Ein Verhandlungsfrieden ist der einzige Weg, Russlands Krieg gegen die Ukraine zu beenden

Jeffrey D. Sachs (Foto Gabriella
C. Marino, 2019)

by Jeffrey D. Sachs,* USA

(2. Mai 2022) Die zweigleisige US-Strategie, der Ukraine bei der Überwindung der russischen Invasion zu helfen, indem sie harte Sanktionen verhängt und das ukrainische Militär mit hochentwickelten Rüstungsgütern versorgt, wird wahrscheinlich zu kurz greifen.

Was wir brauchen, ist ein Friedensabkommen, das in greifbare Nähe gerückt sein könnte. Um ein solches Abkommen zu erreichen, müssen die Vereinigten Staaten jedoch Kompromisse in Bezug auf die Nato eingehen, was Washington bisher abgelehnt hat.

Zugeständnisse auf beiden Seiten notwendig

Wladimir Putin hat den Krieg in der Ukraine ausgelöst und erklärt, die Verhandlungen seien in eine Sackgasse geraten, ohne jedoch die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch bevor der Krieg begann, legte Putin dem Westen eine Liste von Forderungen vor, darunter vor allem einen Stopp der Nato-Erweiterung.

Die USA waren ausdrücklich nicht bereit, sich auf diesen Punkt einzulassen. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, diese Politik zu überdenken. Auch Putin müsste sich zu Zugeständnissen bereit zeigen, damit die Verhandlungen zum Erfolg führen.

Amerikas Ansatz der Aufrüstung und Sanktionen mag in der Echokammer der öffentlichen Meinung der USA überzeugend klingen, aber auf der globalen Bühne funktioniert er nicht wirklich. Ausserhalb der Vereinigten Staaten und Europas geniesst er wenig Unterstützung1 und könnte schliesslich auch innerhalb der USA und Europas eine politische Gegenreaktion hervorrufen.

«Künftige Generationen in Europa müssen mit Russland als Nachbar leben»

«Die USA lieben die Eskalation von Konflikten. Ich beobachte sehr genau, welche Vorschläge und Botschaften aus den USA kommen. Die US-Regierung will die Gelegenheit nutzen und Russland in die Knie zwingen. Aber Europa sollte sich darauf nicht einlassen. Künftige Generationen in Europa müssen mit Russland als Nachbar leben. Biden hat in der Tat gesagt, dass wir uns für einen langen Konflikt wappnen sollen. Das ist eine schreckliche Idee.

Ein langjähriger Kampf; da spricht ein alter amerikanischer Mann mit Erinnerungen aus dem Kalten Krieg. Da spricht kein Mann der Zukunft. Die Welt sollte sich nicht auf einen langen Kampf vorbereiten. Sie sollte darauf hinarbeiten, den Krieg mit Verhandlungen zu stoppen. Das ist eher möglich, als die US-Regierung glaubt. Die EU sollte vorrangig auf eine Verhandlungslösung setzen und zusammen mit der Ukraine Vorschläge für eine Einigung machen. Wenn die Vorschläge der EU und der Ukraine vernünftig sind, werden sich die meisten Länder der Welt dahinter stellen.»

Quelle: https://www.welt.de/wirtschaft/plus237898261/Jeffrey-Sachs-zur-Ukraine-USA-wuerden-viele-Tote-in-Kauf-nehmen.html, 1. April 2022

Ein Grossteil der Welt lehnt Isolierung Moskaus ab

Für jeden, der mit den russischen Kriegsanstrengungen und dem Grauen, das sie über die Zivilbevölkerung gebracht haben, vertraut ist, mag es offensichtlich erscheinen, dass Russland weltweit zum Paria wird. Aber das ist nicht der Fall:

Vor allem die Entwicklungsländer haben sich geweigert, sich der Isolationskampagne des Westens anzuschliessen, wie jüngst die von den USA angeführte Abstimmung über den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat zeigte. Zwar unterstützten 93 Länder2 diesen Schritt, aber 100 andere Länder taten dies nicht (24 waren dagegen, 58 enthielten sich der Stimme und 18 stimmten nicht ab). Noch bemerkenswerter ist, dass in diesen 100 Ländern 76 Prozent der Weltbevölkerung leben.

Die Länder mögen durchaus nichtideologische Gründe für ihre Ablehnung der US-Initiative gehabt haben, darunter Handelsbeziehungen mit Russland. Tatsache ist jedoch, dass ein Grossteil der Welt eine Isolierung Moskaus ablehnt, insbesondere in dem von Washington gewünschten Ausmass.

Sanktionen sind ein wichtiger Teil der US-Strategie. Sie werden Russland wahrscheinlich nicht besiegen, aber sie werden der ganzen Welt hohe Kosten auferlegen. Bestenfalls können sie Russland zu einem Friedensabkommen bewegen und sollten daher in Verbindung mit intensiven Bemühungen um einen Verhandlungsfrieden eingesetzt werden.

«Den USA geht es um die Vorherrschaft in der Welt»

«Die USA betreiben Expansionspolitik. Das ist der Geist in Washington. Den USA geht es um die Vorherrschaft in der Welt. Ich frage Sie: Wer denkt denn noch so im 21. Jahrhundert?»

Quelle: https://www.welt.de/wirtschaft/plus237898261/Jeffrey-Sachs-zur-Ukraine-USA-wuerden-viele-Tote-in-Kauf-nehmen.html, 1. April 2022

Wozu Wirtschaftssanktionen?

Es gibt zahlreiche Probleme mit Wirtschaftssanktionen:

  • Das erste ist, dass Sanktionen, auch wenn sie Russland in wirtschaftliche Bedrängnis bringen, die russische Politik kaum entscheidend verändern werden. Denken Sie an die harten Sanktionen, die die USA gegen Venezuela, Iran und Nordkorea verhängt haben. Ja, sie haben diese Volkswirtschaften geschwächt, aber sie haben die Politik dieser Länder nicht so verändert, wie es die US-Regierung angestrebt hat.
  • Das zweite Problem besteht darin, dass Sanktionen zumindest teilweise leicht umgangen werden können, und im Laufe der Zeit werden wahrscheinlich noch mehr Umgehungen hinzukommen. Die US-Sanktionen gelten am effektivsten für Transaktionen auf Dollarbasis, an denen das US-Bankensystem beteiligt ist. Länder, die versuchen, die Sanktionen zu umgehen, finden Wege, um Transaktionen auf andere Weise als über Banken oder in anderen Währungen durchzuführen. Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Transaktionen mit Russland in Rubel, Rupien, Renminbi und anderen Nicht-Dollar-Währungen steigt.
  • Das dritte und damit zusammenhängende Problem ist, dass der grösste Teil der Welt nicht an die Sanktionen glaubt – und im Krieg zwischen Russland und der Ukraine auch keine Partei ergreift. Zählt man alle Länder und Regionen zusammen, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben – die USA, das Vereinigte Königreich, die Europäische Union, Japan, Singapur, Australien, Neuseeland und eine Handvoll anderer –, so kommt man auf eine Gesamtbevölkerung von nur 14 Prozent der Weltbevölkerung.
  • Das vierte Problem ist der Bumerang-Effekt. Die Sanktionen gegen Russland schaden nicht nur Russland, sondern der gesamten Weltwirtschaft, indem sie Unterbrechungen der Versorgungskette, Inflation und Lebensmittelknappheit anheizen. Aus diesem Grund werden viele europäische Länder wahrscheinlich weiterhin Gas und Öl aus Russland importieren, und Ungarn und vielleicht einige andere europäische Länder werden sich bereit erklären, Russland in Rubel zu bezahlen. Der Bumerang-Effekt wird auch den Demokraten bei den Zwischenwahlen im November dieses Jahres schaden, da die Inflation die Realeinkommen der Wähler auffrisst.
  • Das fünfte Problem ist die unelastische (preisunempfindliche) Nachfrage nach Russlands Energie- und Getreideexporten. Wenn die Menge der russischen Exporte zurückgeht, steigen die Weltmarktpreise für diese Rohstoffe. Russland kann am Ende mit geringeren Exportmengen, aber nahezu gleichen oder sogar höheren Exporterlösen dastehen.
  • Das sechste Problem ist geopolitischer Natur. Andere Länder – und vor allem China – sehen den Krieg zwischen Russland und der Ukraine zumindest teilweise als einen Krieg, in dem sich Russland gegen die Nato-Erweiterung um die Ukraine wehrt. Deshalb argumentiert China immer wieder, dass in diesem Krieg die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands auf dem Spiel stehen.

Nato ist kein «reines Verteidigungsbündnis» mehr

Die USA behaupten gerne, die Nato sei ein reines Verteidigungsbündnis, aber Russland, China und andere sehen das anders. Sie betrachten die Bombardierung Serbiens durch die Nato im Jahr 1999, den Einsatz von Nato-Truppen in Afghanistan 20 Jahre lang nach dem 11. September 2001 und die Bombardierung Libyens durch die Nato im Jahr 2011, durch die Muammar Gaddafi gestürzt wurde, mit Argwohn. Die russische Führung lehnt die Osterweiterung der Nato ab, seit sie Mitte der 1990er Jahre mit der Tschechischen Republik, Ungarn und Polen begann. Es ist bemerkenswert, dass Biden, als Putin die Nato aufforderte, ihre Erweiterung um die Ukraine zu stoppen, es entschieden ablehnte, mit Russland über diese Frage zu verhandeln.

Kurz gesagt, viele Länder, darunter sicherlich auch China, werden einen globalen Druck auf Russland, der zu einer Nato-Erweiterung führen könnte, nicht unterstützen. Der Rest der Welt will Frieden und keinen Sieg der Vereinigten Staaten oder der Nato in einem Stellvertreterkrieg mit Russland.

Die USA würden Putin gern militärisch besiegt sehen, und die Nato-Waffen haben den russischen Streitkräften einen schweren Schlag versetzt. Aber es stimmt auch, dass die Ukraine dabei zerstört wird. Es ist unwahrscheinlich, dass Russland seine Niederlage erklärt und sich zurückzieht. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Russland eine Eskalation herbeiführen wird, möglicherweise sogar durch den Einsatz von Atomwaffen. Die Waffen der Nato können Russland also enorme Kosten verursachen, aber die Ukraine nicht retten.

All dies bedeutet, dass die US-Strategie in der Ukraine Russland ausbluten lassen kann, aber die Ukraine nicht retten kann. Das kann nur ein Friedensabkommen leisten. Tatsächlich wird das derzeitige Vorgehen die wirtschaftliche und politische Stabilität in der ganzen Welt untergraben und könnte die Welt in ein Pro-Nato- und ein Anti-Nato-Lager spalten, was den Vereinigten Staaten langfristig sehr schaden würde.

«Die Ukraine verdient Frieden»

«Ich bin vor allem ein Freund der Ukraine. Die Ukraine darf nicht für Generationen ein Schlachtfeld werden. Ich weiss, wozu die USA fähig sind. Die US-Regierung kann jahrelang Waffen liefern, mit denen getötet und zerstört wird. Das haben die USA in Afghanistan getan, im Irak oder in Syrien. Ich will nicht, dass sich das in der Ukraine wiederholt. Die Ukraine verdient Frieden. Dafür muss die Ukraine auch verstehen, dass sie keinen militärischen Sieg erringen wird. Die US-Regierung nährt diese Erwartung. Die USA feuern ihre Freunde an und lassen sie dann auf dem Schlachtfeld zurück.»

Quelle: https://www.welt.de/wirtschaft/plus237898261/Jeffrey-Sachs-zur-Ukraine-USA-wuerden-viele-Tote-in-Kauf-nehmen.html, 1. April 2022

Vorrang für den Frieden statt für die NATO-Erweiterung

Die amerikanische Diplomatie bestraft also Russland, aber ohne grosse Aussicht auf einen wirklichen Erfolg für die Ukraine oder für die Interessen der USA. Ein wirklicher Erfolg ist die Rückkehr der russischen Truppen nach Hause und die Sicherheit der Ukraine. Diese Ergebnisse können am Verhandlungstisch erreicht werden.

Der wichtigste Schritt besteht darin, dass die USA, die Nato-Verbündeten und die Ukraine deutlich machen, dass die Nato sich nicht auf die Ukraine ausdehnen wird, solange Russland den Krieg beendet und die Ukraine verlässt. Die Länder, die mit Putin verbündet sind, und diejenigen, die sich für keine der beiden Seiten entscheiden, würden Putin dann sagen, dass es für Russland nun an der Zeit ist, das Schlachtfeld zu verlassen und nach Hause zurückzukehren, da er die Nato-Erweiterung gestoppt hat.

Natürlich könnten die Verhandlungen scheitern, wenn Russlands Forderungen unannehmbar bleiben. Aber wir sollten zumindest versuchen, und zwar sehr intensiv, herauszufinden, ob durch die Neutralität der Ukraine, die durch internationale Garantien abgesichert ist, Frieden erreicht werden kann.

Bidens harte Worte über Putins Abgang von der Macht, Völkermord und Kriegsverbrechen werden die Ukraine nicht retten. Die beste Chance, die Ukraine zu retten, besteht in Verhandlungen, die die Welt auf ihre Seite bringen. Wenn die USA dem Frieden Vorrang vor der Nato-Erweiterung einräumen würden, könnten sie die Unterstützung eines Grossteils der Welt gewinnen und so dazu beitragen, der Ukraine Frieden und der ganzen Welt Sicherheit und Stabilität zu bringen.

* Jeffrey D. Sachs, geboren 1954 in Detroit, Michigan (USA), ist ein weltweit anerkannter Wirtschaftswissenschaftler, Bestsellerautor, innovativer Pädagoge und globaler Vordenker für nachhaltige Entwicklung. Er ist weithin anerkannt für seine mutigen und effektiven Strategien zur Bewältigung komplexer Herausforderungen, darunter die Überwindung extremer Armut, der globale Kampf gegen den vom Menschen verursachten Klimawandel, internationale Schulden- und Finanzkrisen, nationale Wirtschaftsreformen und die Bekämpfung von Pandemien und epidemischen Krankheiten. Er ist Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er den Rang eines Universitätsprofessors innehat.
Jeffrey D. Sachs hat zahlreiche Bücher verfasst und herausgegeben, darunter drei New York Times-Bestseller: The End of Poverty (2005), Common Wealth: Economics for a Crowded Planet (2008) und The Price of Civilization (2011) sowie in jüngerer Zeit A New Foreign Policy: Beyond American Exceptionalism (2018) und The Ages of Globalization: Geography, Technology, and Institutions (2020).

Quelle: https://edition.cnn.com/2022/04/20/opinions/sachs-ukraine-negotiation-op-ed/index.html
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=9461c67c5c&e=111aa3756f

2 https://twitter.us19.list-manage.com/track/click?u=50ec04f7fdd8f247aecfa0ddf&id=b5a8c0edae&e=111aa3756f

Zurück