Steigende Spannungen (25)

Der Todeskampf des Westens

Thierry Meyssan (Bild réseau voltaire)

von Thierry Meyssan*

(29. Juli 2022) Sergej Lawrow pflegte den Westen mit einem verletzten Raubtier zu vergleichen. Seiner Meinung nach sollte man es nicht provozieren, da es sonst ausrastet und alles zerstören könnte. Stattdessen solle man es zum Friedhof begleiten. Der Westen sieht das anders. Washington und London führen einen Kreuzzug gegen Moskau und Peking. Sie brüllen und sind zu allem bereit. Aber was können sie wirklich tun?

Der G7-Gipfel in Bayern und der Nato-Gipfel in Madrid sollten die westliche Bestrafung des Kremls für seine «militärische Sonderoperation in der Ukraine» verkünden. Doch während das Bild der Einheit des Westens im Vordergrund stand, zeugt die Realität von seiner Abkopplung von seinem tatsächlichen Verlust an Ansehen in der Welt und letztlich vom Ende seiner Vormachtstellung.

Während die Menschen im Westen sich einreden, dass es um die Ukraine geht, sieht die ganze Welt, wie sie in die «Thukydides-Falle» tappen.1 Werden die internationalen Beziehungen weiterhin um den Westen herum organisiert sein oder werden sie multipolar werden? Werden sich die bisher unterworfenen Völker befreien und Souveränität erlangen? Wird es möglich werden, anders zu denken als in Begriffen der Weltherrschaft um sich der Entwicklung eines jeden einzelnen zu widmen?

Der Westen hat sich ein Narrativ zur russischen «militärischen Spezialoperation» in der Ukraine ausgedacht, das seine eigenen Aktionen seit der Auflösung der Sowjetunion ignoriert.

Er hat seine Unterschrift unter der Charta für europäische Sicherheit (auch bekannt als OSZE-Erklärung von Istanbul) vergessen und die Art und Weise, wie er sie verletzt hat, indem er nacheinander fast alle ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes und einen Teil der neuen postsowjetischen Staaten zum Beitritt in die Europäische Union animierte.

Der Westen hat vergessen, wie er 2004 die ukrainische Regierung ausgetauscht hat und den Staatsstreich, durch den er im selben Jahr banderistische Nationalisten in Kiew an die Macht gebracht hat. Nachdem mit der Vergangenheit tabula rasa gemacht war, wurde Russland aller Übel beschuldigt. Der Westen weigert sich, seine eigenen Handlungen in Frage zu stellen und ist der Meinung, dass er sich damals mit Stärke durchsetzen konnte. Für ihn schaffen seine Siege neues Recht.

Um dieses imaginäre Narrativ zu bewahren, hat der Westen in seinem direkten Einflussgebiet die russischen Medien bereits zum Schweigen gebracht. Man mag zwar behaupten, «Demokrat» zu sein, aber es ist besser, abweichende Stimmen zu zensieren, bevor man anfängt zu lügen.

Der Westen geht also ohne Widersacher an den ukrainischen Konflikt heran und redet sich ein, die Pflicht zu haben, allein zu bestimmen, Russland zu verurteilen und zu sanktionieren. Durch die Erpressung kleiner Staaten ist es ihm gelungen, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution zu erwirken, der ihm Recht zu geben scheint. Er plant nun, Russland zu zerstückeln, wie er es in Jugoslawien getan hat und dies im Irak, in Libyen, Syrien und im Jemen ebenfalls versucht hat (Rumsfeld/Cebrowski-Strategie).

Um dies umzusetzen, begann der Westen, Russland von der Finanzwelt und dem Welthandel abzuschneiden. Er nahm ihm den Zugang zum SWIFT-System und zu Lloyds und hinderte Russland daran, Waren zu kaufen, zu verkaufen, sowie zu transferieren. Er dachte, er würde damit den wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands verursachen. Tatsächlich erwies sich Russland am 27. Juni 2022 als unfähig, eine Schuld von 100 Millionen US-Dollar zu begleichen, und die Ratingagentur Moody’s erklärte es für zahlungsunfähig.2

Aber dies hatte nicht die gewünschten Auswirkungen: Jedermann weiss, dass die Reserven der russischen Zentralbank voller Devisen und Gold sind. Der Kreml zahlte diese 100 Millionen Dollar ein, konnte sie aber wegen der westlichen Sanktionen nicht an den Empfänger im Westen überweisen. Sie wurden auf ein Sperrkonto einbezahlt, wo sie auf ihre Schuldner warten.

Währenddessen hat der Kreml, der nicht mehr vom Westen bezahlt wird, damit begonnen, seine Produktion, insbesondere seine Kohlenwasserstoffproduktion, an andere Käufer zu veräussern, insbesondere an China. Der Handel, der nicht mehr in Dollar getätigt werden kann, erfolgt in anderen Währungen. Infolgedessen fliessen die Dollar, die seine Kunden früher verwendet haben, in die USA zurück. Dieser Prozess begann bereits vor einigen Jahren. Doch die einseitigen Sanktionen des Westens haben ihn massiv beschleunigt.

Die riesige Dollarmenge, die sich in den USA ansammelt, verursacht einen massiven Preisanstieg. Die Federal Reserve tut alles, um ihn mit der Eurozone zu teilen. Die steigenden Preise breiten sich mit hoher Geschwindigkeit auch auf dem westeuropäischen Kontinent aus.

Die Europäische Zentralbank ist keine Organisation für wirtschaftliche Entwicklung. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Inflation in der Union zu steuern. In der Erkenntnis, dass sie den plötzlichen Preisanstieg nicht verlangsamen kann, versucht sie, ihn zu nutzen, um ihre Schulden zu reduzieren. Die Mitgliedstaaten der Union werden daher aufgefordert, durch Steuersenkungen und Freibeträge den Rückgang der Kaufkraft ihrer «Bürger» auszugleichen. Aber das ist ein endloser Kreis: Indem sie ihren Bürgern helfen, binden sie sich mit Füssen und Händen an die Europäische Zentralbank, sie ketten sich noch mehr an die US-Schulden und werden noch ärmer.

Preisanstieg im Westen sind Kosten der Kriege

Es gibt kein Heilmittel gegen diese Inflation. Es ist in der Tat das erste Mal, dass der Westen die Dollars abtragen muss, die Washington jahrelang sorglos gedruckt hat. Der Preisanstieg im Westen entspricht den Kosten der imperialen Ausgaben der vergangen dreissig Jahren. Heute und erst heute muss der Westen für seine Kriege in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und Jemen zahlen.

Bisher haben die USA all jene vernichtet, die die Dollar-Vorherrschaft bedrohten. Sie folterten und hängten den Präsidenten Saddam Hussein, der diese Vorherrschaft nicht akzeptierte und plünderten die irakische Zentralbank. Sie folterten und lynchten den Führer Muammar el-Gaddafi, der eine neue panafrikanische Währung vorbereitete und plünderten die libysche Zentralbank.

Die gigantischen Summen, die diese Ölstaaten angehäuft hatten, verschwanden spurlos. Man hat nur gesehen, wie GIs Dutzende Milliarden Dollars in grossen Müllsäcken verpackten und an Bord nahmen. Durch den Ausschluss Russlands aus dem Dollarhandel hat Washington genau das bewirkt, was es so sehr fürchtete: Der Dollar verliert seine Rolle als internationale Referenzwährung.

Die übrige Welt ist nicht blind

Die Mehrheit der übrigen Welt ist nicht blind. Sie hat gut verstanden, was vor sich geht, und drängte zum St. Petersburger Wirtschaftsforum und versuchte sich auch für den virtuellen BRICS-Gipfel anzumelden. Sie erkennt – etwas spät – dass Russland im Jahr 2016 die «Erweiterte Eurasien-Partnerschaft» ins Leben gerufen hat und dass Aussenminister Sergej Lawrow dies auf der UN-Generalversammlung im September 2018 feierlich angekündigt hatte.3

Vier Jahre lang wurden Strassen und Eisenbahnen gebaut, um Russland in das Netz der neuen, von China erdachten «Seidenstrassen» auf Land und Meer zu integrieren. So war es möglich, den Warenfluss innert wenigen Monaten umzuleiten.

Der Dollar-Rückfluss und die Verlagerung der Warenströme führen zu einem noch stärkeren Anstieg der Energiepreise. Russland, einer der grössten Kohlenwasserstoffexporteure der Welt, hat seine Einnahmen deutlich gesteigert. Seine Währung, der Rubel, war noch nie so stark. Um dem entgegenzuwirken, legten die G7 eine Preisobergrenze für russisches Gas und Öl fest. Sie wiesen die «internationale Gemeinschaft» an, keine höheren Preise zu bezahlen.

Aber Russland wird natürlich nicht zulassen, dass der Westen die Preise seiner Produkte diktiert. Diejenigen, die sie nicht zum Marktpreis beziehen wollen, werden sie nicht kaufen können und kein Kunde beabsichtigt, auf sie zu verzichten, um dem Westen zu gefallen.

Die G7 versuchen, zumindest auf intellektueller Ebene, ihre Vormachtstellung zu organisieren.4 Aber es funktioniert nicht mehr. Das Blatt hat sich gewendet. Die vier Jahrhunderte westlicher Vorherrschaft sind vorbei.

In ihrer Verzweiflung haben sich die G7 verpflichtet, die durch ihre Politik verursachte weltweite Nahrungsmittelkrise zu lösen. Die betroffenen Länder wissen, was Verpflichtungen des G7-Gipfels bedeuten. Sie warten immer noch auf den grossen Entwicklungsplan für Afrika und weitere falsche Versprechungen. Sie wissen, dass der Westen keinen Stickstoffdünger herstellen kann und Russland daran hindert, seinen eigenen zu vermarkten. Die G7-Hilfen sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein, um sie hinzuhalten und die heiligen Prinzipien des Freihandels nicht in Frage stellen zu müssen.

Die einzig mögliche Option, um die westliche Vorherrschaft zu retten, ist Krieg. Der Nato muss es gelingen, Russland militärisch zu zerstören, wie Rom einst Karthago dem Erdboden gleichmachte.

Aber es ist zu spät: Die russische Armee verfügt über viel hochentwickeltere Waffen als der Westen. Diese wurden bereits seit 2014 in Syrien getestet. Sie kann ihre Feinde jederzeit vernichten. Präsident Wladimir Putin hat seinen Parlamentariern 2018 den erstaunlichen Fortschritt seines Arsenals vorgestellt.5

Der Nato-Gipfel in Madrid war eine grossartige Kommunikationsoperation.6 Aber es war nur ein Schwanengesang. Die 32 Mitgliedstaaten verkündeten ihre Einheit mit der Verzweiflung derer, die den Tod fürchten. Als wäre nichts geschehen, verabschiedeten sie zunächst eine Strategie, um die Welt in den nächsten zehn Jahren zu beherrschen, und bezeichneten Chinas «Wachstum» als ein Thema, das ihnen Sorgen bereite.7

Damit haben sie zugegeben, dass ihr Ziel nicht ihre eigene Sicherheit ist, sondern die Beherrschung der Welt. Daraufhin wurde der Beitrittsprozess für Schweden und Finnland eingeleitet und eine Annäherung an Chinas Grenzen vorbereitet. Der möglichen Beitritt Japans in die Nato wäre dazu ein erster Schritt.

Der einzige Vorfall, der schnell unter Kontrolle gebracht wurde, war der von der Türkei ausgeübte Druck, um Finnland und Schweden dazu zu zwingen, die PKK zu verurteilen.8 Unfähig dem zu widerstehen, haben die USA ihre Verbündeten, die kurdische Söldner in Syrien und deren Führer im Ausland, fallengelassen.

Darauf beschlossen sie, die Rapid Action Force der Nato um das 7,5-fache zu vergrössern, das heisst von 40 000 auf 300 000 Mann aufzustocken, und sie an der russischen Grenze zu stationieren. Damit haben sie erneut ihre eigene Unterschrift, die der Charta für Sicherheit in Europa, verletzt, indem sie Russland direkt bedrohen.

Tatsächlich kann Russland seine immens langen Grenzen nicht verteidigen und kann seine Sicherheit nur gewährleisten, indem es sicherstellt, dass keine ausländische Macht eine Militärbasis nahe an seinen Grenzen installiert (Strategie der verbrannten Erde).

Das Pentagon verbreitet bereits prospektive Karten der angestrebten Zerstückelung Russlands.

Der ehemalige russische Botschafter bei der Nato und derzeitige Direktor von Roskosmos, Dmitri Rogosin, reagierte, indem er auf seinem Telegram-Account die GPS-Koordinaten der Nato-Entscheidungszentren, einschliesslich der für den Madrider Gipfel benützten Halle, veröffentlichte.9

Russland hat Hyperschallträgerraketen, die derzeit nicht abgefangen werden können und die in wenigen Minuten eine nukleare Ladung auf das Nato-Hauptquartier in Brüssel und auf das Pentagon in Washington tragen können. Damit keine Missverständnisse aufkommen, stellte Sergej Lawrow unter Bezugnahme auf die Straussianer klar, dass die kriegerischen Entscheidungen des Westens nicht vom Militär, sondern vom US-Aussenministerium getroffen werden. Dies würde das erste Ziel sein.

Die Frage ist also: Werden die Westmächte alles auf eine Karte setzen? Werden sie das Risiko eines Dritten Weltkriegs eingehen, den sie bereits verloren haben, nur um nicht allein zu sterben?

*    Thierry Meyssan ist Politischer Berater und Gründungspräsident des Voltaire Netzwerk. Sein aktuellstes Buch in Französisch heisst «Sous nos yeux – Du 11-Septembre à Donald Trump» und liegt auch auf Englisch vor.

Quelle: Voltaire Netzwerk, https://www.voltairenet.org/article217582.html, 6. Juli 2022

(Übersetzung Horst Frohlich, Korrekturlesen Werner Leuthäusser/Schweizer Standpunkt)

1 Destined For War: Can America and China escape Thucydides’s Trap?, Graham T. Allison, Houghton Mifflin Harcourt (2017).

2 «Government of Russia: Missed coupon payment constitutes a default», Moody’s, June 27, 2022.

3 «Remarks by Sergey Lavrov to the 73rd Session of the United Nations General Assembly», by Sergey Lavrov, Voltaire Network, 28 September 2018.
«UNO: die Geburt der post-westlichen Welt», von Thierry Meyssan, Voltaire Netzwerk, 2. Oktober 2018.

4 «Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs der G7 – Zusammenfassung», Voltaire Netzwerk, 1. Juli 2022.

5 «Vladimir Putin Address to the Russian Federal Assembly» by Vladimir Putin, Voltaire Network, 1 March 2018.
«Das neue russische nukleare Arsenal stellt wieder die Bipolarität der Welt her», von Thierry Meyssan, Voltaire Netzwerk, 6. März 2018.

6 «Ce qu’il faut retenir du Sommet de l’OTAN 2022 à Madrid», Réseau Voltaire, 29 juin 2022.

7 «OTAN 2022 Concept Stratégique», Réseau Voltaire, 29 juin 2022.

8 «Turkiye, Sweden, Finland Memorandum», Voltaire Network, 28 June 2022.

9 «Russland bedroht die westlichen Entscheidungszentren», Voltaire Netzwerk, 29. Juni 2022.

Zurück