Ein Mediations-Leitfaden für Frieden in der Ukraine

Jeffrey D. Sachs (Foto
Gabriella C. Marino, 2019)

von Jeffrey D. Sachs,* USA

(23. Dezember 2022) Der Ukraine-Krieg ist ein äusserst gefährlicher Krieg zwischen Atom-Supermächten in einer Welt, die dringend auf Frieden und Zusammenarbeit angewiesen ist.

Es gibt einen neuen Hoffnungsschimmer für ein rasches Ende des Ukraine-Kriegs auf dem Verhandlungsweg.

In seiner jüngsten Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erklärte Präsident Joe Biden:1 «Ich bin bereit, mit Herrn Putin zu sprechen, wenn er tatsächlich ein Interesse daran hat, einen Weg zur Beendigung des Krieges zu finden. Das hat er bisher nicht getan. Wenn das der Fall ist, bin ich in Absprache mit meinen französischen und meinen Nato-Freunden gerne bereit, mich mit Putin zusammenzusetzen, um zu sehen, was er will, was ihm vorschwebt.»

Der Sprecher von Präsident Wladimir Putin entgegnete,2 Russland sei zu Verhandlungen bereit, «um unsere Interessen zu wahren».

Drei Hauptkonfliktparteien

Jetzt ist es an der Zeit für eine Vermittlung, die sich auf die Kerninteressen und den Verhandlungsspielraum der drei Hauptkonfliktparteien stützt: Russland, der Ukraine und den Vereinigten Staaten.

Der Krieg ist für die Ukraine verheerend. Laut EU-Präsidentin Ursula von der Leyen3 hat die Ukraine bereits 100 000 Soldaten und 20 000 Zivilisten verloren. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland, die USA und die EU – ja die ganze Welt – würden von der Beendigung des Konflikts enorm profitieren, da sowohl die nukleare Bedrohung, die heute über der Welt schwebt, als auch die verheerenden wirtschaftlichen Folgen des Krieges beseitigt würden.

Kein Geringerer als der Vorsitzende der US-Generalstabschefs, General Mark A. Milley, hat auf eine politische Lösung des Konflikts auf dem Verhandlungsweg gedrängt und festgestellt, dass die Chancen der Ukraine auf einen militärischen Sieg «nicht hoch» sind.4

Vier Kernfragen sind zu verhandeln

Es gibt vier Kernfragen, über die verhandelt werden muss: Die Souveränität und Sicherheit der Ukraine, die heikle Frage der Nato-Erweiterung, das Schicksal der Krim und die Zukunft des Donbass.

Die Ukraine fordert vor allem, ein souveränes Land zu sein, frei von russischer Vorherrschaft und mit sicheren Grenzen. Es gibt in Russland einige, vielleicht auch Putin selbst, die glauben, dass die Ukraine wirklich ein Teil von Russland ist.

Es wird keinen Verhandlungsfrieden geben, wenn Russland die Souveränität und die nationale Sicherheit der Ukraine nicht anerkennt, die durch ausdrückliche internationale Garantien des UN-Sicherheitsrats und von Staaten wie Deutschland, Indien und der Türkei gestützt werden.

Russland fordert vor allem, dass die Nato auf ihre Absicht verzichtet, sich auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, was Russland im Schwarzen Meer vollständig einkreisen würde (wobei die Ukraine und Georgien zu den bestehenden Schwarzmeer-Nato-Mitgliedern Bulgarien, Rumänien und Türkei hinzukämen).

Die Nato bezeichnet sich selbst als Verteidigungsbündnis, doch Russland sieht das anders, denn es weiss sehr wohl um die Vorliebe der USA für Regimewechsel-Operationen gegen Regierungen, die ihnen nicht passen (so auch in der Ukraine im Jahr 2014, als die USA am Sturz des damaligen prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch beteiligt waren).

Ausserdem beansprucht Russland die Krim seit 1783 als Heimat der russischen Schwarzmeerflotte. Putin warnte George Bush Jr. bereits 2008,5 dass Russland die Krim zurückerobern würde, wenn die USA mit der Nato in die Ukraine drängen würden. Die Krim war 1954 von Sowjetführer Nikita Chruschtschow von Russland an die Ukraine übergeben worden.

Bis zu Janukowitschs Sturz wurde die Krim-Frage durch russisch-ukrainische Vereinbarungen, die Russland einen langfristigen Pachtvertrag für seine Marineeinrichtungen in Sewastopol auf der Krim einräumten, umsichtig gehandhabt.

Zwischen der Ukraine und Russland gibt es heftige Meinungsverschiedenheiten über den Donbass mit seiner überwiegend russischstämmigen Bevölkerung. Während im grössten Teil der Ukraine die ukrainische Sprache und kulturelle Identität vorherrscht, sind im Donbass die russische kulturelle Identität und Sprache vorherrschend. Ab 2014, nach dem Umsturz Janukowitschs wurde der Donbass zu einem Schlachtfeld zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Paramilitärs, wobei die pro-russischen Kräfte die Unabhängigkeit des Donbass erklärten.

Minsk-II-Abkommen von 2015

Das Minsk-II-Abkommen von 2015 war eine diplomatische Vereinbarung zur Beendigung der Kämpfe, die auf der Autonomie (Selbstverwaltung) der Donbass-Region innerhalb der ukrainischen Grenzen und der Achtung der russischen Sprache und Kultur beruhte.

Nach der Unterzeichnung machte die ukrainische Führung deutlich, dass sie das Abkommen ablehne und es nicht einhalten werde. Obwohl Frankreich und Deutschland für das Abkommen bürgten, drängten sie die Ukraine nicht zu dessen Einhaltung. Aus der Sicht Russlands haben die Ukraine und der Westen damit eine diplomatische Lösung des Konflikts abgelehnt.

Ende 2021 bekräftigte Putin die Forderung Russlands,6 die Nato nicht weiter zu erweitern, insbesondere nicht auf die Ukraine. Die USA weigerten sich, über die Nato-Erweiterung zu verhandeln. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte damals provokativ,7 dass Russland in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht habe und dass einzig die Nato-Mitglieder entscheiden würden, ob Russland im Schwarzen Meer eingekreist werden solle oder nicht.

Im März 2022, einen Monat nach der russischen Invasion, erzielten Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelensky wesentliche Fortschritte in Richtung einer pragmatischen Beendigung des Krieges auf dem Verhandlungsweg, beruhend auf einer Nichterweiterung der Nato, auf internationale Garantien für die Souveränität und Sicherheit der Ukraine und auf einer späteren friedlichen Lösung der Probleme auf der Krim und im Donbass. Türkische Diplomaten waren dabei die sehr geschickten Vermittler.

Doch dann verliess die Ukraine den Verhandlungstisch – sehr wahrscheinlich auf Drängen Grossbritanniens und der USA – und verfolgt seither die Politik, Verhandlungen so lange zu verweigern, bis Russland durch militärische Massnahmen aus der Ukraine vertrieben werde. Daraufhin eskalierte der Konflikt, und Russland annektierte nicht nur die beiden Regionen des Donbass (Luhansk und Donezk), sondern auch die Regionen Cherson und Saporischschja.

Kürzlich heizte Zelensky die Situation weiter an,8 indem er forderte, die ukrainischen Verbindungen zu russisch-orthodoxen Einrichtungen zu kappen und damit die religiösen Brücken zwischen ethnischen Russen und vielen ethnischen Ukrainern abzubrechen, die ein Jahrtausend zurückreichen.

Da sich nun sowohl die USA als auch Russland vorsichtig an den Verhandlungstisch herantasten, ist es an der Zeit, zu vermitteln. Zu den möglichen Vermittlern gehören die Vereinten Nationen, die Türkei, Papst Franziskus, China und vielleicht auch andere, in irgendeiner Kombination. Die Konturen einer erfolgreichen Mediation sind eigentlich klar, ebenso wie die Grundlage für eine Friedensregelung.

Wichtigster Punkt für die Mediation

Der wichtigste Punkt für die Mediation ist anzuerkennen, dass alle Parteien legitime Interessen und berechtigte Missstände zu beklagen haben. Russland ist zu Unrecht und gewaltsam in die Ukraine eingedrungen. Die USA haben von langer Hand den Sturz Janukowitschs im Jahr 2014 geplant und unterstützt und anschliessend die Ukraine schwer bewaffnet und die Nato-Erweiterung vorantrieben, um Russland im Schwarzen Meer einzukreisen. Nach dem Sturz Janukowitschs weigerten sich die ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und Wolodymyr Zelensky, das Minsk-II-Abkommen umzusetzen.

Der Frieden wird dann ermöglicht, wenn die USA von einer weiteren Nato-Erweiterung in Richtung der russischen Grenzen Abstand nehmen, Russland seine Streitkräfte aus der Ukraine abzieht und von der einseitigen Annexion ukrainischen Territoriums Abstand nimmt. Die Ukraine muss von ihren Versuchen, die Krim zurückzuerobern, und von ihrer Ablehnung des Minsk-II-Abkommens Abstand nehmen. Alle Parteien müssen sich bereit erklären, die souveränen Grenzen der Ukraine im Rahmen der UN-Charta zu sichern, garantiert durch den UN-Sicherheitsrats und weiteren Staaten.

Der Ukraine-Krieg ist ein äusserst gefährlicher Krieg zwischen atomaren Supermächten in einer Welt, die dringend Frieden und Zusammenarbeit braucht. Es ist an der Zeit, dass die USA und Russland, zwei Grossmächte der Vergangenheit und der Zukunft, ihre Grösse durch gegenseitigen Respekt, Diplomatie und gemeinsame Anstrengungen unter Beweis stellen, um eine nachhaltige Entwicklung für alle zu gewährleisten – auch für die Menschen in der Ukraine, die dringend Frieden und Wiederaufbau benötigen.

* Jeffrey D. Sachs, geboren 1954 in Detroit, Michigan (USA), ist ein weltweit anerkannter Wirtschaftswissenschaftler, Bestsellerautor, innovativer Pädagoge und globaler Vordenker für nachhaltige Entwicklung. Er ist weithin anerkannt für seine mutigen und effektiven Strategien zur Bewältigung komplexer Herausforderungen, darunter die Überwindung extremer Armut, der globale Kampf gegen den vom Menschen verursachten Klimawandel, internationale Schulden- und Finanzkrisen, nationale Wirtschaftsreformen und die Bekämpfung von Pandemien und epidemischen Krankheiten. Er ist Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er den Rang eines Universitätsprofessors innehat.
Jeffrey D. Sachs hat zahlreiche Bücher verfasst und herausgegeben, darunter drei New York Times-Bestseller: The End of Poverty (2005), Common Wealth: Economics for a Crowded Planet (2008) und The Price of Civilization (2011) sowie in jüngerer Zeit A New Foreign Policy: Beyond American Exceptionalism (2018) und The Ages of Globalization: Geography, Technology, and Institutions (2020).

Quelle: https://www.commondreams.org/views/2022/12/05/mediators-guide-peace-ukraine, 5. Dezember 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://news.yahoo.com/biden-says-only-meet-putin-195018979.html

2 https://www.bbc.com/news/world-europe-63832151

3 https://news.yahoo.com/von-der-leyen-statement-death-163600213.html

4 https://www.foxnews.com/politics/milley-urges-ukraine-negotiate-russia-saying-chances-total-military-victory-unlikely

5 https://www.rferl.org/a/1144087.html

6 https://augengeradeaus.net/wp-content/uploads/2021/12/20211217_Draft_Russia_NATO_security_guarantees.pdf

7 https://www.aljazeera.com/news/2021/12/10/nato-refuses-to-backtrack-on-ukraine-georgia-membership-promise

8 https://www.wsj.com/articles/ukraine-clamps-down-on-orthodox-church-linked-to-moscow-11669984943

Zurück