Das «Grosse Spiel» in der Ukraine offenbart sich nun in Transkaukasien

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(9. August 2022) Wenn die Metapher des «Grossen Spiels» auf die Ukraine-Krise angewendet werden kann, in deren Mittelpunkt die Ausweitung der «Nordatlantikvertrags-Organisation» (Nato) steht, hat sie begonnen, im gesamten eurasischen Raum Widerhall zu finden. Das «Grosse Spiel», das in den letzten Jahren im Kaukasus und in Zentralasien im Verborgenen lauerte, beschleunigt sich zusehends.

Im Mittelpunkt des «Spiels» steht vor allem die Ausrichtung der USA auf Russland und China. Dieses «Spiel» darf nicht unterschätzt werden, denn sein Ausgang kann sich auf die Gestaltung eines neuen Modells der Weltordnung auswirken.

The Great Game oder Das Grosse Spiel

(Red.) Als «The Great Game» oder «Das Grosse Spiel» wird der historische Konflikt zwischen Grossbritannien und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien bezeichnet. Er dauerte von 1813 (nach dem Rückzug von Napoleons Grande Armée aus Russland) bis zum Vertrag von Sankt Petersburg im Jahr 1907. Im frühen 20. Jahrhundert prägten Rudyard Kipling und Halford Mackinder diesen Begriff mit ihren Publikationen.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird von einem «neuen Great Game» gesprochen. Gemeint ist damit die konfliktbeladene Situation zwischen den USA, die seit drei Jahrzehnten mit allen Mitteln versuchen in Eurasien ihren Einfluss auszuweiten und Russland und China, die in diesen Regionen ihre eigenen Interessen verfolgen.

Die Präsidenten von Russland, Turkmenistan, Aserbaidschan, Iran und Kasachstan
(im Uhrzeigersinn von links) nahmen am 6. Kaspischen Gipfeltreffen teil, Ashgabat,
29. Juni 2022 (Bild en.kremlin.ru)

Seit dem Kaspischen Gipfel in Aschgabat [Hauptstadt Turkmenistans] am 29. Juni werden die miteinander verknüpften Schablonen des «Grossen Spiels» im Kaukasus immer deutlicher. Die Tatsache, dass das Gipfeltreffen trotz des tobenden Ukraine-Konflikts überhaupt anberaumt wurde – und dass der russische Präsident Wladimir Putin sich die Zeit nahm, daran teilzunehmen –, zeugte von der grossen Bedeutung der Veranstaltung.

Kaspisches Meer: Ausschluss aller ausserregionalen Mächte

Im Grunde genommen haben die Präsidenten der fünf Anrainerstaaten des Kaspischen Meers – Kasachstan, Iran, Turkmenistan, Aserbaidschan und Russland – ihre Uhren auf der Grundlage des Übereinkommens über den Rechtsstatus des Kaspischen Meeres1 (der Verfassung des Kaspischen Meeres) synchronisiert, das auf ihrem letzten Gipfel 2018 unterzeichnet wurde. Dabei wurden die aktuelle internationale Lage und die geopolitischen Prozesse weltweit berücksichtigt.

So war einer der wichtigsten Punkte des Schlusskommuniqués des Gipfels von Aschgabat2 die Wiederholung eines grundlegenden Prinzips bezüglich des vollständigen Ausschlusses der Streitkräfte aller ausserregionalen Mächte vom Kaspischen Meer (was in erster Linie den geopolitischen Interessen Russlands und Irans entspricht).

Die Tatsache, dass die Staats- und Regierungschefs der kaspischen Länder dies schriftlich bestätigten, kann als wichtigstes Ergebnis des Gipfels angesehen werden.

Zweitens konzentrierten sich die Staats- und Regierungschefs auf die kaspischen Verkehrsverbindungen und kamen überein, dass die Region zu einem Knotenpunkt für die Ost-West- und Nord-Süd-Korridore werden könnte.

Das kaspische Gipfeltreffen fand nur fünf Wochen nach der Einnahme der Hafenstadt Mariupol (21. Mai) durch die russischen Streitkräfte statt, die damit ihre vollständige Vorherrschaft über das Asowsche Meer und die Strasse von Kertsch im Osten der Krim festigten. Die Strasse von Kertsch spielt in der russischen Politik eine strategische Rolle, denn sie ist das schmale Tor (5 km lang und an der engsten Stelle 4,5 km breit), das das Schwarze Meer über das Asowsche Meer mit den wichtigsten russischen Wasserstrassen wie dem Don und der Wolga verbindet.

Vereinigtes Tiefwasserstrassensystem des europäischen Russlands,
das das Asowsche und das Kaspische Meer mit der Ostsee und der
nördlichen Seeroute
verbindet. (Bilder zvg)

Strasse von Kertsch: Seetransit von Süd nach Nord

Die Befreiung der Stadt Mariupol durch die russischen Streitkräfte ist für die Geopolitik der gesamten eurasischen Landmasse von entscheidender Bedeutung, da die Strasse von Kertsch den Seetransit vom Schwarzen Meer bis nach Moskau und St. Petersburg gewährleistet, ganz zu schweigen von der strategischen Seeroute zwischen dem Kaspischen Meer (über den Wolga-Don-Kanal), dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer.

Um das Gesamtbild zu verstehen, muss man bedenken, dass die Wolga auch das Kaspische Meer mit der Ostsee und der nördlichen Seeroute (über die Wolga-Baltikum-Wasserstrasse) verbindet. Es wird offensichtlich, dass Russland die Kontrolle über ein integriertes System von Wasserstrassen erlangt hat, das das Schwarze und das Kaspische Meer mit der Ostsee und der Nördlichen Seeroute verbindet (eine 4800 km lange Schifffahrtsroute, die den Atlantik mit dem Pazifik verbindet und an den russischen Küsten Sibiriens und des Fernen Ostens vorbeiführt).

Zweifellos handelt es sich um eine gewaltige Konsolidierung des so genannten «Kernlandes» – gemäss Sir Halford Mackinders Theorie (1904), dass derjenige, der Osteuropa kontrolliert, auch das Kernland kontrolliert und die «Weltinsel» beherrscht.

Rückblickend steht also ausser Frage, dass die Wiedervereinigung der Krim mit der Russischen Föderation im Jahr 2014 ein grosser Rückschlag für die USA und die Nato war. Putin hat Washington und seine Verbündeten völlig überrascht. Er erschwerte ihr Ziel, die Ukraine in die Nato zu integrieren.

Kontrolle des Zugangs zum Dnjepr

Die USA wurden zum zweiten Mal überrumpelt, als russische Truppen in den ersten Tagen der aktuellen militärischen Sonderoperation, als alle westlichen Augen auf die Region Kiew gerichtet waren, bereits am 2. März die hochstrategische südliche Stadt Cherson einnahmen.

Die Bedeutung dieses Ereignisses wurde nur von denjenigen verstanden, die in dem «Grossen Spiel», das sich in der Ukraine abspielt, mehr als nur einen militärischen Konflikt sahen. (Die meisten Amerikaner haben es immer noch nicht verstanden.)

Die Einnahme von Cherson Anfang März bedeutete praktisch den Untergang für das Vorhaben der Nato, ihre militärische Präsenz im Schwarzmeerraum auszuweiten. Heute ist das «Spiel» für die USA und die Nato praktisch vorbei, nachdem Russland die Kontrolle über das gesamte Becken des Asowschen Meeres übernommen hat. Russland kontrolliert nun de facto den Zugang des Dnjepr zum und vom Schwarzen Meer. Und der Dnjepr ist zufällig der wichtigste Flussweg für die Transportverbindungen der Ukraine zum Weltmarkt.

Unmittelbar östlich der Strasse von Kertsch liegt die russische Region Krasnodar, die sich nach Süden bis zu Russlands grösstem Handelshafen am Schwarzen Meer, Noworossijsk, erstreckt, wo sich die wichtigsten Öl- und Gaspipelines zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer kreuzen.

Durch die Kontrolle der Strasse von Kertsch hat Russland ein grosses Mitspracherecht bei den Transportwegen, die West- und Osteuropa mit dem Kaspischen Becken, Kasachstan und China verbinden. Anders ausgedrückt: Dieser Teil der russischen militärischen Sonderoperation wird zu einem integralen Bestandteil von Moskaus eurasischem Projekt, das an Chinas Belt and Road-Initiative anknüpft.

Westliche Allianz wurde überlistet

Washington hat mit Verspätung begriffen, dass Russland die westliche Allianz überlistet und die Oberhand im «Grossen Spiel» in der östlichen Schwarzmeerregion gewonnen hat. Daher wird die westliche Strategie gegenüber dem Kaukasus und Zentralasien überarbeitet. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat für heute [19. Juli] in Brüssel ein Treffen mit dem Aussenminister von Aserbaidschan, Jeyhun Bayramov, angesetzt.

Bayramov nahm gleichentags auch an einer Sitzung des Kooperationsrates EU-Aserbaidschan in Brüssel teil. Der Chef der EU-Aussenpolitik, Josep Borrell, sagte später auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bayramov: «Aserbaidschan ist ein wichtiger Partner für die Europäische Union, und unsere Zusammenarbeit wird intensiviert.» Unterdessen besuchte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, gestern [18. Juli] Baku, um mit Aserbaidschan eine Absichtserklärung über die Zusammenarbeit im Energiebereich zu unterzeichnen.3

All dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, die Bemühungen um eine Vermittlung zwischen den Erzrivalen Aserbaidschan und Armenien anführt. Im Rahmen der diplomatischen Bemühungen der EU war Michel im April Gastgeber eines Treffens zwischen dem aserbaidschanischen Präsidenten Alijew und dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan in Brüssel, bei dem beide Seiten ihre Bereitschaft zu einem Friedensabkommen bekundeten.

Letzte Woche stattete der CIA-Direktor William Burns in diesem Zusammenhang der armenischen Hauptstadt Eriwan einen nicht angekündigten Besuch ab. Offensichtlich arbeiten Washington und Brüssel gemeinsam an einem Plan, um Russland und die Türkei, die bisher die Führungsrolle in Transkaukasien übernommen haben, abzulösen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Moskau die synchronisierten Schritte der USA, der EU und der Nato im Kaukasus genau beobachtet. Denn sie zielen auf Aserbaidschan ab, um Russlands Konsolidierung in der Schwarzmeerregion und am Kaspischen Meer zu untergraben, denn diese stellt ein gewaltiges Hindernis für das Vorankommen der Nato-Strategien in Richtung Zentralasien und Xinjiang dar. Da steht sehr viel auf dem Spiel.

Aserbaidschan wird Schlüsselrolle spielen

Es sei daran erinnert, dass Putin am 22. Februar, nur zwei Tage vor dem Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine, den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew im Kreml empfing. Sie unterzeichneten «eine weitreichende Vereinbarung»,4 deren Einzelheiten nicht bekannt gegeben wurden. Das Dokument trägt den Titel Declaration on Allied Interaction.

Es liegt auf der Hand, dass das ölreiche Aserbaidschan, das nicht nur ein Anrainerstaat des Kaspischen Meeres, sondern auch ein Tor zu Zentralasien und zur russischen Wolgaregion ist, in der kommenden Zeit eine Schlüsselrolle im «Grossen Spiel» haben wird.

*    M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/ukraines-great-game-surfaces-in-transcaucasia/, 19. Juli 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 http://en.kremlin.ru/supplement/5328

2 http://casp-geo.ru/16253-2/

3 https://eurasianet.org/azerbaijan-and-eu-agree-to-strategic-energy-partnership

4 http://en.kremlin.ru/events/president/news/67830/photos/67669

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