Chinesisch-russische Absprachen über Taiwan und Ukraine scheinen unwahrscheinlich, sind es aber nicht

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M. K. Bhadrakumar
(Bild zvg)

by M. K. Bhadrakumar*

(30. November 2021) Das virtuelle Treffen1 zwischen Präsident Joe Biden und Präsident Xi Jinping
am Dienstag [16. November] lässt das amerikanisch-russische Gipfeltreffen im Juni in Genf in den Hintergrund treten. Bidens Gespräche mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zielten offenbar darauf ab, eine «stabile und berechenbare» Beziehung zu Russland zu schaffen, doch heute ist von Krieg die Rede.

Am Dienstag sagte Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan während eines Briefings über den Gipfel, dass die USA und gleichgesinnte Partner die «Regeln zur Förderung ihrer Interessen und Werte» aufstellen und China zurückdrängen würden.

Am Donnerstag gab Biden bekannt, dass er einen diplomatischen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking erwägt.

Am Freitag kündigte das US-Aussenministerium an, dass heute ein US-Taiwan Economic Prosperity Partnership Dialogue zur Stärkung der handelspolitischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit stattfinden wird, und betonte, dass Taiwan ein ernsthafter Krisenherd in den Beziehungen zwischen den USA und China bleiben wird und die Regierung Biden die militärische und technologische Zusammenarbeit mit Taipeh verstärken werde.

Am Samstag bekräftigte der Leiter des US-Kommandos für den indopazifischen Raum, Admiral John Aquilino, Amerikas Engagement für eine freie und offene indopazifische Region und betonte gegenüber den Verbündeten die Dringlichkeit, die zunehmenden Spannungen mit China und dessen militärische Aktionen anzugehen.

Hochrangige Beamte des Weissen Hauses haben Peking seitdem aufgefordert, sich an die «Verkehrsregeln» zu halten.

Am Freitag kam Chinas Antwort. Qin Gang, Botschafter in den USA, stellte unverblümt das Mandat der USA in Frage, dass Peking sich an die vom Weissen Haus aufgestellten «Verkehrsregeln» halten solle, und beschuldigte die USA, eine neue «Berliner Mauer» errichten zu wollen, um China einzudämmen.2

Im Vergleich dazu hatte der Biden-Putin-Gipfel in Genf eine längere Haltbarkeitsdauer. Dennoch warnen die USA jetzt ihre Verbündeten,3 dass Russland auf einen Krieg in der Ukraine zuzusteuern scheine.

Auf diplomatischer Ebene besteht das Ziel der Regierung Biden darin, «Leitplanken» zu errichten, um zu verhindern, dass die bilateralen Spannungen zu einem Konflikt mit China oder Russland eskalieren. In Wirklichkeit würden diese «Leitplanken» jedoch als einseitige Einschränkung Chinas und Russlands gegenüber den Interessen der USA wirken.

Das ist ein Rezept für Misstrauen und Feindschaft. Sourabh Gupta, ein ranghoher Mitarbeiter des Institute for China-America Studies in Washington, bezeichnete das Paradigma treffend als «à la carte-Transaktionalismus», der einer echten Zusammenarbeit ausweicht.

Es liegt auf der Hand, dass sich weder China noch Russland mit einer solch chaotisch verwalteten Koexistenz zufrieden geben werden, denn Taiwan und die Ukraine sind existenzielle Fragen. Irgendwann werden sie die USA herausfordern. Die derzeitigen Spannungen in der Ukraine sind ein Beispiel dafür.

Die USA wenden die Salamitaktik an, die schrittweise provoziert und Peking und Moskau auf eine harte Probe stellt. Sie stossen ständig an ihre «roten Linien», um vor Ort neue Fakten zu schaffen.

Satellitenbild eines russischen Militärlagers in Jelzin mehr als
500 km von der ukrainischen Grenze entfernt. Damit unterstellten die
USA Moskau Invasionspläne, um die Beteiligung der NATO
zu rechtfertigen. (Quelle www.indianpunchline.com)

Ein führender russischer Experte, Professor Glenn Diesen, schrieb letzte Woche: «Rote Linien dienen der Abschreckung. Der Zweck, sie zu ziehen, besteht in erster Linie darin, entscheidende Sicherheitsinteressen und die schwerwiegenden Konsequenzen zu kommunizieren, die sich ergeben würden, wenn sie untergraben werden. Im Wesentlichen sollen Moskaus Ultimaten den Westen davon abhalten, eine gefährliche Fehleinschätzung vorzunehmen».

Er erklärte: «Abschreckung beruht auf drei Begriffen: Fähigkeit, Glaubwürdigkeit und Kommunikation. Russland ist militärisch fähig zu handeln, wenn seine roten Linien überschritten werden, es hat seine Glaubwürdigkeit in Bezug auf seine Bereitschaft, auf Drohungen zu reagieren, unter Beweis gestellt, und es weiss, dass die Einzelheiten klar kommuniziert werden müssen, damit der Westen keine Fehltritte begeht, die eine energische Reaktion erfordern würden. Die Schwäche der roten Linien besteht jedoch darin, dass es derzeit an Details mangelt, was passieren würde, wenn eine andere Nation einen Schritt zu weit geht.»

Prof. Diesen publizierte seine Stellungnahme in dem vom Kreml finanzierten Sender RT kurz nach den eindringlichen Äusserungen von Präsident Wladimir Putin am 18. November in Moskau über die «roten Linien» in der Ukraine.4

Was die USA in Taiwan tun, ist fast das Gleiche wie in der Ukraine. Sowohl in Taiwan als auch in der Ukraine haben die USA «Stolperdrähte» in Form des Einsatzes von Spezialkräften gelegt, um die «rote Linie» zu verschleiern. Und in beiden Fällen greifen die USA auf die schleichende Salamitaktik zurück: «Eroberung durch Abschneiden dünner Scheiben. Keine Aktion ist so schlimm, dass sie als Kriegsgrund gelten könnte, aber eines Tages dreht man sich um und stellt fest, wie viel Boden man schon verloren hat», schrieb Prof. Diesen.5

Moskaus Geduld ist erschöpft. Im Grunde kann und will Moskau folgendes nicht mehr akzeptieren:

• die Unterstützung der USA für Kiews Aufkündigung der Minsker Vereinbarungen;

• die Ermutigung revanchistischer Stimmungen in der Ukraine durch den Westen;

• den Fahrplan des Westens, die Ukraine in einen «antirussischen» Staat zu verwandeln;

• die Intensivierung der militärischen Unterstützung für die Ukraine;

• die Stationierung von US-Streitkräften in der Ukraine und im Schwarzen Meer; und

• das aktive Engagement der NATO in der Ukraine und ihre Präsenz im Schwarzen Meer.

Putin hatte gehofft, dass Biden die Sorgen Russlands wahrnehmen würde, aber es gab keine Kurskorrektur und der alte Ansatz wird mit Nachdruck weiterverfolgt. Aus russischer Sicht macht es die US-Politik Moskau unmöglich, normale Beziehungen zu Kiew zu unterhalten, und führt unweigerlich zur Schaffung eines antirussischen Staates direkt an seiner Westgrenze.

Interessanterweise hat Putin in seinen Ausführungen auch die zentrale Bedeutung der chinesisch-russischen Quasi-Allianz angesprochen. Er sagte: «Einige unserer westlichen Partner versuchen ganz offen, einen Keil zwischen Moskau und Peking zu treiben. Dessen sind wir uns sehr wohl bewusst. Gemeinsam mit unseren chinesischen Freunden werden wir weiterhin auf solche Versuche reagieren, indem wir unsere politische, wirtschaftliche und sonstige Zusammenarbeit ausbauen und unsere Schritte auf der Weltbühne koordinieren.» Das chinesische Aussenministerium begrüsste Putins Äusserungen.

Am 19. November führten China und Russland eine gemeinsame strategische Luftpatrouille im Japanischen Meer und im Ostchinesischen Meer durch. An der mehr als zehnstündigen Patrouille nahmen je zwei nuklearfähige Bomber der russischen und der chinesischen Seite teil. Tass betonte, dass Putin darüber informiert worden sei.

In der gemeinsamen Pressemitteilung heisst es unter anderem, dass die Patrouille darauf abziele, «das Niveau der strategischen Koordination und der gemeinsamen operativen Fähigkeiten beider Seiten zu erhöhen und gemeinsam die globale strategische Stabilität zu schützen».6

Für China und Russland sind Taiwan und die Ukraine existenzielle Fragen. Peking kann es sich nicht leisten, dass Taiwan zum Bestandteil eines von den USA geführten Cordon sanitaire wird. Auch Moskau kann sich eine ähnliche Situation an seiner West- und Südgrenze nicht leisten. (Letzte Woche sprach der NATO-Generalsekretär offen über die Stationierung von Atomwaffen in Osteuropa.)

Man kann davon ausgehen, dass Russland die aktuellen Entwicklungen nicht stoisch hinnehmen wird. Was passiert dann? Der Kreml hat vor dem Ernst der sich entwickelnden Situation gewarnt.7

In der Tat spricht hier niemand von einer chinesisch-russischen «Absprache». Es ist auch nicht so, dass es für Moskau oder Peking nur darum geht, einen Krieg zu führen oder nicht. Sowohl China als auch Russland könnten immer noch einen proaktiven Ansatz verfolgen, um ihre Ziele zu erreichen.

In Peking wären Massnahmen gegen Provokationen der taiwanesischen Unabhängigkeitskräfte denkbar. Auch für Moskau gibt es Optionen, die über eine Invasion in der Ukraine hinausgehen. Tatsache ist, dass beide Länder Optionen in ihrem Werkzeugkasten haben, die bisher noch nicht genutzt wurden.

Es ist jedoch ein völlig neues Szenario, wenn das «Aktion-Reaktion»-Syndrom im Fernen Osten und in Osteuropa gleichzeitig auftritt. Es sind verschiedene Variablen im Spiel, aber ein Szenario der Gleichzeitigkeit kann für die USA geopolitisch im westlichen Pazifik und weltweit keine günstigen Folgen haben. Vielmehr könnte die Welt ein ganz anderes Gesicht bekommen.

Wenn Peking tatenlos zusieht, wie Russland in der Ukraine «verliert», werden die USA nur ermutigt, und Chinas Fähigkeit, gegen die US-Hegemonie vorzugehen, wird geschwächt. Wenn die USA wiederum im Fernen Osten triumphieren, wird Washington Russland eine Neuordnung der globalen strategischen Stabilität zu seinen Bedingungen aufzwingen, koste es, was es wolle.

Taiwan und die Ukraine sind in der Tat an den Hüften verbunden [wie siamesische Zwillinge], und für Russland und China steht ausserordentlich viel auf dem Spiel.

Quelle: https://www.indianpunchline.com/sino-russian-collusion-over-taiwan-ukraine-seems-improbable-but-isnt/, 22. November 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

1 https://asiatimes.com/2021/11/us-china-commence-responsible-competition/

2 http://www.china-embassy.org/eng/zmgxss/202111/t20211119_10450618.html

3 https://www.cbsnews.com/news/us-officials-warn-possible-russian-military-incursion-into-ukraine/

4 https://tass.com/world/1363417

5 https://www.rt.com/russia/540853-red-lines-nato-war/

6 https://www.globaltimes.cn/page/202111/1239423.shtml

7 https://tass.com/world/1364263

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