Der erste Jahrestag des Ukraine-Kriegs und darüber hinaus

M. K. Bhadrakumar
(Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(7. Februar 2023) Am 24. Februar jährt sich der erste Jahrestag der russischen Militäroperation in der Ukraine. Die russische Strategie des Zermürbungskrieges hat zwar noch nicht das gewünschte politische Ergebnis gebracht, war aber dennoch ein Erfolg.

Die wahnhafte «westliche» Vorstellung der Moskauer Elite, Russland könne ein Dialogpartner des Westens sein, hat sich gründlich verflüchtigt, als Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel vor kurzem verblüffend erklärte, die Verhandlungen des Westens mit Russland über das Minsker Abkommen seien ein «Versuch, der Ukraine Zeit zu geben um aufzurüsten», und Kiew habe diese genutzt, «um stärker zu werden».

Moskau reagierte mit Bitterkeit und dem Gefühl der Demütigung, dass die russische Führungselite an der Nase herumgeführt worden war. Diese Erkenntnis wirkt sich auf den Ukraine-Konflikt aus, der nun in sein zweites Jahr geht. So ist die Annexion der vier ukrainischen Regionen Donezk und Lugansk [Donbass], Saporoschje und Cherson sowie der Krim, die etwa ein Fünftel des ukrainischen Territoriums ausmachen, nun eine vollendete Tatsache, und die Anerkennung dieser Tatsache durch Kiew ist eine Voraussetzung für künftige Friedensgespräche.

Der anfängliche Optimismus Moskaus im Februar/März, dass «die höchste Kunst des Krieges darin besteht, den Feind zu unterwerfen, ohne zu kämpfen» (Sun Tzu), ist ebenfalls der Einsicht gewichen, dass die Biden-Administration den Krieg nicht so schnell beenden wird, bevor Russland nicht ausgeblutet und geschwächt ist. Dies führte zum Rückzug der Russen aus den Regionen Charkow und Cherson, um eine gut befestigte Verteidigungslinie aufzubauen und sich einzugraben.

Putin akzeptierte schliesslich die Forderung der Armeekommandeure nach einer Teilmobilisierung. Durch den daraufhin erfolgten Grosseinsatz in der Ukraine und die Aufrüstung in Weissrussland befindet sich Russland zu Beginn des zweiten Kriegsjahres erstmals in einer militärisch überlegenen Position.

Der Kreml hat die notwendigen Mechanismen geschaffen, um die Rüstungsindustrie und die Wirtschaft zu mobilisieren, damit sie den Anforderungen der militärischen Operationen in der Ukraine gerecht werden. Langfristig gesehen wird ein historisches Ergebnis des Konflikts darin bestehen, dass Russland zu einer unangreifbaren Militärmacht wird, die den Vergleich mit der Roten Armee der Sowjetunion nicht scheuen muss und gegen die der Westen nie wieder anzutreten wagen wird. Das muss sich jedoch erst noch einspielen.

Heute [24. Januar] erklärte der Generalstabschef General Waleri Gerassimow in einem aussergewöhnlichen Interview mit der Zeitschrift Argumenti i Fakti,1 dass der neu verabschiedete Entwicklungsplan der Streitkräfte den Schutz der Souveränität und der territorialen Integrität Russlands gewährleisten und «die Voraussetzungen für Fortschritte in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes schaffen» werde.

Nach dem von Putin genehmigten Plan werden die Militärbezirke Moskau und Leningrad neu geschaffen, drei motorisierte Gewehrdivisionen in den (im September annektierten) Oblasten Cherson und Saporoschje gebildet und ein Armeekorps in der nordwestlichen Region Karelien an der Grenze zu Finnland aufgestellt.

Die interne westliche Einschätzung lautet, dass der Krieg für die Ukraine schlecht läuft. Der Spiegel berichtete letzte Woche, dass der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) «in dieser Woche Sicherheitspolitiker des Bundestages in einer geheimen Sitzung darüber informiert hat, dass die ukrainische Armee derzeit täglich eine dreistellige Zahl von Soldaten in Gefechten verliert».

Der BND teilte den Bundestagsabgeordneten mit, er sei besonders «beunruhigt über die hohen Verluste der ukrainischen Armee im Kampf um die strategisch wichtige Stadt Bakhmut» (in Donezk) und warnte, dass «die Einnahme von Bakhmut durch die Russen erhebliche Konsequenzen hätte, da sie Russland weitere Vorstösse ins Landesinnere ermöglichen würde».

In einem Reuters-Bericht2 wird ein hochrangiger Beamter der Biden-Administration zitiert, der am Freitag vor einer kleinen Gruppe von Reportern in Washington sagte, es bestehe «eine hohe Wahrscheinlichkeit», dass die Russen die Ukrainer aus Bakhmut vertreiben würden, das von westlichen Militärexperten als «Dreh- und Angelpunkt» der gesamten ukrainischen Verteidigungslinie im Donbass bezeichnet wurde.

Andererseits hofft die Biden-Administration, bis zum Frühjahr Zeit zu gewinnen, um das zerschlagene ukrainische Militär wieder aufzurüsten und mit modernen Waffen auszustatten. Die alten Waffenbestände aus der Sowjetzeit sind erschöpft, und die Ukraine muss künftig mit Waffen beliefert werden, die in den Nato-Ländern im Einsatz sind. Das ist leichter gesagt als getan, und die westliche Rüstungsindustrie wird Zeit brauchen, um die Produktion wieder aufzunehmen.

All die Prahlerei, dass Kiew eine Offensive vorbereitet, um die Russen aus der Ukraine zu vertreiben, hat sich in Luft aufgelöst. Die Anzeichen deuten darauf hin, dass eine russische Offensive an der südlichen Front begonnen haben könnte, die stetig auf die Stadt Saporoschje, ein wichtiges Industriezentrum der Ukraine, vorrückt.

Diese Offensive hätte weitreichende Folgen. Die Eroberung der verbleibenden 25% des Gebiets in der Oblast Saporoschje, die noch unter der Kontrolle Kiews steht, würde die Landbrücke zwischen der Krim und dem russischen Hinterland für eine ukrainische Gegenoffensive uneinnehmbar machen und die russische Kontrolle über die Häfen am Asowschen Meer (die das Kaspische Meer mit dem Schwarzen Meer und dem Wolga–Don-Schifffahrtskanal, der nach St. Petersburg führt, verbinden) stärken, abgesehen davon, dass der gesamte ukrainische Militäraufmarsch im Donbass und in den Steppen auf der Ostseite des Dnjepr dramatisch geschwächt würde.

Während der Krieg in das zweite Jahr geht, arbeitet der Westen daher fieberhaft an Plänen, unter Führung der Biden-Administration bis zum Frühjahr schwere Panzer an das ukrainische Militär zu liefern, darunter auch deutsche Leopard-Panzer. Sollte dies geschehen, wird Russland mit Sicherheit mit Angriffen auf Versorgungswege und Lagerhäuser in der Westukraine zurückschlagen.

Am Donnerstag warnte Dmitri Medwedew, der Putin nahestehende ehemalige russische Präsident und stellvertretende Vorsitzende des mächtigen Sicherheitsrats, ausdrücklich: «Atommächte haben noch nie grosse Konflikte verloren, von denen ihr Schicksal abhängt.»

Allerdings gibt es auch mildernde Faktoren. Erstens zwingen die Ergebnisse von Davos 2023 und des Treffens der Nato-Verteidigungsminister am Freitag [20. Januar] in Ramstein sowie die parteiübergreifenden Streitigkeiten in Washington, unter anderem über den US-Staatshaushalt und die Schuldenobergrenze der USA, die Biden-Administration zu einer Entscheidung zwischen einer riskanten Fortsetzung der Konfrontation mit Russland oder einer Verlangsamung des durch die Ukraine verlaufenden «gravy train» [= der Möglichkeit, schnell, einfach und oft unehrlich Geld zu verdienen], und mit dem Rückzug aus dem Projekt die Gewinne zu sichern. Für das Zelensky-Regime bedeutet dies, dass die schönen Dinge des Lebens zu Ende gehen könnten.

Letzte Woche veröffentlichte die einflussreiche russische Tageszeitung Iswestija einen prägnanten Aufsatz von Viktor Medwedtschuk,3 dem langjährigen ukrainischen Parlamentsabgeordneten und Oligarchen-Politiker (der derzeit in Moskau lebt), in dem er feststellt, dass «der Prozess» mit der Auflösung des Kiewer Regimes «begonnen hat».

Medwedtschuk erinnert uns «an einen interessanten Trend» in der ukrainischen Politik. Präsident Poroschenko hatte den Friedensschluss mit Russland innerhalb einer Woche versprochen, aber als er an der Macht war, erfüllte er die Minsker Vereinbarungen nicht und «verlor die nächste Wahl kläglich». Er wurde von Wolodymyr Zelensky abgelöst, der ebenfalls eine Einigung mit Russland im Donbass versprach, stattdessen aber «die Personifizierung des Krieges» wurde. Das heisst, «dem ukrainischen Volk wird Frieden versprochen, und dann wird es betrogen». Die westliche Presse hat die Tatsache unter den Teppich gekehrt, dass Zelenskys Unterstützerbasis klein ist und es eine schweigende Mehrheit gibt, die sich nach Frieden sehnt.

Der Tod von Innenminister Denys Monastyrsky, einem langjährigen Berater Zelenskys, und seines ersten Stellvertreters Jewgeni Enin bei einem Hubschrauberabsturz in Kiew vor einer Woche unter mysteriösen Umständen wirft Fragen auf, da die ukrainischen Neonazi-Milizen von seinem Ministerium aus operieren. Nur einen Tag zuvor war überraschend der Rücktritt von Zelenskys Top-Berater Alexey Arestowitsch bekannt geworden, weil er das ukrainische Militär verunglimpft haben soll.

In Fernsehinterviews äusserte Arestowitsch seither seine Zweifel an der Kriegsführung. Hinzu kommt die Ermordung von Denis Kireev, der ein wichtiger Teilnehmer an den Friedens-
gesprächen mit Russland im März war. Nach Korruptionsvorwürfen kam es heute zu einer grösseren personellen Umstrukturierung,4 von der ein stellvertretender Generalstaatsanwalt, der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes, der stellvertretende Verteidigungsminister und bisher fünf Regionalgouverneure betroffen waren.

Abgesehen von diesen Unwägbarkeiten in Kiew gibt es noch einen weiteren Faktor: die Innenpolitik der USA, derweil sich das Wahljahr 2024 nähert. Die Republikaner bestehen auf einer Überprüfung der Dutzende von Milliarden Dollar, die für die Ukraine ausgegeben wurden – allein 110 Milliarden Dollar an Militärhilfe – und machen die Regierung Biden rechenschaftspflichtig. Der CIA-Chef William Burns stattete Kiew einen nicht angekündigten Besuch ab, angeblich um die Botschaft zu übermitteln, dass die US-Waffenlieferungen über den Juli hinaus problematisch werden könnten.

Andererseits häufen sich die Enthüllungen über Präsident Bidens Umgang mit geheimen Dokumenten, die möglicherweise sensibles Material über die Ukraine enthalten. Es ist noch zu früh, aber die 13-stündige FBI-Durchsuchung seines Wohnsitzes in Delaware am Freitag [20. Januar] wirft neue Fragen zur Transparenz des Weissen Hauses in dieser Angelegenheit auf. Neue Entwicklungen im Dokumentenskandal könnten Bidens Unterstützung schmälern, jetzt wo er sich darauf vorbereitet, seine Wiederwahl anzukündigen.

Alles in allem kann man Medwedtschuks Prognose zustimmen, dass sich der Ukraine-Konflikt im zweiten Jahr seines Bestehens «entweder weiter ausbreiten und auf Europa und andere Länder übergreifen oder er wird lokalisiert und gelöst werden».

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/ukraine-wars-first-anniversary-and-beyond, 24. Januar 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://aif.ru/society/army/glava_genshtaba_takogo_urovnya_voennyh_deystviy_sovremennaya_rossiya_ne_znala

2 https://www.reuters.com/world/europe/us-officials-advise-ukraine-wait-offensive-official-says-2023-01-20/

3 https://iz.ru/1454275/viktor-medvedchuk/ukrainskii-sindrom-anatomiia-sovremennogo-voennogo-protivostoianiia

4 https://nypost.com/2023/01/24/top-zelensky-aide-9-other-other-ukrainian-officials-resign/

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