Europa in den Schützengräben gegen den «erfundenen Feind»

Manlio Dinucci (Bild zvg)

von Manlio Dinucci*

(16. Februar 2022) Russlands Forderungen nach Friedensgarantien ignorierend, hat die Nato es geschafft, in den Augen ihrer Mitglieder Russland als Aggressor darzustellen. Sie mobilisiert alle Armeen der Mitgliedsländer und hat gerade eine gigantische Marineübung im Mittelmeer begonnen, während Russland eine seit langem angekündigte Übung in Belarus durchführt.

Das US-Aussenministerium ordnete «als Vorsichtsmassnahme gegen eine mögliche russische Invasion der Ukraine» die Evakuierung von Verwandten und eines Teils des Personals seiner Botschaft in Kiew an – die mit 900 Beamten zu den grössten Botschaften in Europa gehört –und erhöhte die Warnung für US-Bürger, nicht in die Ukraine zu reisen, auf höchste Risikostufe.

Unmittelbar danach kündigte das Foreign Office [Auswärtige Amt Grossbritanniens] mit der gleichen Motivation den Abzug des Personals aus seiner Botschaft in Kiew an. Diese Operationen der psychologischen Kriegsführung, die darauf abzielen, Alarm über eine bevorstehende russische Invasion der Ukraine und der drei baltischen Republiken auszulösen, bereiten eine weitere und noch gefährlichere Eskalation der USA/Nato gegen Russland vor.

Das Weisse Haus kündigte an, Präsident Biden erwäge, «mehrere tausend US-Soldaten, Kriegsschiffe und Flugzeuge in die Nato-Länder im Baltikum und nach Osteuropa zu entsenden». Es wird erwartet, dass zu Beginn 5500 US-Soldaten eintreffen werden, die sich den bereits in Polen anwesenden 4000 und weiteren Tausenden anschliessen und ihren ständigen Einsatz – wie von Lettland gefordert – auf das Baltikum ausdehnen werden.

Spezielle Eisenbahnkonvois transportieren bereits US-Panzer von Polen in die Ukraine, deren Streitkräfte seit Jahren von Hunderten von US-Militärberatern und Ausbildern, flankiert von anderen aus der Nato, ausgebildet und sogar kommandiert werden. Washington, das Kiew im vergangenen Jahr mit Waffen im offiziellen Wert von 650 Millionen Dollar versorgt hat, hat Estland, Lettland und Litauen ermächtigt, in ihrem Besitz befindliche US-Waffen in die Ukraine zu transferieren, darunter Javelin-Raketen. Weitere Rüstungsgüter werden von Grossbritannien und Tschechien geliefert.

Die Nato berichtet, dass einige europäische Mitgliedsländer ihre Streitkräfte in einen Zustand der operativen Reaktionsfähigkeit versetzen und Kriegsschiffe und Kampfjets für den Einsatz in Osteuropa entsenden. Italien hat mit seinen Eurofighter-Jagdbombern das Kommando über die Nato-Mission «Verstärkte Luftpolizei» in Rumänien übernommen. Frankreich ist bereit, Truppen unter Nato-Kommando nach Rumänien zu schicken. Spanien schickt als Unterstützung der Nato-Seestreitkräfte Kriegsschiffe und Jagdbomber nach Bulgarien. Die Niederlande bereiten die Entsendung von F-35-Kampfflugzeuge nach Bulgarien vor. Dänemark schickt F-16-Kampfflugzeuge nach Litauen.

Gestern [24. Januar] begann im Mittelmeer die grosse Nato-Marineübung Neptune Strike ’22 unter dem Kommando von Vizeadmiral Eugene Black, Befehlshaber der Sechsten Flotte mit Hauptquartier in Neapel Capodichino und Basis in Gaeta. An der 12-tägigen Übung nimmt der nuklear angetriebene Flugzeugträger USS Harry Truman mit seiner Kampfgruppe teil, zu der fünf atomwaffenfähige Raketeneinheiten gehören, um «die europäischen Bündnispartner, insbesondere an der von Russland bedrohten Ostfront, zu beruhigen».

Unmittelbar nach der Nato-Übung Neptune Strike ’22 wird im Februar die Übung Clemenceau 22 stattfinden, an der drei Flugzeugträger («Tri Carrier Operation») teilnehmen werden: der französische atomangetriebene Charles de Gaulle mit seiner Kampfgruppe, die ein nuklearbetriebenes Angriffs-U-Boot beinhaltet, das in die Adria einlaufen wird; die USS Harry Truman mit ihrer Gefechtsgruppe und der italienische Flugzeugträger Cavour mit F-35-Jagdbombern an Bord. Auch diese Übung richtet sich offensichtlich gegen Russland.

Während die Nato Russland zur «Deeskalation» auffordert und davor warnt, dass «jede weitere Aggression einen hohen Preis für Moskau nach sich ziehen wird wird», haben die EU-Aussenminister – in Brüssel versammelt und per Telefonkonferenz mit dem US-Aussenminister Antony Blinken verbunden – gestern weitere Massnahmen gegen Russland erlassen.

Die Europäische Union mit 27 Mitgliedern, von denen 21 der Nato unter dem Kommando der USA angehören, schloss sich der Warnung der Nato an Russland an und erklärte, dass «jede weitere militärische Aggression gegen die Ukraine sehr ernste Folgen für Russland haben würde». Damit beteiligt sich die Europäische Union an der Strategie der Spannungen, mit der die USA Risse in Europa erzeugen, um es unter ihrem Einfluss zu halten.

* Manlio Dinucci ist Italiener und Geograph, Geopolitologe, Journalist und Bücherautor. Seine letzten Bücher sind: Laboratorio di geografia, Zanichelli 2014; Diario di viaggio (drei Bände), Zanichelli 2017; L’arte della guerra / Annali della strategia Usa/Nato 1990–2016, Zambon 2016; Guerra nucleare. Il giorno prima. Da Hiroshima a oggi: chi e come ci porta alla catastrofe, Zambon 2017; Diario di guerra. Escalation verso la catastrofe (2016–2018), Asterios Editores 2018.

Quelle: https://www.voltairenet.org/article215439.html, 27. Januar 2022

(Übersetzung Horst Frohlich und «Schweizer Standpunkt»)

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