen sein.

Die chinesische Diplomatie wird China als «Stabilitätsanker», als «Win-Win-Kooperation», als neue Form der internationalen Beziehungen und als Weltgemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft hervorheben.

Die chinesisch-russische Partnerschaft wird «felsenfest» bleiben, basierend auf einer gemeinsamen Vision der Weltordnung, die sich gegen «Versuche, die Mentalität des Kalten Krieges wiederzubeleben oder eine ideologiebasierte Konfrontation zu provozieren» wendet, aber gleichzeitig auf «Nicht-Bündnis» basiert und «in einer klaren Logik der Geschichte begründet und von einer starken internen Dynamik angetrieben» ist. Dies verdient Beachtung.3

Die Versuche der Biden-Administration, Peking und Moskau auseinander zu dividieren, einschliesslich der zahlreichen Telefonate, die US-Aussenminister Antony Blinken in letzter Zeit mit Wang geführt hat, sind offensichtlich gescheitert. Wang drückte die Empörung Pekings über die China-Politik der Biden-Regierung mit sehr deutlichen Worten aus.

Zusätzlich zur Tatsache, dass Biden seine mündliche Zusage an Xi persönlich nicht in die Tat umsetzte, sagte Wang: «Die Realität, die wir gesehen haben, ist folgende: Die USA bemühen sich sehr um einen intensiven Nullsummen-Wettbewerb mit China, sie provozieren China immer wieder in Fragen, die unsere Kerninteressen betreffen, und sie ergreifen eine Reihe von Massnahmen, um kleine Blöcke zusammenzustellen, um China zu unterdrücken. Diese Aktionen untergraben die Beziehungen zwischen China und den USA insgesamt und stören und untergraben den internationalen Frieden und die Stabilität. […] Wir haben jedes Recht, das zu tun, was notwendig ist, um unsere legitimen Interessen entschieden zu verteidigen.»

Damit hat Wang ein wichtiges Signal gesetzt: «China und Europa sind zwei wichtige Kräfte für den Weltfrieden, zwei grosse Märkte für die gemeinsame Entwicklung und zwei grosse Zivilisationen für den menschlichen Fortschritt. Die chinesisch-europäischen Beziehungen sind weder auf eine dritte Partei ausgerichtet, noch sind sie einer dritten Partei unterworfen oder werden von einer dritten Partei kontrolliert. Der Dialog und die Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt und gegenseitigem Nutzen werden einer instabilen Welt weitere stabilisierende Faktoren hinzufügen. […] Wir werden die Unabhängigkeit Europas weiterhin unterstützen …»

Chinas umfangreiches globales Netzwerk von Freunden und Partnern wird jedoch auch weiterhin das Grundgerüst seiner Diplomatie bilden, wobei die BRI [Belt and Road Initiative] weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Wang deutete aber auch an, dass sich die BRI wandelt – «die Förderung einer qualitativ hochwertigen […] Zusammenarbeit auf höherem Niveau, eine bessere Kosteneffizienz, eine qualitativ hochwertigere Versorgung und eine stärkere Entwicklungsresistenz», die zu einem neuen «Entwicklungsgürtel» führt. (Übrigens hat sich Frankreich mit China bei Projekten in Mitteleuropa zusammengetan.)

China wird sich auch der indopazifischen Strategie der USA zuwenden, die «geopolitische Rivalitäten schürt». Wang sagte:

«Von der Stärkung der ‹Five Eyes› [AUS, CAN, NZL, GBR, USA] bis zur Vermarktung der QUAD [AUS, IND, JPN, USA], von der Zusammenstellung von AUKUS [AUS, GBR, USA] bis zur Verschärfung bilateraler Militärbündnisse inszenieren die USA eine ‹Fünf-Vier-Drei-Zwei›-Formation im asiatisch-pazifischen Raum.»

Die Gegenstrategie der chinesischen Diplomatie wird darin bestehen, «die kleinen, spaltenden Kreise» zu schwächen, die die USA in der Region schaffen, indem sie eine breite, integrative Plattform befreundeter, kooperativer regionaler Staaten fördern, deren Motto «eine gemeinsame Zukunft» ist. Die zentrale Bedeutung der ASEAN [Verband südostasiatischer Nationen] liegt auf der Hand.

Aus indischer Sicht fällt auf, dass die chinesische Diplomatie einen versöhnlichen Ton angeschlagen hat. China ist sich der Bemühungen der USA bewusst, die Beziehungen zwischen Indien und China zu verschlechtern. China erwartet eindeutig, dass Indien einen unabhängigen Kurs einschlägt.

Wang berief sich auf ein indisches Sprichwort: «Hilf dem Boot deines Bruders hinüber, und dein eigenes wird das Ufer erreichen.» Die chinesischen Bedenken bestehen darin, dass die indische Führung vom strategischen Konsens Abstand genommen hat, der bei verschiedenen Gipfeltreffen (vor Indiens abenteuerlichen Vorstössen in chinesisches Territorium in Doklam im Jahr 2017) erreicht wurde – dass die beiden Länder füreinander «keine Bedrohung darstellen, sondern sich gegenseitig Entwicklungschancen bieten»; dass sie «weiterhin gegenseitiges Vertrauen aufbauen, Missverständnisse und Fehleinschätzungen vermeiden, so dass wir Partner für den gemeinsamen Erfolg statt Gegner der gegenseitigen Zermürbung sein werden.»

Wang sprach eher mit Enttäuschung als mit Verbitterung, gespickt mit Resthoffnungen. Paradoxerweise sucht China, das heute international besser dasteht als je zuvor, immer noch nach einer gemeinsamen Basis mit Indien. Von dem anklagenden Ton, den Wang Japan gegenüber an den Tag legte, ist nichts zu spüren. Der Kontrast könnte nicht schärfer sein.

Nach dem Ukraine-Konflikt ist zu erwarten, dass sich die indopazifische Strategie der USA in gewisser Weise auflöst, da ihre europäischen Verbündeten es zunehmend vorziehen, eigene Wege in Richtung Peking einzuschlagen. Es ist denkbar, dass sich die USA mit ihren drei asiatischen Untergebenen auf der Quad-Plattform zusammenraufen werden.

Washington sieht den Nachtflug des japanischen Premierministers Kishida nach Delhi von nächster Woche als Versuch, Indien unter Druck zu setzen. Japan ist im Gleichschritt mit der Biden-Administration zu einer übermässig feindseligen Haltung gegenüber Russland übergegangen – es hat sogar Sanktionen gegen das persönliche Vermögen von Präsident Putin verhängt! Japan befürchtet, dass die Niederlage der USA und der NATO einen verheerenden Schlag für sein strategisches Kalkül bedeutet. Kishida wird versuchen, Japans Isolation abzumildern, indem er die indische Führung dazu verleitet, sich von China und Russland fernzuhalten.

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/chinas-signposts-post-ukraine/, 9. März 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/zxxx_662805/202203/t20220308_10649559.html

2 https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/zxxx_662805/202203/t20220308_10649839.html

3 http://en.kremlin.ru/supplement/5770

Zurück