Die Dialektik der Konfrontation – 30 Jahre später

Chas W. Freeman (Bild wikipedia)

Entstehen der multipolaren Weltordnung und die Rolle der USA

Von Chas W. Freeman, Jr., United States Foreign Service (USFS), Ret.; Senior Fellow at Watson Institute for International and Public Affairs, Brown University, USA*

(7. Februar 2022) Die Auflösung der UdSSR läutete eine zwei Jahrzehnte währende Periode unkontrollierter globaler Vorherrschaft der Vereinigten Staaten ein. Zwei Jahrhunderte zuvor hatte der amerikanische Politologe James Madison in weiser Voraussicht gewarnt, dass «Ehrgeiz dazu gebracht werden muss, dem Ehrgeiz entgegenzuwirken», um Machtmissbrauch zu vermeiden. Die Zeit nach dem Kalten Krieg hat reichlich Beweise dafür geliefert, wie richtig diese Erkenntnis ist.

Moskaus Verzicht auf die Rivalität mit Washington im Kalten Krieg signalisierte die Einstellung des russischen Strebens nach globaler Hegemonie. Doch die Eigendynamik des früheren Antagonismus trieb die US-Politik weiter an.

Washington strebte danach, die gesamte Welt jenseits der Grenzen Chinas und der Russischen Föderation zu einer exklusiven amerikanischen Einflusssphäre zu machen, in der die von den Vereinigten Staaten vertretenen Interessen und Normen Vorrang haben sollten.

Die NATO hätte zu einer kooperativen, europaweiten Sicherheitsarchitektur werden können, die Russland mit dem übrigen Europa verbindet, so wie es einst das Konzert der Europäischen Union war. Die Partnerschaft für den Frieden und der NATO-Russland-Rat verkörperten diese Möglichkeit. Stattdessen sorgten die Einstellungen des Kalten Krieges, gestützt auf alte europäische Feindseligkeiten, dafür, dass die NATO ihren Charakter als Instrument der kollektiven Sicherheit behielt, das darauf abzielt, den russischen Einfluss vom übrigen Europa fernzuhalten. Es ist ein strategischer Fehler, einer europäischen Grossmacht eine Rolle bei der Steuerung des Subkontinents zu verweigern, wie der Ausschluss sowohl Deutschlands als auch der UdSSR nach dem Ersten Weltkrieg gezeigt hat, der zunächst zu einem Zweiten Weltkrieg und dann zu einem auf Europa konzentrierten Kalten Krieg führte. Doch Europa ist nach wie vor geteilt, und seine Governance ist umstritten.

Von westlichen neoliberalen Theoretikern und «Neuankömmlingen» ermutigt, durchlief Russland einen demoralisierenden Übergang von einer Kommandowirtschaft zu einer räuberischen Plutokratie und zum Kapitalismus. Im Zuge der Reformen und des Aufschwungs erlangte Russland seinen vorsowjetischen Status als einer der weltweit grössten Exporteure von Erdöl und Weizen wieder. Seine Wirtschaft erholte sich. Seine wohlhabenderen Bürger wurden zu einer festen Grösse in den meist bereisten tropischen Urlaubsorten der Welt. Moskau beseitigte die postsowjetische Unfähigkeit seiner Streitkräfte. Die russische Militärtechnologie nahm ihren Siegeszug wieder auf.

Ein amerikanisches Sprichwort besagt: Wer nicht von seinem Geldbeutel oder seinen Waffen leben kann, muss von seinem Verstand leben. Russland war von einer Weltmacht zu einer angeschlagenen, aber immer noch grossen europäischen Macht degradiert worden.

Geschickte russische Diplomatie, unterstützt durch kompetente Anwendung militärischer Macht, hat Russland nun wieder zu einem glaubwürdigen geopolitischen Akteur in Westasien gemacht, wenn auch noch nicht überall.

Aus Gründen, die nur militaristische Ideologen in Washington erklären können, haben die Vereinigten Staaten eine Politik verfolgt, die Peking und Moskau in Opposition zu amerikanischer globaler und regionaler Vorherrschaft und Diktatur zusammenführt. Dies hat das Entstehen einer zunehmend robusten Entente (einer begrenzten Partnerschaft für begrenzte Zwecke) zwischen den beiden grossen eurasischen Staaten begünstigt, die auf dem gemeinsamen Interesse beruht, der amerikanischen Feindseligkeit entgegenzuwirken, die amerikanische Hegemonie zu untergraben und der wahrgenommenen amerikanischen Politik des Regimewechsels zuvorzukommen.

Wie Washington vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion treten nun sowohl Peking als auch Moskau für eine multipolare Weltordnung ein, in der der Multilateralismus eine wichtige Rolle spielt. Unter der verwirrenden Führung von Donald Trump traten die Vereinigten Staaten plötzlich für das Gegenteil ein: ein internationales System, das durch die «Rivalität der Grossmächte» definiert und durch bilaterales Kräftemessen geregelt wird. Die Regierung Biden hat sich diese rechte strategische Haltung zu eigen gemacht und eine linke Annahme hinzugefügt, wonach die Geschichte von einem tödlichen Kampf zwischen der Demokratie und einer imaginären Ideologie des Autoritarismus bestimmt wird, die die Autokraten der Welt antreibt und vereint. Die «Rivalität der Grossmächte» und die Demagogie über die Bedrohung der Demokratie durch das Ausland kommen beim Publikum in der Anglosphäre gut an, sind aber ausserhalb der Anglosphäre nicht glaubwürdig, wo die Realität beide Vorstellungen weiterhin widerlegt.

Die postsowjetische Welt ist nicht mehr «unipolar» oder «bipolar», sondern «multipolar». Mittlere und kleinere Mächte suchen nach ihrer eigenen Identität und Rolle bei der Gestaltung ihres internationalen Umfelds. Die Elemente der zwischenstaatlichen Interaktion sind nicht mehr eindimensional oder von militärischen Machthierarchien dominiert. Sie sind multidimensional. Nationale Sicherheits-, wirtschaftliche, politische und ideologische Orientierungen stimmen nicht mehr unbedingt überein.

Nationen können in einigen Fragen miteinander und in anderen gegeneinanderstehen. Selbst wenn sie wirtschaftlich zusammenarbeiten, können sie sich politisch oder militärisch bekämpfen. Ideologische Gemeinsamkeiten diktieren nicht mehr die Ausrichtung.

Die Welt, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und den darauffolgenden amerikanischen Triumphalismus geschaffen wurde, ist nach wie vor im Entstehen begriffen. Aber der Bogen der Geschichte spannt sich nun in Richtung mehrerer Machtzentren, die gleichzeitig in verschiedenen Arenen miteinander konkurrieren. Es bleibt abzuwarten, ob die Grossmächte, die an dieser neuen internationalen Unordnung beteiligt sind, eine friedliche Koexistenz in ihr erreichen können.

* Charles «Chas» W. Freeman, Jr, geboren 1943, US-amerikanischer Diplomat im Ruhestand und Schriftsteller. Er diente während dreissig Jahren im Auswärtigen Dienst der Vereinigten Staaten, im Aussen- und im Verteidigungsministerium in verschiedensten Funktionen. Er arbeitete als Hauptdolmetscher für Richard Nixon während seines China-Besuchs 1972 und diente während des Golfkriegs von 1989 bis 1992 als US-Botschafter in Saudi-Arabien. Er ist ehemaliger Präsident des Middle East Policy Council, Co-Vorsitzender der U.S. China Policy Foundation und Direktor des Atlantic Council auf Lebenszeit. Freeman hat sich immer für den diplomatischen Weg ausgesprochen.
(https://chasfreeman.net/biography)

Quelle: https://eng.globalaffairs.ru/articles/the-dialectics-of-confrontation/, 13. Dezember 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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