Deutschland sabotieren, Russland beschuldigen

Thomas Palley. (Bild
thomas palley.com)

Ein anderer Blick auf den Angriff auf die Nord Stream-Pipeline

von Thomas Palley,* USA

(18. Oktober 2022) Stellen Sie sich vor, Moskau wurde gestern bombardiert, und heute Morgen titelte die «New York Times»: «Moskau bombardiert: Russland beweist erneut seine Feindseligkeit gegenüber Europa». Klingt ziemlich verrückt? Doch in gewisser Weise ist kürzlich genau das passiert.

Am Dienstag, den 27. September, wurden vier grosse Lecks in den Nord-Stream-Gaspipelines zwischen Russland und Deutschland entdeckt, die durch Unterwasserexplosionen verursacht wurden. Die «New York Times», die abends per E-Mail an neun Millionen Leser versandt wird, titelte «Verdacht auf russische Sabotage». Die europäische Ausgabe vom Mittwoch1 titelte ähnlich und kommentierte, die Anschläge seien ein Beweis für die russische Aggression gegen Europa.

Die gleiche Meinung wurde im Vereinigten Königreich geäussert. Die konservative Zeitung «Telegraph» titelte: «Nord Stream-Sabotage: Wie Putin den Anschlag verübt haben könnte»2 und zeigte ein Foto von Wladimir Putin in einem Tauchboot. Der fortschrittliche «Guardian» titelte mit einer «neuen Phase des hybriden Krieges»3 gegen Europa und beschuldigte Russland im Untertitel der Sabotage.

Gasversorgung von Russland nach Europa. (https://i.cbc.ca/1.6416860.1649771859!/
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Die Nord Stream-Pipeline ist ein wichtiger Aktivposten für Russland und Deutschland

Das Nord-Stream-System ist ein Projekt, das sich mehrheitlich in russischem Besitz befindet und sowohl für Russland als auch für Deutschland von entscheidender Bedeutung ist. Die Pipeline war aufgrund von Sanktionen abgeschaltet, und der Anschlag könnte sie irreparabel beschädigt haben, da das einströmende Salzwasser die Rohre schnell korrodieren lässt. Der Angriff hat auch eine Umweltkatastrophe durch die massive Freisetzung von klimaschädlichem Methangas verursacht, das in dem 1200 Kilometer langen System gespeichert ist.

Für Deutschland ist Nord Stream eine wichtige und verlässliche Quelle für billiges Gas, das sowohl Energie für die deutsche Wirtschaft als auch Rohstoffe für die wichtige chemische Industrie liefert. Die Abschaltung hatte bereits enorme wirtschaftliche Kosten durch Energiepreissteigerungen und Versorgungsengpässe verursacht. Wenn das System irreparabel beschädigt wurde, wird Deutschland dauerhaft grossen wirtschaftlichen Schaden erleiden.

Für Russland ist Nord Stream sowohl ein wirtschaftlicher als auch ein geopolitischer Vorteil. Aus wirtschaftlicher Sicht ist sie eine wichtige Quelle für Exporte und Deviseneinnahmen. In geopolitischer Hinsicht verschafft sie Russland ein Druckmittel gegenüber Deutschland. Ausserdem umgeht sie den Verbund von Pipelines (Brotherhood, Sojus und Jamal), die die Ukraine durchqueren.

Die Antwort auf die Frage «Wer ist der Täter?» hängt von den Fähigkeiten und Motiven ab

Russland ist eindeutig in der Lage, die von ihm gebaute Pipeline zu zerstören, aber das Motiv fehlt völlig. Für Russland wäre die Zerstörung der Pipeline vergleichbar mit einem Atomangriff auf sich selbst: Es gewinnt nichts und verliert massiv. Es würde Russland nur wirtschaftlich und geopolitisch schwächen. Es gäbe auch keinen kurzfristigen Gewinn, da die Pipeline bereits stillgelegt war und Russland den Gasfluss kontrollierte.

Die Ukraine ist ein weiterer Verdächtiger. Sie hat ein Motiv, denn die Zerstörung der Pipeline schwächt Russland und stärkt gleichzeitig die Ukraine, die durch die Pipeline ein Druckmittel gegenüber Russland und Deutschland erhält. Der Ukraine fehlen jedoch die Kapazitäten und sie hat keinen Zugang zur Ostsee.

Polen, Schweden und Dänemark sind ebenfalls verdächtig. Sie alle verfügen über die technischen Möglichkeiten und sind Ostseeanrainerstaaten, die in der Nähe der Explosionen liegen.

Was das Motiv angeht, so ist Polen extrem russlandfeindlich und hat sich immer wieder für eine verstärkte Unterstützung der Ukraine ausgesprochen und sogar eine direkte Beteiligung der Nato gefordert. Es ist jedoch zunehmend mit den USA verbündet und ihnen gegenüber verpflichtet, und diese machen Polen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer militärischen Stationierung in Osteuropa. Das bedeutet, dass Polen nicht ohne die Zustimmung der USA handeln würde.

Trotz seines fortschrittlichen Rufs hat Schweden eine starke rechtsgerichtete antirussische Wählerschaft, insbesondere innerhalb des Militärs. Schweden ist jedoch im Begriff, der Nato beizutreten, während Dänemark ein loyaler Nato-Mitspieler ist. Daher ist es sehr weit hergeholt zu glauben, dass einer der beiden Staaten einseitig ein für Deutschland so wichtiges Gut angreifen würde.

Der letzte Verdächtige sind die USA, die sowohl die Fähigkeit als auch das Motiv dazu haben.

Schon lange vor dem Ukraine-Konflikt waren die USA gegen die Nord Stream 2-Pipeline und setzten ihre gesamte diplomatische Macht ein, um deren Inbetriebnahme zu verhindern. Die Argumentation war, dass die Pipeline Russland wirtschaftlich stärkt und ihm ein Druckmittel gegen Deutschland gibt. Ausserdem machte sie US-Gas für die europäische Energiebilanz irrelevant.

Zum jetzigen Zeitpunkt sind die USA der grosse Gewinner des Nord Stream-Angriffs. Mit einem Schlag wurde Russland wirtschaftlich geschädigt, der Einfluss Russlands auf Deutschland verringert und der Anreiz für Deutschland, sich mit Russland einzulassen, reduziert.

Darüber hinaus hat der Angriff die vorherige Dynamik umgekehrt, indem er Deutschland in die Abhängigkeit von US-Flüssigerdgasexporten gebracht hat. Folglich profitieren die US-Wirtschaft und der mächtige texanische Energiesektor, während die US-Regierung weiter an Macht über Deutschland gewinnt.

Das US-Motiv ist klar. Wie auf der Moon of Alabama-Website4 dokumentiert, die von einem ehemaligen deutschen Militärbeamten betrieben wird, gibt es auch ein Eingeständnis und eine rauchende Waffe.

In einem aussergewöhnlichen Interview auf ABC News (7. Februar 2022) sprach Präsident Biden ausdrücklich von der Zerstörung des Nord Stream-Systems. Der Videolink ist hier zu finden.5 Der Text lautet wie folgt:

Präsident Biden: «Wenn Russland einmarschiert [...] dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.»

Reporter: «Aber wie wollen Sie das genau machen, da ... das Projekt unter deutscher Kontrolle ist?»

Präsident Biden: «Ich verspreche Ihnen, dass wir in der Lage sein werden, das zu tun.»

Der schlagende Beweis ist die Anwesenheit der US-Marine am Explosionsort kurz vor der Explosion. Am 28. September segelte eine US-Flotte durch die Fehmarnbelt-Passage in der Nähe des Explosionsortes nach Westen. Zu dieser Flotte gehörten das amphibische Angriffsschiff USS Kearsarge und die Landungsschiffe USS Arlington und USS Gunston Hall.

Die Kearsarge ist mit modernster Minenjagdtechnik für unbemannte Unterwasserfahrzeuge ausgestattet und hatte in der Ostsee die Vernichtung von Unterwasserminen getestet. Tage vor der Explosion wurde die Kearsarge in dreissig Kilometern Entfernung vom Explosionsort identifiziert.

Alles deutet darauf hin, dass die USA der Angreifer sind. Das Motiv ist überzeugend, die Indizien sind überzeugend, und es gibt keinen anderen plausiblen Verdächtigen.

Einige Überlegungen zum grossen Ganzen

Der Angriff auf die Nord Stream-Pipelines ist einer dieser Momente, in denen sich der Nebel des Krieges plötzlich lichtet und man die Realität sehen kann (wenn man bereit ist, hinzusehen).

  1. Der Angriff auf Nord Stream ist ein Angriff auf Deutschland, das ein wichtiger europäischer Verbündeter ist. Er zeigt, wie ungestraft die USA inzwischen agieren.
  2. Der Angriff der USA auf russische Unterwasseranlagen birgt das Risiko von Vergeltungsmassnahmen gegen amerikanische und westliche Unterwasseranlagen. Dies eröffnet einen weiteren Weg zu einem nuklearen Konflikt, der den bereits bestehenden Weg über die Schlachtfelder der Ukraine ergänzt.
  3. Die Presseberichterstattung spricht Bände über den Zustand unserer Medien. Wir sprechen hier von den Elitemedien. Die Berichterstattung ist schockierend in ihrer ungeheuerlichen absichtlichen Täuschung: Die Darstellung in der Presse ist einfach nicht stimmig. Wahrscheinlich wird sie aus Gründen der Reputationserhaltung etwas zurückgenommen. Das unehrliche Ziel wurde jedoch erreicht und der Schaden ist angerichtet, da die Rückzieher nur teilweise erfolgen und begraben werden, während die Schlagzeilen ein Verständnis schaffen, das Bestand hat.
    Die Nord-Stream-Täuschung ist Teil eines grösseren Nachrichtenmusters, das die Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt vom ersten Tag an beeinträchtigt hat, angefangen bei den Ursachen des Konflikts. Dieses trügerische Muster ist in der Berichterstattung über Ereignisse wie die Verminung des Hafens von Odessa, den Beschuss des Kernkraftwerks Saporischschja und die Gräueltaten von Mariupol sichtbar geworden.
    Die Gründe für dieses Verhalten der Medien und unsere eigene Bereitschaft, ihre Täuschungen zu akzeptieren, geben Anlass zum Nachdenken.
  4. Schliesslich fügt der Angriff Deutschland einen schweren Schaden zu, das nun die wirtschaftliche und politische Rechnung für seine Kapitulation vor dem Plan der US-Neokonservativen für die Ukraine zu zahlen beginnt. Das ist der zweite Akt des Ukraine-Konflikts, und er hat gerade erst begonnen. Die Aussichten für Europa sind nicht gut.
* Dr. Thomas Palley ist Wirtschaftswissenschaftler und lebt in Washington DC. Er hat einen B.A.-Abschluss der Universität Oxford, einen M.A.-Abschluss in Internationale Beziehungen und einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften, beide von der Universität Yale. Er hat in zahlreichen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht und für die Magazine The Atlantic Monthly, American Prospect und Nation geschrieben.

Quelle: http://thomaspalley.com/?p=2271 vom 1. Oktober 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.nytimes.com/2022/09/28/briefing/gas-leak-sabotage-liz-truss.html

2 https://www.telegraph.co.uk/world-news/2022/09/27/how-putin-could-have-carried-nord-stream-attack-may-have-set/ vom 28. September 2022

3 https://www.theguardian.com/world/2022/sep/28/nord-stream-blasts-hybrid-war-eu-russia-sabotage vom 28.9.2022

4 https://www.moonofalabama.org/2022/09/whodunnit-facts-related-to-the-sabotage-attack-on-the-nord-stream-pipelines.html#more

5 https://twitter.com/ABC/status/1490792461979078662 vom 7. Februar 2022

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